Heißt Interpretieren - "Spielen wie man will"?

Mir ist vor kurzem klar geworden, dass ich mit dem Propagieren eines "Musizieren wie man will" hier wahrscheinlich auch am falschen Ort bin.

Zitat von Loriot:

Ohne Hermeneutik gibt es keine Werktreue.

Ansonsten, was die "Werktreue" angeht: als Themengebiet der Musik interessiert sie mich nicht sonderlich. Da gibt es essenziellere Gebiete, die interessanter sind.

Dazu kommt, dass im Bereich der musikalischen Interpretation innerhalb gewisser Grenzen - die jeder etwas anders zieht - ziemlich viel möglich ist; teilweise in einem Ausmaß, das bei vielen Beliebigkeit suggeriert, aber eben noch viel mehr schlicht falsch ist, weil es grundlegende Parameter der Musik und der musikalischen Kommunikation verletzt.
 
Wenn man eigene Kompositionen notieren würde, würde vermutlich klar, wie schwierig es sein kann, ein Klangbild in seiner Vorstellung aufs Papier zu bringen. @Stilblüte hat sich dazu in dem Faden über ihre Etüden auch geäußert, Fragen gestellt und z.B. die Notationskünste von Ravel sehr bewundert.

Nimmt man als Beispiel nur mal das Tempo, so reicht eine Tempobezeichnung wie Allegro im 4/4tel-Takt oft nicht aus, um das Tempo klar festzulegen. Allegro hat eine gewisse Bandbreite und so haben manche Komponisten nach der Erfindung des Metronoms Metronomzahlen verwendet. Schwupps kommen Diskussionen auf wie die von Wim Winters initiierten oder auch Diskussionen um manche Metronomzahlen, die herausfordernd sind (Träumerei, op. 106 Fuge...). Ist es nun werkgerecht, diese Zahlen auf den Punkt genau zu beachten oder hat man als Interpret auch bei werktreuer Aufführung einen gewissen Spielraum?

Als Interpret stellt man sich viele Fragen und es ist nicht immer leicht, sie zu beantworten. Man wird auch immer wieder zu anderen Schlüssen kommen. Aber eines ist Interpretation auf gar keinen Fall: beliebig!

Ohne Stilkenntnis, ohne Kenntnis der Aufführungspraxis der Zeit, in der ein Werk komponiert wurde, kann man nicht interpretieren, weil man nicht weiß, was der Komponist mit seiner Notation meinte. Werktreue bedeutet, den Intentionen des Komponisten gerecht zu werden - insofern ist tatsächlich der Ausdruck "werkgerecht" von @mick besser.

Es ist auch zu einseitig, diese Diskussion auf reine Klaviermusik zu beschränken. Viele Komponisten haben orchestral gedacht und am Klavier muss man oft orchestral denken - ergo kann man von Orchestermusik u.a. sehr viel lernen. Wir mussten an der Hochschule Klaviersonaten von Mozart u.a. instrumentieren, sehr nützlich war das.

Des Weiteren gehört zum Interpretieren auch das Studium der Quellen, um die Intentionen des Komponisten zu verstehen. Was Henle etc. anbieten, ist ja schon eine Interpretation der Quellen und man sollte sich selbst auf die Suche machen.

Was ich nicht verstehe, ist die Haltung, die Intentionen des Komponisten außer Acht zu lassen (= Beliebigkeit, Maßstab ist ausschließlich das eigene Gefühl). Ich sehe den Notentext als Kunstwerk wie ein Bild, eine Bildhauerei oder ein literarischer Text. Da käme niemand auf die Idee, im Bild herumzumalen, bei einer Statue was wegzuhauen oder ein Gedicht zu verändern.

Warum? Nicht nur, weil man das Kunstwerk unwiederbringlich zerstören würde. Man respektiert auch den Künstler, der das Werk erschaffen hat und der damit etwas Persönliches ausdrücken wollte. Man respektiert das Werk etwas Einzigartiges, als etwas Besonderes. Musik muss als einzige Kunstform halt immer wieder neu geschaffen werden, um sie hören zu können. Ein oder mehrere Interpreten sind dazu nötig und das führt zu Diskussionen, wie denn nun interpretiert werden sollte, was die Intentionen des Komponisten sind und wie sie umgesetzt werden. Es führt zu Diskussionen um Werktreue, historische Aufführungspraxis u.v.m..

