Heißt Interpretieren - "Spielen wie man will"?

Ein kleiner Einschub:

Mir ist vor kurzem klar geworden, dass ich mit dem Propagieren eines "Musizieren wie man will" hier wahrscheinlich auch am falschen Ort bin. Etliche Leute hier haben einen KL und tun in Sachen Musik das, was dieser sagt; andere stehen in der Musikausbildung und müssen das tun, was die Lehrer sagen, ansonsten gibt's Probleme. Wieder andere konzertieren aktiv und können ebenfalls nicht das auf der Bühne tun, was sie wollen. Viele sind auch sehr fest davon selbst überzeugt, wie und was sie in Sachen Musik tun, und werden das niemals ändern (so wie ich selbst im Prinzip auch).

Kurz: wie groß ist eigentlich der Prozentsatz derer hier, die sich beim Musizieren ggf. jede beliebige Freiheit herausnehmen können oder wollen?

I.a.W macht es überhaupt einen grossen Sinn, darüber gross hier zu diskutieren?
 
Zuletzt bearbeitet:
sieht es aus mit Bindebögen, Notenwerten, Pausen, Dynamikangaben resp. Vortragsbezeichnungen? Kann ich die dann auch bei Mozart, Beethoven usw. missachten und trotzdem werktreu bleiben?

Mozart beispielsweise notiert sehr häufig kurze Bögen, die am Taktstrich oder in der Taktmitte enden. Es gibt viele Interpreten, die in der Takt hinein weiterbinden, die den 'unhörbaren Bogenwechsel' der Streicher imitieren oder die wie notiert leicht - aber hörbar - absetzen. Wer spielt werktreu?
Ich zähle mich zur kleinen Gruppe derjenigen, die Mozarts Bogenziehung soweit als irgendmöglich umsetzen! Sind alle anderen Idioten oder Ignorami, die keinen Text lesen können und nicht 'werktreu ' spielen.
Der Begriff 'werktreu' ist bereits bei oberflächlichster Betrachtung derart schillernd, unscharf und zum ideologischen Missbrauch einladend, dass ich ihn weder für mich selbst in Anspruch nehme noch im Unterricht (oder in Diskussionen, wenn ich's vermeiden kann) verwende. Wenn ich genauer nachdenke hab ich diesen Begriff vor diesem Faden überhaupt nicht verwendet.
 
Und wie sieht es aus mit Bindebögen, Notenwerten, Pausen, Dynamikangaben resp. Vortragsbezeichnungen? Kann ich die dann auch bei Mozart, Beethoven usw. missachten und trotzdem werktreu bleiben?
Vor allem: verletze ich nicht die Intention des Komponisten, wenn ich das alles hier und da mal missachte? Hat er's nicht aus diesem Grund so hingeschrieben, oder ist das alles auch wieder "nicht so ganz einfach"?
___
p.s. sorry @Alter Tastendrücker unsere Posts haben sich überschnitten
 
Viele sind auch sehr fest davon selbst überzeugt, wie und was sie in Sachen Musik tun, und werden das niemals ändern (so wie ich selbst im Prinzip auch).


Wiederspruch!
Ich war dabei, als Prof. Margulis nach einem Schubert Abend von A. Brendel (es war Anfang der Achzigerjahre) lange nachdachte und dann (er war bereits fest in Deutschland etabliert als Prof. und Pianist) seine Ansichten über Schubert (und Brendel) völlig neu ausrichtete.
Das sture Beharren auf vorgefassten Meinungen ist eine der am wenigsten erfreulichen Charakterzüge am Menschen überhaupt.
 
Und wie sieht es aus mit Bindebögen, Notenwerten, Pausen, Dynamikangaben resp. Vortragsbezeichnungen? Kann ich die dann auch bei Mozart, Beethoven usw. missachten und trotzdem werktreu bleiben?

Vor allem: verletze ich nicht die Intention des Komponisten, wenn ich das alles hier und da mal missachte? Hat er's nicht aus diesem Grund so hingeschrieben, oder ist das alles auch wieder "nicht so ganz einfach"?
Ergänzung: ich spreche hier IMMER von handelsüblicher Klaviermusik, nicht von Sinfonien, oder sonstigem. Ist vielleicht nicht klargeworden.
 
wie sieht es aus mit Bindebögen, Notenwerten, Pausen, Dynamikangaben resp. Vortragsbezeichnungen?

Schönes Beispiel:
Brahms Sonate Nr. 3 f-Moll op. 5 1. Satz Anfang
Wenn ich notengetreu spiele, wie lange darf der erste Ton (Bass F) klingen? Ich kenne niemanden, der diesen Ton nicht mit Pedal verlängert. Pause bedeuten bei Beethoven etwas anderes als bei Brahms oder Liszt.
Empfohlene Lektüre Dichler: Der Weg zum künstlerischen Klavierspiel, dort besonders den großen Abschnitt zur technischen und musikalischen Notation!
 
