Interpretationsfreie Werkdarstellung

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Es soll in diesem THread um etwas gehen, was es nach meiner Überzeugung garnicht gibt, was aber immer wieder als Ideal verkündet wird, z. B im folgenden Statement von tapirnase:


[ich glaube manchmal ist es schwerer stumpf den NOtentext zu spielen und uf "interpreatorisches Gedöhns" zu verzichten als umgekehrt (als Beispiel Mozart!!)]


Also - was haltet ihr von einer Musikdarstellung, die sich ausschließlich auf das vom Komponisten notierte beschränkt. Wenn alsp zum Beispiel am Anfang der Seite p steht, und danach überhaupt keine Dynamikbezeichnung mehr. Oder wenn hie und da Ped. notiert ist und größtenteils eben nichts. Wenn keine Tempoabweichungen notiert sind - darf man dann keine machen?

Es geht mir da weniger darum, was leichter oder schwieriger ist, sondern was dem Werk am besten gerecht wird.

Okay, ich kenne die Antwort schon 8)

Aber ich würd das gerne mal so richtig schwarz auf weiß lesen :D
 
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@ Haydnspaß

Eine "interpretationsfreie Werkdarstellung" kann es meiner Meinung nach höchstens noch vom Komponisten selbst geben. Ansonsten ist das unmöglich, denn selbst ein dynamik- und artikulationsloses Midi-File einer Bachinvention ist ja noch eine Form der Interpretation. Selbst die Noten sind ja eine Interpretation dessen, was im Kopf des Komponisten vorging, als er sie schrieb.

Jetzt habe ich nochmal deinen Beitrag gelesen und mir ist aufgefallen, dass du ja schon in der ersten Zeile geschrieben hast, dass es diese "interpretationsfreie Werkdarstellung" gar nicht gibt. Mal sehen, ob das die Antwort ist, die du haben wolltest. :cool:

P.S.: Warum ist das hier in der Plauderecke? Habe ich was verpasst?
 
Es soll in diesem THread um etwas gehen, was es nach meiner Überzeugung garnicht gibt, was aber immer wieder als Ideal verkündet wird, z. B im folgenden Statement von tapirnase:





Also - was haltet ihr von einer Musikdarstellung, die sich ausschließlich auf das vom Komponisten notierte beschränkt. Wenn alsp zum Beispiel am Anfang der Seite p steht, und danach überhaupt keine Dynamikbezeichnung mehr. Oder wenn hie und da Ped. notiert ist und größtenteils eben nichts. Wenn keine Tempoabweichungen notiert sind - darf man dann keine machen?

Es geht mir da weniger darum, was leichter oder schwieriger ist, sondern was dem Werk am besten gerecht wird.

die Chimäre der pseudo-objektiven, also völlig unindividuellen "Spielweise" (ich mag´s weder Interpretation noch Realisierung nennen) erhält man recht einfach: den Notentext in ein Notationsprogramm (Finale oder ähnliches) übertragen bzw. scannen, dann dort ablaufen lassen.

allerdings frag ich mich, wie dort "verständiger Pedalgebrauch wird vorausgesetzt" (Liszt) oder einfach nur pauschal "mit Ped." (Schumann) von der objektiven und "gedöhnsfreien" Maschine ausgeführt wird :D

...allerdings im Schachspielen haben Programme die Kasparows und Anands dieser Welt ja schon überflügelt... ob das auch hier mal passiert?

Gruß, Rolf
 
die Chimäre der pseudo-objektiven, also völlig unindividuellen "Spielweise" (ich mag´s weder Interpretation noch Realisierung nennen) erhält man recht einfach: den Notentext in ein Notationsprogramm (Finale oder ähnliches) übertragen bzw. scannen, dann dort ablaufen lassen.
Aber das ist doch eine Art der Interpretation, denn irgendwer muss diese Automatik doch programmieren. Sprich, irgendwer muss ja z.B. bestimmen, wie sich p, pp, f, ff usw. zueinander verhalten. Da geht die Objektivität auch schnell verloren - wie du ja auch mit "pseudo-objektiv" selbst sagst.
 
Für mich klingt das in etwas so sinnvoll, wie der Versuch, die Mengenbezeichnungen "ein Schuß Milch" oder "eine Prise Zucker" präzise einzuhalten oder die Temperatur einer warmen Begrüßung zu messen.

Natürlich gibt es ein paar Dinge, an die man sich halten kann, ohne eigene Interpretation einfließen zu lassen, aber wenn man mal als Beispiel eine Invention von Bach nimmt, die ja überhaupt keine Vortragsanweisungen hat, und dazu sämtliche verfügbaren Quellen über die damalige Spielweise studiert, kann man immer noch nicht losspielen, weil noch diverse Entscheidungen getroffen werden müssen.