Schumann schrieb in seinen Musikalischen Haus- und Lebensregeln: "Betrachte es als etwas Abscheuliches, in Stücken guter Tonsetzer etwas zu ändern, wegzulassen, oder gar neumodische Verzierungen anzubringen. Dies ist die größte Schmach, die du der Kunst anthust."

und

"Du mußt es so weit bringen, daß du eine Musik auf dem Papier verstehst."

und

"Such’ es nie in der Fertigkeit, der sogenannten Bravour. Suche mit einer Composition den Eindruck hervorzubringen, den der Componist im Sinne hatte; mehr soll man nicht; was darüber ist, ist Zerrbild."


Die Intentionen des Komponisten sind die Grundlage jeder Interpretation! Für sich zu Hause kann man natürlich spielen, wie man will und statt forte piano spielen, statt Allegro Adagio etc., nur weil man es so schöner findet. Als Experimentiermöglichkeit (!) und zum Üben finde ich es sogar gut, wenn man variiert und ausprobiert! Dann sollte man es aber auch als solches benennen. Auf keinen Fall ist es eine Interpretation im Sinne des Komponisten. Nennt man es so, setzt sich aber über viele grundsätzliche Angaben des Komponisten hinweg aus dem einzigen Grund, weil es einem so besser gefällt, ist das aus meiner Sicht Missbrauch.

Es gibt keinen einzigen großen Interpreten, der diese Haltung hat! Alle setzen sich sehr intensiv mit dem Notentext auseinander. Die sehr wenigen Interpreten, die sich dann tatsächlich über Angaben des Komponisten hinwegsetzen, können dafür sehr gute Gründe anführen. Niemals den einzigen, dass es ihnen so besser gefällt. Ich finde es merkwürdig, wenn man diese Ausnahmen anführt als Grund, dass man spielen darf, wie man will, wo doch diese Ausnahmen erstens wenige sind und auch durchaus umstritten und zweitens ganz andere Gründe haben, so zu spielen! Und wenn man es schon tut, sollte man wenigstens so gut Klavier spielen, wie es Gould oder Pogorelich tun. :)

Ich würde nie und nimmer mich erdreisten, in einer Interpretation aus einer Komposition einfach zu machen, was ich will! Ich sage bewusst "erdreisten", weil ich Demut und Respekt gegenüber dem Komponisten und seinem Werk, seinem Kunst-Werk, empfinde. Trotzdem gebe ich natürlich meine Gedanken, Ideen und Emotionen ins Werk hinein, sonst würde ICH es ja nicht interpretieren! Die Möglichkeiten, das zu tun und ein Werk zu deuten, sind unendlich vielfältig und wenn du, lieber @Dreiklang, sie noch nicht kennst, kann weder das Werk noch ich was dafür. :)

Noch ein paar Zitate:

Schumann schrieb dazu einmal: "Der gebildete Musiker wird an einer Raffaelschen Madonna mit gleichem Nutzen studieren können wie der Maler an einer Mozartschen Symphonie. Noch mehr! Dem Bildhauer wird jeder Schauspieler zur ruhigen Natur, diesem die Werke jenes zu lebendigen Gestalten. Dem Maler wird das Gedicht zum Bild: der Musiker setzt die Gemälde in Töne um."

und

"Ich halte die Musik noch für die veredelte Sprache der Seele; andere finden in ihr einen Ohrenrausch, andere ein Rechenexempel - und üben sie in dieser Weise aus."

Krirll Petrenko: "Musik ist nicht zum Spaß da, sondern dazu, dass wir ständig an uns arbeiten, auch das Tragische am Leben erkennen und dadurch womöglich bessere Menschen werden. Die Musik ist schlussendlich die höchste Form der Menschlichkeit."

Liebe Grüße

chiarina
 
Es gibt auch die Gegenauffassung, ein Musikwerk als frei benutzbare als public domain zu sehen. "You made it your own" ist im Jazz kein Kündigungsgrund, sondern eines der höchsten Komplimente. Man mag einwenden, dass klassische Musikwerke kompositorisch anspruchsvoller sind und man dem Meister nur durch Werktreue Respekt erweisen kann. Bei Lang Lang kommen dann die Kommentare "Der macht Mozart kaputt!!!". Dabei ist die Sache doch ganz einfach: Gute Klickzahlen = gute Interpretation, schlechte Klickzahlen = schlechte Interpretation. Ganz ohne Musikstudium.
 
