Sternstunden der Menschheit
Guten Abend!
Des weiteren sehe ich es überhaupt nicht so, dass Improvisieren und Komponieren
grundverschiedene Arbeitsweisen sind bzw., da wir von klassischer Musik reden, dass sie es waren.
Wie kommst du darauf - auf welche Quellen stützt du dich dabei?
Auf welche Quellen? Schlicht und ergreifend auf die Musik - worauf denn sonst?
Kompositionen pflegen strukturiert zu sein: Formteile sind aufeinander bezogen,
Themen haben denselben Motivkern oder werden auseinander abgeleitet,
durch Variantenbildung weiterentwickelt, in der Durchführung planmäßig zerhackstückt.
Für größerdimensionierte Musik ist solche Planung (Tonartenverhältnisse, Modulationen)
und Strukturierung (motivisch-thematische Arbeit, formale Entwicklung) unerläßlich. Man lernt sie als Komponist.
Improvisierte Musik besteht im Idealfall aus lauter geglückten Momenten. Mit der strukturellen und formalen
Komplexität auskomponierter Musik aber kann und will sie nicht mithalten. Es geht ihr um etwas anderes.
Natürlich gibt es eine Grauzone, in der sich die beiden Verfahrensweisen nahekommen:
wenn eine improvisierte Musik sich vorgefertigter Formteile bedient (aber dann ist sie eigentlich schon
nicht mehr richtig improvisiert), oder wenn ein aus dem improvisierten Moment gewonnener Einfall
zur Grundlage nachfolgender kompositorischer Arbeit wird.
Meiner Meinung nach irrst du gewaltig, aus Skizzenbüchern von Mozart oder Beethoven zu schlussfolgern,
dass das kompositorische Schaffen nicht fast ausschließlich im Kopf ablief - genau an der Stelle,
wo übrigens die Improvisation stattfindet bzw. ihre Ausgangsbasis hat. Gerade von Mozart,
ebenso wie Bach, ist es ausreichend dokumentiert, dass sie im Kopf komponierten.
So wissen wir von Mozart, dass er in diesem Stadium des Komponierens im Kopf absolute Ruhe brauchte.
Das Schreiben mit Tinte auf Papier war lästige Fleißarbeit, die er heruntergespult hatte,
z.B. beim Billardspiel oder sonstwie. Die Bewältigung des Problems hat vorher stattgefunden, im Kopf.
Dass Skizzenbücher da sind, wo Einzel"Probleme" aufgeschrieben wurden, sagt überhaupt nix aus
über die generelle Komponierarbeit.
Man sollte seine Kenntnisse Mozartscher Arbeitstechniken nicht aus dem "Amadeus"-Film beziehen.
Und die Frage, ob Musik im Kopf des Komponisten oder auf dem Notenpapier entsteht, ist idiotisch,
denn auch die im Skizzenbuch notierte Musik ist eine Frucht gedanklicher Anstrengung.
Mozart hat um den Kontrapunkt gerungen; das zeigen die Skizzenbücher - und belegen zugleich,
ab welchem Ausmaß an Komplexität er seine Partituren nicht mehr einfach so dahinrotzen konnte
(oder wollte). Bei Beethoven ist der Kompositionsprozeß ein einziges Ringen - vorallem um die ideale
thematische Gestalt. Für die Themenfindung braucht LvB -zig verschiedene Anläufe, und der erste Versuch
hat oft mit der Endgestalt nichts gemeinsam - rein äußerlich zumindest.
Es ist töricht, sich (ab)wertend über die unterschiedlichen Arbeitsweisen von Komponisten zu äußern,
wie Fred und Mindenblues das getan haben. Eine Norm gibt es nicht; jeder arbeitet auf die ihm gemäße Art und Weise.
Sibelius ist wochenlang durch die geliebten finnischen Wälder gestapft, bis er einen Symphoniesatz in seinem
riesigen Schädel fertigkomponiert hatte. Dann hat er ihn ohne größere Korrekturen zu Papier gebracht.
Dagegen konnte Strawinsky ohne Klavier und ohne dort bereitstehendes Notenpapier keinen Takt komponieren.
War Strawinsky - um in Mindenblues' Jargon zu bleiben - kein Genie?
Der Jargon ist verräterisch und führt unfreiwillig auf eine Spur; er jongliert gerne mit Worthülsen
à la "Zeitzeugenaussagen, Genie, Sternstunden..." Mindenblues huldigt einem romantischen Geniekult,
für den es kränkend sein muß, sich den Götterliebling Mozart als jemanden vorstellen zu müssen,
der an seinem Material gearbeitet hat - wie jeder vernünftige Künstler.
Als jemand, der wie du hier eigene Stücke gepostet hat, darf ich sagen, dass ich jederzeit
bzgl. Tonsatzlehre und Komponiergrundlagen und -background sehr von Fred lernen kann,
und, ich will es mal höflich formulieren, auch dir stünde es besser zu Gesicht,
in dieser Hinsicht etwas bescheidener aufzutreten.
Mindenblues kann gerne "posten". Ich stelle hier bestenfalls Beiträge rein.
Und mit seinem Ausspruch, daß improvisierte Musik "lebensnäher" als komponierte Musik sei,
hat Fred sich als Kompositionslehrer disqualifiziert. Bescheidenheit ist eine Zier,
doch besser lebt man ohne ihr.
Gruß, Gomez
.