Komposition oder Improvisation

H

HbMuth

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Sieht bestimmt jeder anders, aber für mich ist eine Improvisation das musikalische Pendant zur Rede aus dem Stegreif, während eine Komposition "ins Reine geschrieben ist". Wäre aber wohl ein eigenes Thema ...
 
Improvisation ist aber auch mehr als „die schmutzige kleine Schwester der Komposition“.

Ja, gerne einen eigenen Faden dazu! Vielleicht von dir eröffnet, liebe @Stilblüte? Denn du bist wohl von allen hier nach meiner Wahrnehmung mit beiden Bereichen am meisten vertraut.
 
Komposition, Variation, Improvisation; wo sind die Grenzen, wo die Unterschiede und was sind die Gemeinsamkeiten?

Meine persönliche laienhafte Sicht:
Komposition sehe ich ähnlich eng wie @HbMuth . Sie ist "fertig"und im Text unveränderbar ab der ersten Veröffentlichung. Die Komposition IST der Text.
Improvisation dagegen ist für mich ein sehr breites Feld, was auch das spontane Variieren einer bestehenden Komposition beinhaltet, wobei die Spontanität durchaus planbar ist. Selbst das textgetreue Interpretieren ist aus meiner Sicht immer auch ein wenig Improvisation, ähnlich wie eine Buchlesung.
 
Zuletzt bearbeitet:
Spannendes Thema! Kann mich erst heute Abend oder morgen dazu äußern... Bis dann :)
 
Moin!

"In 15 Sekunden zusammengefasst, besteht der Unterschied zwischen Komposition und Improvisation darin, dass man bei der Komposition so
viel Zeit hat, wie man sich nur wünscht, um sich zu entscheiden, was man in 15 Sekunden sagen will; während einem bei der Improvisation
15 Sekunden zur Verfügung stehen."
-- Steve Lacy

Die komplette Anekdote im Original:
Frederic Rzewski once ran into Steve Lacy outside a bar in Rome. On the spur of the moment, Rzewski took out a tape recorder and said, “Steve, in 15 seconds, what is the difference between composition and improvisation?” Lacy answered with no hesitation: “In 15 seconds, the difference between composition and improvisation is that in composition you have all the time you want to think about what to say in 15 seconds, while in improvisation you have only 15 seconds.” Rzewski got home and played the tape back. He timed Lacy’s answer. It took exactly 15 seconds."

Klavier spielen "aus dem Stegreif Klavier spielen" geht natürlich im übetragenen Sinne, aber nicht im wörtlichen. ;-)

Kleine Anmerkung:
Improvisation hat es immer schon gegeben und viele Komponisten waren hervorragende Improvisatoren. Warum das Improvisieren für einige Zeit (150 Jahre!?) in der Versenkung verschwand und oft nicht gelehrt wurde im Zusammnhang mit klassischer Musik - keine Ahnung.

Psychoanalytiker in der Sitzung:
"Und diese ... Notenfixiertheit .... haben Sie die schon länger?"

Grüße
Häretiker
 
Nun habe ich doch schon früher Zeit, weil jemand den Unterricht abgesagt hat (schon wieder Erkältungswelle...). Ich habe eine kürzere Arbeit über ein Thema mit Bezug zur Improvisation geschrieben, daraus hier ein kurzes Zitat:
Beim Literaturspiel beschäftigt man sich mit dem Hineindenken, Einfühlen und Interpretieren bestehender Werke, in welchen man immer wieder Neues entdeckt, verschiedene Aspekte herausstellt und die man sich zu eigen macht. Das Komponieren geht einher mit Zeit zum Ausprobieren, mit Nachdenken, Wiederholen, Ändern und Herumfeilen, bis der Komponist zufrieden ist und die Arbeit abschließt. Die Improvisation wiederum beinhaltet eine möglicherweise vorhergehende Planung, ist dann aber ein Abbild des Moments. In ihrem Entstehen gibt es kein Warten und auch kein Zurück, und sie ist nach dem Verklingen unwiederbringlich vorbei, wenn man sie nicht zufällig aufgenommen hat.