Dabei ist die Sache doch ganz einfach: Gute Klickzahlen = gute Interpretation, schlechte Klickzahlen = schlechte Interpretation. Ganz ohne Musikstudium.

Lieber J. S. Schwach,

das sind aus meiner Sicht falsche Schlussfolgerungen! :) Gute Klickzahlen = Interpretation, die viele Hörer anspricht, schlechte Klickzahlen = Interpretation, die wenige Hörer anspricht.

Über die Qualität der Interpretation sagt das nichts aus. Es sagt etwas aus über das, was Hörer mögen. :)

Liebe Grüße

chiarina
 
Über die Qualität der Interpretation sagt das nichts aus. Es sagt etwas aus über das, was Hörer mögen. :)
Und wenn das einzig entscheidende Kriterium für musikalische Qualität genau das ist: "Das, was die interessierten Hörer - des jeweiligen Genres - mögen"? Das, was sich den musikalisch interessierten Menschen eingeprägt hat, das, was die Zeiten überdauert, das, was solche Menschen bewegt?

Ich wüßte in der Tat keine besseren Kriterien - denn Musik ist für Menschen, naja, und wer es mit seiner Musik nicht schafft, viele Menschen anzusprechen, der hat halt versemmelt, oder irgendwas falsch gemacht.
 
Ich wüßte in der Tat keine besseren Kriterien - denn Musik ist für Menschen, naja, und wer es mit seiner Musik nicht schafft, viele Menschen anzusprechen, der hat halt versemmelt, oder irgendwas falsch gemacht.

Viele? Ja, dann hat es die klassische Musik halt versemmelt, so wenig Menschen sie anspricht:

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/171218/umfrage/interesse-fuer-klassische-musik/

https://www.nmz.de/artikel/klassik-kein-auslaufmodell

Es scheint mit der musikalischen Qualität der klassischen Musik nicht weit her zu sein, zumindest nach deiner Auffassung. :)

Liebe Grüße

chiarina
 

@chiarina, @mick Ihr habt mein Post nicht genau gelesen ;-)
Und wenn das einzig entscheidende Kriterium für musikalische Qualität genau das ist: "Das, was die interessierten Hörer - des jeweiligen Genres - mögen"?
Entscheidend ist hier u.a. das "Genre". Die Klassikhörer entscheiden über die Qualität der Darbietungen in der Klassik.
Ein guter Pop-Song ist ein solcher, der nach Jahrzehnten noch gespielt wird.
Ein gutes Volkslied ein solches, das (beinahe) jeder Deutsche kennt usw.
 
... und wenn wir "Qualität" rein genrespezifisch, und "Komplexität" aber als generell und allgemein gültiges Kriterium für Musik insgesamt definieren würden, hätten wir ein sehr kniffliges Problem in der Musik gelöst, über das sich möglicherweise die Musiktheoretiker und vielleicht auch Philosophen vielleicht schon lange den Kopf zerbrechen ;-) Welches...? ;-) Wer draufkommt kriegt ein "Like", die Auflösung gibt's morgen.
 
Vielleicht wollen sich die Menschen bei Romanen auch einfach schwerpunktmäßig ablenken und unterhalten, keine Ahnung?

Und: es gibt ja noch andere Autoren als Pilcher:

https://www.die-besten-aller-zeiten.de/buecher/bestseller-romane/
Na, von diesen in der Aufzählung genannten Büchern habe ich u.a. 26 davon reingezogen, welche dies waren, verrate ich nicht :konfus: Aber in der Literatur ist es ähnlich wie in der Musik, die Geschmäcker sind verschieden. Ich z.B. mag mehr das Besondere und das Außergewöhnliche, streamline liegt mir nur ganz selten und wenn, dann nur zur einfachen Entspannung
 
@chiarina, @mick Ihr habt mein Post nicht genau gelesen ;-)

Entscheidend ist hier u.a. das "Genre". Die Klassikhörer entscheiden über die Qualität der Darbietungen in der Klassik.

Lieber Dreiklang,

dann haben wir ja hier eine Best of Best der Interpretationen des ersten Satzes der Mondscheinsonate, oder was meinst du? Man beachte besonders den ersten Platz!

Liebe Grüße

chiarina
 

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