Ich würde sagen, eine interpretationsfreie Werksdarstellung gibt es nur in einer einzigen Form: Die Noten.

Im übrigen kann man ein Stück überhaupt nicht ohne Interpretation spielen, denn (aus meiner Sicht jedenfalls) bedeutet "Interpretation" nichts anderes als "Übersetzung", es geht also schlicht und einfach darum, aus den vorliegenden Noten Musik zu machen. Somit fällt auch elektronisches Abspielen als Möglichkeit weg. Was manche unter Interpretation verstehen, würde ich eher als "kommentieren" bezeichnen.
 
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Ich möchte mal den Vorschlag machen, zwischen bewußter und unbewußter Interpretation zu unterscheiden. Auch Leute, die eigentlich eine urtextgetreue und "sachlich richtige" Darstellung anstreben, haben ihre interpretatorischen Eigenheiten. Sie sind sich nur nicht darüber bewußt. Und wenn dann jemand anders spielt als sie selbst, dann schlägt der innere Zensor Alarm. "ich spiele richtig - die anderen spielen falsch". Deshalb finde ich es sehr wichtig, daß man sich über die Subjektivität seiner eigenen Auslegung erstmal bewußt wird. Da gibts manchmal eine große Differenz zwischen Theorie und Praxis - und ich meine das nicht wertend. Man denkt so - aber in Wirklichkeit macht man es ganz anders.

Ich hoffe, ich trete mit solchen Ansichten niemand zu nahe. Vielleicht kann man es ja als Anregung verstehen, sein eigenes Spiel etwas genauer unter die Lupe zu nehmen - und seine Theorien dann mit dem, wie man tatsächlich spielt bzw. spielen will, in Einklang zu bringen.
 
Ich möchte mal den Vorschlag machen, zwischen bewußter und unbewußter Interpretation zu unterscheiden. Auch Leute, die eigentlich eine urtextgetreue und "sachlich richtige" Darstellung anstreben, haben ihre interpretatorischen Eigenheiten. Sie sind sich nur nicht darüber bewußt. Und wenn dann jemand anders spielt als sie selbst, dann schlägt der innere Zensor Alarm. "ich spiele richtig - die anderen spielen falsch". Deshalb finde ich es sehr wichtig, daß man sich über die Subjektivität seiner eigenen Auslegung erstmal bewußt wird. Da gibts manchmal eine große Differenz zwischen Theorie und Praxis - und ich meine das nicht wertend. Man denkt so - aber in Wirklichkeit macht man es ganz anders.

hallo,

was Du als "unbewußte" Komponente der Interpretation bezeichnest, könnte man doch auch das "erlernte" verstehen - man lernt allerlei und befindet sich da in "Tradition(en)", von denen man mehr oder weniger individuell abweicht. Also "unbewußt" klingt mir etwas zu negativ, fast als wüssten die nicht, was sie tun...

ob immer gleich so heftig die Alarmglocken schrillen? ich seh das nicht so übertrieben heftig :)

die Differenz zwischen Theorie und Praxis - hat wirklich jeder irgendwelche dogmatischen Theorien?

aber interessant wäre, wie es klingen würde, wenn man alle erlernten tradierten Spielweisen ablegen könnte - aber ich bezweifle, dass man das kann und ich bezweifle auch, dass das notwendig ist. würde man da mehr und anderes erkennen, als eine bloß mechanische Wiedergabe? z.B. "ungeschriebene Regeln" des melodiösen Spielens - weg damit?

mir kommt das wie ein gerade in Musik, die doch sehr von ihrer individuellen Komponente lebt (Komponisten haben sogar "Personalstile", unverwechselbar subjektiv, wie Chopin z.B.), etwas mißverstandener Objektivitätsbegriff vor.

sagen wir mal so: ich stimme Dir in vielen wirklich zu, aber es ist wie beim Pizza belegen - der eine will Peperoni drauftun, der andere lieber Salami :) - - Pizza isses aber trotzdem, egal was draufgelegt wird (fast egal: essbar sollte es schon sein, gerne auch wohlschmeckend)

Gruß, Rolf
 
es ist wie beim Pizza belegen - der eine will Peperoni drauftun, der andere lieber Salami :) - - Pizza isses aber trotzdem, egal was draufgelegt wird (fast egal: essbar sollte es schon sein, gerne auch wohlschmeckend)

Das mag ja noch gelten, wenn es wirklich egal ist, was auf die Pizza kommt. Aber warum, lieber Rolf, gibt es dann Pizzarezepte, in denen spezifisch Peperoni steht, nicht Salami?