Der formale Unterschied für mich: Eine Komposition gab es schon vorher (also bevor man sie spielt), eine Improvisation nicht. Das heißt auch, dass die allermeisten Kompositionen notiert und überhaupt notierbar sind, während Improvisationen nie notiert sind - es sei denn, man hört sie sich hinterher an und schreibt sie auf. Dann werden gehen sie über in den Kompositions-Status.

Musikalisch gibt es ebenfalls Unterschiede: In der Komposition gehören Form und Struktur in jeder Hinsicht mit zum wichtigsten Ausdrucksmittel. Eine ausgewogene Länge des Stückes mit sinnvoll gewichteten Formteilen; klug und raffiniert ausgearbeitete Verwendung der Periodenform, Satz und Verbindung von Phrasen; Themengestaltung, -verarbeitung und -fortspinnung; Wiederholungen, Zitate, Variation usw.
In der Improvisation kann man dem naturgemäß nicht ganz so gerecht werden wie in der Komposition. Hier steht mehr die Spontaneität und Kreativität im Vordergrund, der Klaviersatz, die Atmosphäre, die Abwechslung, die Überraschung, Kantabilität, Erweiterungen, Fortsetzung.

Und nun gibt's natürlich auch Zwitterformen bzw. fließende Übergänge. Kompositionen, die improvisatorische Anteile haben bzw. sehr viel Spielraum (!) lassen. Und Improvisationen, die festgelegte Anteile haben, wie z.B. Jazz-Standards. Auch der Pianist selbst kann (und wird häufig) sich selbst vorher Ideen zurechtlegen: Stil / Stilistik, Form, Dauer, Charakter, Harmoniefolge, Themen, Wendungen usw.
Im Prinzip ist Improvisation ja nichts anderes, als gut bekannte und geübte Puzzleteile immer wieder neu zusammenzusetzen. Dabei entstehen neue Bilder und Formen.
 
Edit: Dieser Beitrag überschneidet sich z.T. mit dem vorigen, ich lasse ihn trotzdem mal unverändert stehen :)

Der Gegensatz von Improvisation und Komposition zeigt sich sehr gut in Bachs WTK: Die Präludien scheinen aufgeschriebene Improvisationen zu sein, während die Fugen kaum etwas anderes als Kompositionen sein können.

Kompositionen sind geplante, oft in einem längeren Reifungsprozess entstandene Werke, während Improvisationen (auch wenn sie aufgeschrieben sind) den Geist der Spontanität und der (motorischen) Spielfreude ausstrahlen.

Kompositionen sind meist verdichteter und weisen oft komplexere Strukturen auf als Improvisationen.

Kompositionen haben in der Regel einen konzeptuellen Rahmen (oft an einer bestimmten Form erkennbar), während Improvisationen mehr den Klang im Hier und Jetzt ausleben.

Kompositionen und Improvisationen stellen also sehr unterschiedliche musikalische Prinzipien dar, weshalb sich eine Bewertung im Sinne von „Was ist besser?“ verbietet.

Natürlich gibt es auch Überschneidungen: Viele Kompositionen (wie z.B. die bereits erwähnten Bach-Präludien) sind aus der Improvisation entstanden. Auf der anderen Seite leben in Form gegossene Kompositionen z.T. auch von der Improvisation, z.B. in Kadenzen von Solokadenzen, die ja explizit Freiraum für Improvisation lassen.

Und war Busoni nicht der Meinung, der Interpret klassischer Kompositionen solle auch in den Notentext eingreifen dürfen und sich hier jederzeit improvisatorisch betätigen? Eine Praxis, die im Jazz und Pop ohnehin üblich ist, wo z.T. nur noch die Form des Songs gewahrt bleibt.
 
während die Fugen kaum etwas anderes als Kompositionen sein können.

Kleine Anmerkung:
Der gute alte Bach konnte selbstverständlich auch Fugen improvisieren.
Der Orgellehrer meines Klavierlehrers immerhin dreistimmig.

Zwischen Improvisation und Komposition gibt's ja noch Spielen nach Changes oder ähnliche Prinzipien (bezifferter Bass; reihum mit fünf Bläsern Blues spielen, die tiefste Stimme improvisiert den Bass, bei den anderen Stimmen wird reihum soliert, wer nicht soliert spielt Begleitstimme (natürlich nicht notiert), jeder hört auf die anderen)
Oder aus einer Melodie eine Orgelbegleitung für die Gemeinde stricken.
Da gibt es mehr als nur schwarz und weiß.

