Stimmführung (mit und ohne Parallelen)
Hast du zu diesem Thema, da ich das jetzt wissen will, eine verständliche,
leichte (ich will ja nicht wirklich komponieren) Quelle (Buch)?
Hallo, Bachopin!
Zunächst einmal könntest Du sagen, daß die von mir betriebene Differenzierung sophistisch ist,
denn auch individualisierte Stimmen werden - wie alle Musik - nur als Erklingende wahrgenommen:
Alle Musik ist Klang.
Es ist allerdings ein Unterschied, ob einzelne Stimmfortschreitungen für sich genommen grauselig sind,
ungesanglich, lieblos, und nur durch den Gesamtklang, den jeweiligen Harmonieverlauf plausibel werden -
oder ob sie aus sich heraus sinnvoll sind, durchartikuliert, als eigenständig wahrnehmbar,
und
gleichzeitig den harmonischen Verlauf prägen.
Ich kenne Deine Büchermanie, lieber Bachopin. Darf ich die Frage nach einer Lektüreempfehlung
unbeantwortet lassen und stattdessen mit Dir eine kleine Schnitzeljagd veranstalten?
Von einem empiriegestützen Gang durch die Musikgeschichte hast Du nämlich viel mehr.
Wenn Du die Noten studierst, achte vorallem auf die Mittelstimmen. Noten findest Du im IMSLP
bzw. auf "You Tube", glücklicherweise oft kombiniert mit den jeweiligen Werken.
Die Schnitzeljagd beginnt mit den Meistern Leoninus und Perotinus (Léonin und Pérotin),
atemberaubende Musik, die auf Steve Reich und andere amerikanischen "Minimalisten"
großen Einfluß hatte (1000 years after). In dieser Musik gilt die Terz als Problemintervall,
während Quart-, Quint- und Oktavparallelen unbedenklich sind.
Der Weg führt über Guillaume de Machaut ("Messe de Nostre Dame") zu den Frankoflamen:
Guillaume Dufay, Antoine Busnois, Josquin des Prés, Johannes Ockeghem et al.
Dort ist das Verbot von Quint- und Oktavparallelen bereits Grundlage aller Satztechnik -
mit der Ausnahme parallelgeführter Sextakkorde ("Fauxbourdon").
Mit dem Beginn homophoner Satztechnik im Frühbarock tritt ein anderes Problem als das der Vermeidung
von Quint- und Oktavparallelen auf: die Monotonie und Trostlosigkeit vorallem in den Mittelstimmen,
gegen die sich leider nie ein Verbot durchgesetzt hat. Das Gegenbeispiel ist hier wie so oft J.S.B.
Wenn Du sonst keinen Grund hättest, Bach-Choräle zu studieren, dann mach es jetzt - und sieh Dir
die Mittelstimmen an. Nicht nur, daß Bach eigenwillig, aber nie "gekünstelt" harmonisiert
und die Regeln des Kantionalsatzes gerne strapaziert, vorallem sind die drei unteren Stimmen
bei ihm individualisiert, das heißt gesanglich, meistens aus einem begrenzten Tonvorrat ("Set")
bestehend, und die Permutation der ihm entnommenen Töne erzeugt beim Singenden
auf die Dauer ein sehr wohltuendes Schwindelgefühl.
Den Weg zur Durchmelodisierung aller Stimmen geht die (Spät-)Romantik - extrem bei Mahler.
In der Hoch- und Spätromantik führt vorallem wieder der Weg zurück zu den Ursprüngen:
der Aufhebung des Verbots paralleler Quinten und Oktaven, konsequenterweise
mit Verzicht auf die Funktionstonalität, als bewußt eingesetzter Archaismus,
bei Mahler im Finale seiner 4.Symphonie, bei Satie und Ravel (extrem in der Klavierbegleitung
seines Liedes "Ronsard à son ame") und Debussy (Musterbeispiel: "La cathédrale engloutie",
viel interessanter in der "Sarabande" aus der "Suite pour piano", die mixturartig gerne
auch unaufgelöst-dissonante Klänge parallelführt), bei Janácek, Bartok und Strawinsky.
Interessant bei allen zuletzt genannten Komponisten ist das wache Klangbewußtsein,
das zu parallgeführten Oberstimmen gerne die tiefen Stimmen in Gegenbewegung verlaufen läßt.
Zuletzt das schon einmal genannte Beispiel bei Puccini, das so interessant ist,
weil hier ("La Bohème", Anfang des dritten Bilds) die in Quintparallelen geführte Melodie
keine (musikalische) Vergangenheit beschwört, sondern einfach ein Ausdrucksträger für sich ist:
Ausdruck abgrundtiefer Trauer, auf das herzzerreißende Ende der Oper vorausweisend.
Herzliche Grüße,
Gomez