Und wie sieht es aus mit Bindebögen, Notenwerten, Pausen, Dynamikangaben resp. Vortragsbezeichnungen? Kann ich die dann auch bei Mozart, Beethoven usw. missachten und trotzdem werktreu bleiben?
Ich wiederhole mich gerne: Ohne Hermeneutik gibt es keine Werktreue. Es geht nicht darum, irgendwelche Zeichen zu beachten oder zu missachten, sondern darum, deren richtige Bedeutung im Kontext zu erkennen. Eine "buchstabengetreue" Wiedergabe (sofern überhaupt möglich) ist niemals werkgetreu. Oder ist es deiner Meinung nach werkgetreu, offensichtliche Schreibfehler des Komponisten (ich meine hiermit falsche Noten, wo es nichts zu interpretieren gibt!) zu spielen?

andere stehen in der Musikausbildung und müssen das tun, was die Lehrer sagen, ansonsten gibt's Probleme
Du hast eine ziemlich schräge Vorstellung davon, was Musikausbildung ist. :lol:

Selbstverständlich darf ich mir jede Freiheit nehmen, die ich mir nehmen will. Aber - und das unterscheidet uns sehr - kann bzw. will ich meine Entscheidungen nicht willkürlich und vollkommen unreflektiert treffen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Begriff 'werktreu' ist bereits bei oberflächlichster Betrachtung derart schillernd, unscharf und zum ideologischen Missbrauch einladend, dass ich ihn weder für mich selbst in Anspruch nehme noch im Unterricht (oder in Diskussionen, wenn ich's vermeiden kann) verwende. Wenn ich genauer nachdenke hab ich diesen Begriff vor diesem Faden überhaupt nicht verwendet.

Ich verwende ihn normalerweise auch nicht. Wie ich oben schon schrieb, ist "werkgerecht" ein deutlich besserer Begriff. Leider hat sich das missverständliche "werkgetreu" besser etabliert.
 
Ich habe gerade ein neues Thema zur Notation ausgehend von Dichler eröffnet!
 

Ein kleiner Einschub:

Mir ist vor kurzem klar geworden, dass ich mit dem Propagieren eines "Musizieren wie man will" hier wahrscheinlich auch am falschen Ort bin. Etliche Leute hier haben einen KL und tun in Sachen Musik das, was dieser sagt; andere stehen in der Musikausbildung und müssen das tun, was die Lehrer sagen, ansonsten gibt's Probleme. Wieder andere konzertieren aktiv und können ebenfalls nicht das auf der Bühne tun, was sie wollen. Viele sind auch sehr fest davon selbst überzeugt, wie und was sie in Sachen Musik tun, und werden das niemals ändern (so wie ich selbst im Prinzip auch).

Kurz: wie groß ist eigentlich der Prozentsatz derer hier, die sich beim Musizieren ggf. jede beliebige Freiheit herausnehmen können oder wollen?

Ich bekomme das immer aus einem anderen Blickwinkel mit. Wenn klassisch geprägte Musiker in einer Big band spielen möchten, müssen sie erst einmal lernen, wie die Noten zu interpretieren sind, nämlich anders, als in der Klassik. Wenn ich für jedes "Viertel sind kurz!" einen Euro bekommen würde, wären die Proben kostenneutral.

Umgekehrt spiele ich Bach anders als Ellington. Und Steppenwolf ("Born to be wild") wieder anders.

Es wird der Musik nicht gerecht, sie verliert ihren Reiz, wenn man nicht lernt, wie man sie spielt. Das ist ein Lernprozess (bei dem man viel ausprobiert!) und man lernt viel über Musik und wie unterschiedliche Musik sich anfühlt. Bach fühlt sich anders an als Ellington. Wenn Du das nicht spürst oder spüren willst, Deine Wahl. Aber denen, die das spüren und erleben möchten "Unfreiheit" vorzuwerfen ist am Thema vorbei.



I.a.W macht es überhaupt einen grossen Sinn, darüber gross zu diskutieren?

Das ist für jeden interessant, der offen genug ist was zu lernen. :-)

Grüße
Häretiker
 
Natürlich macht es Sinn darüber zu diskutieren, es ist eines der interessantesten, vielfältigsten und wichtigsten in der Musik überhaupt!
 
Natürlich macht es Sinn darüber zu diskutieren, es ist eines der interessantesten, vielfältigsten und wichtigsten in der Musik überhaupt!

D'accord - nicht ohne Grund nimmt die Beschäftigung mit diesen Fragen im Musikstudium einen sehr breiten Raum ein.

Aber es hat ganz offensichtlich wenig Sinn, hier darüber zu diskutieren. Ein ernsthafter Austausch ist ja kaum möglich, wenn man überwiegend damit beschäftigt ist, den ganzen Müll beiseite zu räumen, der mit großem Aplomb in die Diskussion gekippt wird.
 
Pause bedeuten bei Beethoven etwas anderes als bei Brahms oder Liszt.