Neulich war im englisch/amerikanischen Klavierforum die Frage, was "espressivo" eigentlich bedeutet. Klar, es kam sofort die Antwort: "mit Ausdruck". Aber was BEDEUTET das? Wessen Ausdruck, was für ein Ausdruck, schneller, langsamer, lauter, leiser, mehr oder weniger rubato?

Es geht doch schon damit los, dass es keine mechanischen-akkustisch-exakten Vorschriften für Begriffe wie ppp, pp, p, mp, mf, f, ff und fff gibt.

Oder bedeutet accelerando etwa "bitte exakt mit Halbgas beschleunigen, damit man am Ende des Autobahnzubringers auf genau 120 km/h ist"... Oder poco meno mosso etwa "Spielstraße, bitte von 50 auf exakt 30 herunterbremsen"?

Gerade gestern sah ich über dem ersten Präludium des WTK nur dies eine Wort: moderato. Was genau soll ich da moderieren? (Ich will sogar soweit gehen, zu behaupten, dass moderato bei MEINER Fingerfertigkeit etwas anderes bedeutet als bei Lilya Zilbersteins...)

Insofern meine Gegenfrage an Haydnspaß: Wie kann da von "interpretationsfrei" überhaupt die Rede sein?

Ciao,
Mark
 
...dann schlägt der innere Zensor Alarm. "ich spiele richtig - die anderen spielen falsch"...

Ich denke, wer unbewußt interpretiert und das nicht weiß, hat noch nicht begriffen, was Musik ist, denn wie ich schon sagte - und das wurde ja mit Pepperoni weiter erläutert - muß man zwangsläufig interpretieren, um überhaupt einen Ton zu spielen. Das gilt natürlich nur bei meiner Interpretation des Wortes "Interpretation".

Aber du meinst glaube ich etwas anderes, nämlich die freie Interpretation, die dem Notentext eigene Ideen hinzufügt, wie zum Beispiel in der Frage zur Mondscheinsonate, ob an einer bestimmten Stelle im ersten Satz nicht ein deutliches Crescendo angebracht wäre (kürzlich hier im Forum). Das ist natürlich ein Beispiel für bewußte Interpretation aber ebensogut könnte jemandem unbewußt "passieren", daß er diese Stelle nicht flach spielt sondern gestaltet. Es handelt sich bei diesem Beispiel um die Takte 32-37, die vermutlich nur selten, wenn überhaupt, ohne dynamische Bewegung gespielt werden. Und mit "passieren" meine ich nicht, daß man unregelmäßig spielt, weil die Finger noch nicht unter Kontrolle sind. Wer so spielt, die Stelle nicht reflektiert hat, und dann noch anderen vorwirft, sie spielen falsch, weil anders als er selbst, ist natürlich etwas überheblich, denn wie soll er etwas beurteilen, womit er sich selbst noch nicht beschäftigt hat? Die normale Reaktion sollte eher sein, die eigene Spielweise zu hinterfragen.

Ein Ansatz zu deiner Idee von interpretationsfreier Spielweise ist, glaube ich, die historische Aufführungspraxis, die allerdings meines Wissens genaue Recherchen und sehr bewußte Entscheidungen erfordert. Wer das ernsthaft betreibt, kann natürlich zum Schluß kommen, daß seine Version richtiger ist als eine andere, allerdings nur im Sinne der historischen Aufführungspraxis. Wobei natürlich das gleiche Problem besteht, mit dem sich auch Elementarphysiker herumschlagen, daß es eine eindeutige Wahrheit nämlich nicht gibt, sondern nur erfolgreiche und weniger erfolgreiche Theorien.

Leider habe ich vergessen, was ich eigentlich sagen wollte...
 
Bei Beethoven z.B. steht ja, bis auf die seltenen Pedalanweisungen, schon alles exakt in den Noten.
Das wage ich zu bezweifeln, es steht zwar einiges drin, aber warum z.B. gibt es in der Pathetique häufig die Anweisung "f", dazwischen sind aber überhaupt keine dynamischen Entwicklungen notiert, man müßte also theoretisch die ganze Zeit forte spielen und es bedürfte überhaupt nicht dieser Anweisungen.

Bei Bach ist auch klar wie artikuliert/phrasiert werden muss (siehe z.B. Harnoncourt: Musik als Klangrede - Bärenreiter; auch wenn ich nicht grundsätzlich ein Harnoncourt-Fan bin, das Werk ist beachtlich).
Ich glaube, auch hier gibt es mehrere Meinungen. Ist Harnocourt eigentlich ein Vertreter der historischen Aufführungspraxis oder hat er seine eigene Auffassung?
 
