@Henry Das was du schreibst entspricht nicht der Wirklichkeit. Natürlich kann jeder Pianist sein Stück auswendig, wenn er es im Konzert spielt. Die Noten kämen nachträglich und zusätzlich dazu. Sie würden bedeuten, dass die meist vorhandene innere Spannung, die auf den Druck des Auswendigspielens zurückgeht, geringer wird oder entfällt. Viele können ihr eigentliches Potential vermutlich nicht ganz ausschöpfen, weil ein Teil der Konzentration und Leistungsfähigkeit für das Auswendigspielen und das gedankliche Vorausschauen draufgeht. Das kann man auch zum Teil ändern, aber nicht komplett.
Ein Punkt, der völlig in Vergessenheit geraten ist: Wenn man die Noten vor der Nase hat, kann man sich spontan davon inspirieren lassen. Gerade bei Komponisten, die sehr viel hineinschreiben, sieht man dann noch einmal die konkreten Angaben, man hat auch die Töne vor der Nase. Das ist ein externer Reiz der auf einen einwirkt und kein inneres Erinnern. Etwas ganz anderes.
Ich habe in der letzten Zeit mehrere Gespräche über die Unsinnigkeit der Auswendigspiel-Pflicht geführt und gestern in einer Art Musiker-Talkshow darüber gesprochen. Das Kuriose ist, dass es völlig inkonsequent gehandhabt wird. Warum werden Klavierkonzerte auswendig gespielt, Klavierquintette aber nicht? Warum die Goldbergvariationen, aber (nicht notwendigerweise) keine Ligeti-Etüden? Warum Chopin-Nocturnes, aber keine Schubert-Lieder? Warum muss der Pianist auswendig spielen, der Flötist aber nicht? usw.
Mir schwebt ein Klavierwettbewerb vor, der mit den ganzen alten Konventionen aufräumt. Auswendigspiel und Spiel mit Noten werden absolut gleichberechtigt behandelt. Es gibt eine "unvirtuose" Runde. Es gibt eine Runde hinter dem Vorhang. Es gibt eine Jury aus Profis und eine aus Fachfremden, und so weiter. Vielleicht kann ich das irgendwann realisieren.