Schönes Beispiel! Aber mal ernst gefragt: woher soll ich das alles wissen?? Musste mir vor kurzem auch wieder den Kommentar vom KL anhören "das ist kein Brahms. So würde man Prokofjew spielen. Brahms spielt man soundso".
Ja ok, mit den Jahren und der Erfahrung lernt man zwar einiges, aber irgendwie hab ich das Gefühl, je weiter ich komme, überhaupt keine Ahnung zu haben :cry:
 
Ok, gutes Stichwort, das fiel glaube ich zum ersten mal in den Diskussionen.

Ansonsten, was die "Werktreue" angeht: als Themengebiet der Musik interessiert sie mich nicht sonderlich. Da gibt es essenziellere Gebiete, die interessanter sind.
Selbstverständlich darf ich mir jede Freiheit nehmen, die ich mir nehmen will. Aber - und das unterscheidet uns sehr - kann bzw. will ich meine Entscheidungen nicht willkürlich und vollkommen unreflektiert treffen.
Ich hoffe ein wenig, Du denkst nicht, dass ich mein Tun stets vom Würfelschmeissen bestimmen lasse? So ist es ja nun auch nicht ganz.
 
Es wird der Musik nicht gerecht, sie verliert ihren Reiz, wenn man nicht lernt, wie man sie spielt.
Ich versuche Musik immer so zu spielen, dass etwas meiner Meinung nach akzeptbales dabei rauskommt. Ausprobieren, experimentieren usw. gehört da klar mit dazu.
Aber denen, die das spüren und erleben möchten "Unfreiheit" vorzuwerfen ist am Thema vorbei.
Wahrscheinlich haben wir uns irgendwo missverstanden, weil vorwerfen wollte ich eigentlich niemandem etwas.
 
Schönes Beispiel! Aber mal ernst gefragt: woher soll ich das alles wissen??
Ja das ist ein Dilemma, speziell für Hobby Spieler und ich kenne das auch.
Eigentlich musste man sich bevor man mit einem Stück z.Bsp. von Chopin anfängt, sich mit seinem Stil auseinandersetzen.
Heutzutage hört man sich vorhandene Stücke an und glaubt so sollte das klingen. Da schnappt schon die erste Falle zu, weil man diese als gewisse Referenz nimmt. Und diese Referenz muss nicht werkgetreu sein. Meistens wird sie es sogar nicht sein.
Hier muss der Lehrer helfen und das finde ich ist auch eine wichtige Aufgabe dessen.
 
das ist ein Dilemma, speziell für Hobby Spieler und ich kenne das auch.
Eigentlich musste man sich bevor man mit einem Stück z.Bsp. von Chopin anfängt, sich mit seinem Stil auseinandersetzen.

In der Tat ist dies ein Problem. Es gibt gute Gründe dafür Musik und/oder Klavierspiel zu studieren und der Besucher eines Wochenendseminars wird am Ende eben tatsächlich deutlich weniger kompetent sein als jemand, der sich über viele Jahre hauptberuflich mit allen Fragen, die da mitspielen auseinandergesetzt hat. Und man kann auch auf diesem Gebiet wieder feststellen, dass absolute und apodiktisch vertretene Positionen eher bei Laien als bei Fachleuten vorkommen.
Auch deshalb sind gute Klavierlehrer so immens wichtig.
Ich verstehe aber doch nicht ganz, warum beispielsweise Hobbyastronomen Freude an ihrem Hobby haben können, ohne die mathematischen Modelle für das Universum nachrechnen zu können, während Hobbypianisten nicht selten ihre eher zufälligen Empfindungen und Erkenntnisse gegen die Fachleute mit Zähnen und Klauen verteidigen, und meinen ihre hochachtbaren - ich schätze jeden, der selbst ein einfaches Stück nach seinen Möglichkeiten spielt - Leistungen würden entwertet, wenn man darauf hinweist, dass sowohl technisch als auch musikalisch und intellektuell ein bisschen Abstand zu Horowitz, Michelangeli oder Gilels zu konstatieren ist.
Ein Hobby verlangt nicht zwingend äußerste Kompetenz und es ist auch keine Arroganz, wenn jemand, der etwas von den Dingen versteht darauf hinweist, dass gewisse Ansichten schlicht am Kern der Sache vorbeigehen.
Ich beobachte oft lächelnd - übrigens auch an mir - das Bundestrainer (oder Politiker-) Syndrom.
Mindestens 20 000 000 'Bundestrainer' wissen besser als der Fachman Löw, wie die Nationalmanschaft spielen müsste um jedesmal Weltmeister zu werden.
Genauso wissen viele, wie Chopin Liszt, Bach, ... gespielt werden müssten.
Dazu kommt, dass im Bereich der musikalischen Interpretation innerhalb gewisser Grenzen - die jeder etwas anders zieht - ziemlich viel möglich ist; teilweise in einem Ausmaß, das bei vielen Beliebigkeit suggeriert, aber eben noch viel mehr schlicht falsch ist, weil es grundlegende Parameter der Musik und der musikalischen Kommunikation verletzt.
 

Zurück
Top Bottom