Das mag ja noch gelten, wenn es wirklich egal ist, was auf die Pizza kommt. Aber warum, lieber Rolf, gibt es dann Pizzarezepte, in denen spezifisch Peperoni steht, nicht Salami?

hallo,

die Frage läßt sich recht einfach beantworten: weil eine relativ sichere Vorstellung davon haben, was Peperoni und was Salami ist. Die Rezeptur der Zutaten bringt gewiß einiges an Gewißheit :) - Spezialdiskussionen heben halt dann an, wenn man ganz spezielle Salami- oder Peperonisorten (sowas gibt es) wählt.

wenn also irgendwo pianissimo vorgeschrieben ist, dann wird man nicht nach einer objektiven Tabelle a la "exakt diese Phonzahl ist pianissimo" suchen müssen, zumal es diese nicht gibt - aber es gibt pianissimo, und das kann man spielen: leise genug, dass es den Leuten sehr leise vorkommt. Kann man ausprobieren.

so besteht auch ein relativer Konsens, wie Notentexte realisiert werden, kein absoluter - das sind so unsere kulturellen Traditionen, hier speziell die in der Musik (und die pflegen sich mit den Zeiten zu ändern, ohne dass sich die Noten ändern - kein Wunder, denn in den Noten steht ja das Wesentliche drin).

wenn Du also ein Peperonipizzarezept realisierst, dann hast Du die Wahl, ob Du sehr scharfe, sehr milde oder bunte oder sonstige Peperonis wählst - aber sie weglassen: diese Wahl hast Du nicht. :)

also wird, auch im Fall von quasi positivistischer Erbesenzählerei (was exakt ist pianissimo) bzw. im Fall des Problems, dass verifizierbare exakte Tabellen nicht existieren, immer noch falsch sein, wenn man bei einem pianissimo Nocturne voll in die Tasten haut.

kurzum: mit unseren relativen oder wenn man so will unscharfen, auf jeden Fall nicht dogmatisch festgezurrten Übereinkünften (Traditionen, Spielweisen etc) kommen wir ganz gut weg.

Gruß, Rolf
 
Hanoncourt ist sicherlich einer der Protagonisten der historisch informierten Aufführungspraxis. Allerdings hat er sein Repertoire im Verlauf der Jahre bis hin zu Bruckner Sinfonien ausgedehnt. Es wäre interessant zu wissen, wie er die Bach Interpretationen auf dem modernen Klavier sieht, ich vermute, sein Klangideal dürfte da doch eher das Cembalo oder das Clavichord sein.

Bei der historisch informierten Aufführungspraxis sehe ich nicht den Ansatz, eine interpretationsfreie Werkdarstellung zu erzielen, vielmehr geht es darum, den ganzen "Ballast" der sich um Bach (und natürlich andere Barockkomponisten) angesammelt hat, über Bord zu werfen, und eine Interpretation zu erreichen, die dem im Barock üblichen entspricht. Es ist sehr interessant, mal Urtextausgaben von Bach'schen Werken mit der Ausgabe von C. Czerny (immerhin Schüler von Beethoven und Lehrer von Liszt) oder auch der Ausgabe von Busoni zu vergleichen. Dass ein striktes sich an die Noten halten bei Bach nicht immer letzter Schluss ist, geben diverse Varianten seiner Werke wieder, die ja nur sehr selten im Druck erschienen sind. Als Beispiele seien die reich verzierte Version der Es-Dur Sinfonia oder die Sarabande aus der zweiten Englischen Suite genannt.

Inzwischen ist die Variabilität der Bach Interpretation historisch informierter Künstler sehr groß. Es ist nicht mehr alles viel schneller. Ich erinnere da an die Brandenburgischen Konzerte der Musica Antiqua Köln unter Reinhard Göbel, bei deren Tempo im 3. Konzert mir beim ersten Hören die Spucke weg geblieben ist. Ein schöner Tempovergleich ist auch die "dorische" Orgelfuge (BWV 538) von Ton Koopman (schnell) und Andrea Marcon (deutlich langsamer). Beide sind ja Experten der HIP Szene.

Grüße,
Kristian
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
"Entkitschung" ist gut ...

Umgekehrt hat die historisch informierte Aufführungspraxis aber auch Interpretationsfreiräume geliefert. Auf Youtube gib es ein Video, indem Ton Koopman das erste Menuett (G-Bur) von Bach aus dem Notenbüchlein für A.M. Bach auf dem Cembalo spielt. Da dies ja ein Stück ist, dass vielen am Anfang des Klavierspiels unter die Finger läuft, täte es mich mal interessieren, wer schon mal mit so einer Verzierungspraxis konfrontiert worden ist, und wer von den hiesigen Klavierlehrern soweit mit seinen Schülern geht.

Der link müßte folgender sein (ich habe hier im Büro keinen Sound, um es zu überprüfen)

http://www.youtube.com/watch?v=KqSAGwa49MM
 

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