Ich glaube, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt!
Ich halte Schwierigkeitsbewertung grundsätzlich für sehr problematisch.
Grundsätzlich gibt es aber eben leider unterschiedlich schwierige Stücke - den trivialen Fall nennst du ja selbst schon. Die 1. Invention von Bach ist eben definitiv einfacher als die Liszt-Sonate. Sollte es hier jemanden geben, der die Liszt-Sonate spielen kann, aber an der Bach-Invention scheitert, dann nehme ich die Aussage gerne zurück.
Stücke streng auf einer Skala von 1-15 (Wolters) oder 1-9 (Henle) einzustufen ist natürlich nicht ohne weiteres zweifelsfrei möglich. Natürlich ist die Liszt-Sonate dann auf jeden Fall auf Stufe 15 zu finden und die 1. Bach-Invention eher in der Größenordnung 4-5 (vermutlich) - da ist der Unterschied signifikant. Aber was ist jetzt mit anderen Stücken, z.B. KV 330 von Mozart (willkürliches Beispiel). Wäre diese Mozart-Sonate jetzt eher eine 9? Oder doch schon eine 12? Oder irgendwas anderes. Das hängt natürlich auch vom individuellen Können des Schülers ab...
Salopp gesagt, jemand der die Liszt-Sonate spielen will bzw. bereits spielen kann, der muss am Klavier allumfassend "alle" technischen und musikalischen Probleme lösen können, die eben so vorkommen. Derjenige spielt dann aber auch andere Stücke auf Stufe 15. Natürlich wird wohl auch so jemand unterschiedlich lange für die Liszt-Sonate, die 2. Sonate von Rachmaninov oder op. 111 von Beethoven brauchen. Aber mit einer vertretbaren Übezeit kann so jemand eben alle drei Stücke spielen. Für welches davon er wie lange braucht, ist wohl bei jedem Profipianisten dann auch wieder ganz unterschiedlich. Und wenn man auf so einem Niveau Klavier spielt, kann es einem auch egal sein, ob die 1. Bach-Invention nun Stufe 4 oder 5 ist - diese Invention spielt man dann einfach vom Blatt. Und mit Mozarts KV 330 wird man auch ziemlich problemlos zurechtkommen, obwohl das schon deutlich schwieriger als die Invention ist.
Aber: Auch jemand, der die Stücke auf Stufe 15 spielen kann, konnte irgendwann in seinem Leben auch mal nur "Hänschen klein - einstimmig" (also Stufe 0-1) auf dem Klavier. Und irgendwie war dazwischen dann eben der lange Weg des Lernens, um von Stufe 1 (kein Können) auf Stufe 15 (volle Beherrschung jeglicher Technik und Musikalität) zu kommen. Je nachdem, welche technischen Probleme man aber in welcher Reihenfolge lernt/verbessert, kann man eben verschiedene mittelschwere Stücke aktuell dann schon gut spielen und andere wiederum gar nicht. Und da ist dann egal, ob da jetzt Stufe 7 oder Stufe 10 dran steht. Jemand der eine Bach-Fuge auf Stufe 10 gut spielen kann (und damit am Limit seines Könnens ist), kann deswegen noch nicht automatisch einen Mozart auf Stufe 7 spielen. Andersrum genauso. Das liegt aber dann nicht daran, dass die Bach-Fuge auf Stufe 10 technisch einfacher als der Mozart auf Stufe 7 wäre, sondern daran, dass der entsprechende Klavierschüler wohl schon viel Bach gespielt hat, aber noch sehr wenig Klassik.
Mein Fazit:
1.) Um objektive Unterschiede beurteilen zu können, müsste man eigentlich technisch selbst alles beherrschen, also souverän Stücke der Höchststufe spielen können. Oder, wenn man selbst die gesamte Technik noch nicht beherrscht, sollte man zumindest über alle möglichen technischen Probleme Bescheid wissen. Jemand, der auf so einem Niveau spielen kann, braucht aber die Skala nicht mehr, weil er sowieso alles spielen kann (und die Stücke, bei denen der Übeaufwand wirklich noch hoch ist, sowieso alle auf Stufe 14 oder 15 stehen, man also dann auch keine Aussage aus dieser Schwierigkeitseinstufung mehr gewinnt.)
2.) Derjenige, der noch nicht alles kann, wird in der Regel zuverlässig die Finger von Stücken der Stufe 15 lassen, weil die zu schwer sind. Alles unterhalb der Bach-Inventionen ist auch nicht spannend. Und für die Stücke dazwischen ist eben dann die Einteilung sehr schwammig und passt im Zweifel eben überhaupt nicht zum eigenen Können. Für so jemanden bringt die Schwierigkeitsbewertung eben auch nicht viel.
3.) Objektiv gibt es dennoch selbstverständlich unterschiedlich schwierige Stücke - und es spricht nix dagegen diese auf einer Zahlenskala einzuordnen. Wer keinen Nutzen daraus ziehen kann, der muss sich die Bewertung ja auch nicht anschauen.