Grüße
Häretiker
 
Auch Fugen kann man improvisieren lernen. Wenn man übt, Durchführungen zu spielen (also Themeneinsätze nacheinander), dazwischen immer eine Sequenz, und hin und wieder einen Halb- und Ganzschluss einbaut, klingt es schon ziemlich gut.
 
Komposition, Variation, Improvisation; wo sind die Grenzen, wo die Unterschiede und was sind die Gemeinsamkeiten?

Meine persönliche laienhafte Sicht:
Komposition sehe ich ähnlich eng wie @HbMuth . Sie ist "fertig"und im Text unveränderbar ab der ersten Veröffentlichung.

Naja, bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte man ja noch freie Kadenzen. Die ganze Ornamentik in der Barockzeit war auch frei. Einige Klavierwerke z.B. Lizsts sind auch durchaus so angelegt, dass da Platz für freie Kadenzen ist.

Der Gegensatz von Improvisation und Komposition zeigt sich sehr gut in Bachs WTK: Die Präludien scheinen aufgeschriebene Improvisationen zu sein, während die Fugen kaum etwas anderes als Kompositionen sein können.

Diese Fuge soll Bach zum Zwecke einer Bewerbung als Organist in Hamburg improvisiert haben:

Ich weiß natürlich nicht sicher, ob das stimmt und inwiefern die Fuge im Nachhinein verfeinert wurde.

Ähnliches gilt für dieses polyphone Werk, das ja auch eine Improvisation über das königliche Thema ist:




Für mich schwer vorzustellen, dass das Improvisationen sind, das wirkt alles so perfekt ausgearbeitet und so unglaublich dicht, dass es eigentlich gar nicht sein kann.
Aber vielleicht war Bach auch etwas talentierter als wir alle hier.
 
Zuletzt bearbeitet:
Naja, bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte man ja noch freie Kadenzen.
Daher "beschränkte" ich die Komposition ja auch explizit auf den (Noten)Text. Und wenn im Text steht "hier ne Kadenz" dann gehört das mit all den dazugehörigen Freiheiten zur Komposition.
@Stilblüte :
...Die Improvisation wiederum beinhaltet eine möglicherweise vorhergehende Planung, ist dann aber ein Abbild des Moments. In ihrem Entstehen gibt es kein Warten und auch kein Zurück, und sie ist nach dem Verklingen unwiederbringlich vorbei...
Betrifft das nicht jede Art von Live-Musik, also auch die 100ste notengetreue Interpretation eines bekannten Werkes?

Die Erklärung von @Häretiker anhand des Steve Lacy-Zitates gefällt mir. :-)
 

Wie findet eigentlich ein Komponist heraus ob das supertolle Thema das ihm gerade im Schlaf eingefallen ist und das er natürlich sofort auf das immer neben dem Bett liegenden Keyboard aufgenommen hat tatsächlich neu ist? Oder, dass es das vielleicht schon tausendfach gibt?
 
Wie findet eigentlich ein Komponist heraus ob das supertolle Thema das ihm gerade im Schlaf eingefallen ist und das er natürlich sofort auf das immer neben dem Bett liegenden Keyboard aufgenommen hat tatsächlich neu ist? Oder, dass es das vielleicht schon tausendfach gibt?

Er singt oder spielt es Shazam (oder ähnlichen Diensten) vor und schaut, ob die Treffer ähnlich sind. ;-)

Grüße
Häretiker
 
Ein Thema kann aus einem oder zwei Tönen bestehen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Kompositionen auf dem Thema "Kuckucksruf" aufbauen.
Dann war das der falsche Begriff. Ich meinte natürlich schon etwas mehr als zwei Töne. Musst du einem verzeihen der sich fest vorgenommen hat demnächst den Flohwalzer einzuüben sich das aber noch nicht traut.
 
Das heißt auch, dass die allermeisten Kompositionen notiert und überhaupt notierbar sind, während Improvisationen nie notiert sind
Dafür sind Kompositionen womöglich nicht oder nur bei Beherrschung bestimmter Klaviertechniken spielbar.

Zweckdienlich bei der letzten Diskussion ist vielleicht die Unterscheidung zwischen Thema und Motiv. Aber das wäre dann schon wieder ne andere Frage.
 

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