Mein Interesse ist vor allem ein pragmatisches: Schon rudimentäre Grundkenntnisse erleichtern einem das Einstudieren eines Werks. Und je mehr man "weiß", desto weniger Fragezeichen/Stolpersteine gibt es in der Praxis.
Genau darum geht es! Kenntnis der "Theorie" ist ja eben das "praktische" Wissen, Kennen und Beherrschen von Dingen, die ohnehin da sind, ob man sie nun wissen will oder nicht.
Man muss sich bewusst sein, dass die "Theorie" nicht erfunden wurde, sondern dass die Theorie eine in "Regeln" oder in "Erkenntnissen" formulierte "Anleitung", "Analyse" oder ein "Bauplan" der Dinge ist, welche ohnehin passieren oder existieren. Die Theorie wurde nicht geschrieben und danach wurde munter drauflos komponiert. Sondern die Musik war zuerst da, und danach * hat man allmählich (oder gleich unmittelbar darauf folgend) die Theorie (aka Gesetzmässigkeiten, Regeln) bzw. die Lehre davon formuliert.
Analog der Grammatik, die formuliert wurde, nachdem die Sprache entstanden ist. Analog der Geologie, die beschreibt, was schon da war. Analog der Philosophie, die das existierende Wissen formuliert. Analog der Astrologie, die beschreibt und erforscht, was da ist. Man hat nicht beschlossen, dass die Pflanzen das Wasser in ihren Stängeln "hochpumpen" sollen. Sondern man hat entdeckt, dass das offenbar so ist. Darum wurde dies in der Biologie als "Gesetzmässigkeit" so festgehalten.
Dass diese Lehren sich immer weiter entwickeln, liegt auf der Hand. In der Musik des Frühmittelalters gabs wohl die Theorie der Regeln des vierstimmigen Satzes, der Alteration oder der Tritonussubstitution noch nicht, da noch nichts dergleichen erfunden bzw. komponiert wurde. Die Formenlehre der Fuge wurde erst definiert, nachdem Fugen komponiert wurden und Regeln bzw. Gesetzmässigkeiten erkannt wurden. Selbstverständlich ist auch der neapolitanische Sextakkord nicht einfach festgelegt worden und danach mussten von da an Komponisten, die etwas auf sich hielten, mindestens einen pro Stück einbauen. Sondern der Neapolitaner wurde irgendwann in der Musik erfunden, und weil er nett klang und immer öfter als kompositorisches Stilmittel Einzug hielt, hat man diesem einen expliziten Namen und eine Gesetzmässigkeit gegeben.
Genau so ist es mit allen harmonischen Gesetzen bzw. Erkenntnissen. Also ist es eben nicht so, dass man die Theorie lernen muss und dann Klavier spielt (oder die Theorie weglässt, weil man meint, das brauche es nicht). Man spielt etwas und lernt gleichzeitig, zu verstehen,
was da passiert, und bestenfalls erkennt man mit der Zeit auch noch gerade,
warum das passiert und
weshalb gewisse Modulationen, Stellungen, Stimmführungen und Harmonien besser klingen und andere eher nicht. Mit der Zeit versteht man, warum in einem klassischen Stück ein Unterschied besteht zwischen einem Akkord, der in der Grundstellung steht und einem, der als Quartsextakkord dasteht. Und warum es nach dem Quartsextakkord so weitergeht, wie es eben weitergehen müsste...
* Ausnahmen darf es auch hier geben, zB die Zwölftonmusik. Da wurden wohl erst mal Regeln festgelegt und dann mal geschaut, was man daraus machen kann...