Lieber Jeremias
Habe mir die Aufnahme gestern Abend und dann heute noch zweimal angehört.
Da ich selbst nicht auf diesem Niveau spiele und auch die beiden Stücke nur vom Hören kenne, bringen Dich meine Gedanken dazu vielleicht nicht sonderlich weiter, in dem Fall: vergiss es, Du bist sicher selbst Dein schärfster Kritiker. Falls doch, freut's mich.
Insgesamt wirken beide Interpretationen auf mich noch unfertig. Ich habe das Gefühl, Du weißt genau, was Du alles zu tun hast, die Stücke haben sich aber noch nich so weit gesetzt, dass Du das alles mit der nötigen Ruhe umsetzen kannst, sodass es dann nicht nur gewollt sondern ganz selbstverständlich wirkt.
Beim wiederholten Zuhören sind mir - insbesondere bei den "lyrischeren" Passagen - viele schöne Details aufgefallen, die ich zunächst nicht gehört hatte. Was sich aber trotz mehrmaligen Hörens für nicht immer ergeben hat, sind die größeren Bögen und Zusammenhänge.
In den lauteren und lauten Passagen bei Liszt passt meinem Empfinden nach die Balance noch nicht. Bei der Stelle mit den wilden Läufen im Bass fand ich den dynamischen Aufbau nicht überzeugend, was sollte es sein kontinuierliches Creschendo? Steigerung in Wellen? Stufendynamik? Der Umstand, dass Du den Flügel nicht kennenlernen durftest erklärt da natürlich einiges. Es wirkte auf mich tatsächlich so, als hätte Dich die eigene Dynamik ein bisschen erschreckt. Da, wo's dann in den wuchtigen Oktaven dahingeht, ist mir die rechte Hand zu wenig präsent, im Verhältnis zu linken zu leise und die einzelnen Akkorde dabei zu abgehackt, um eine klare Linie zu bilden.
Ich hatte ein wenig das Gefühl, dass es Dir nach Liszt schwer fiel, bei Schubert das "schlichte" Anfangsthema in der nötigen Unaufgeregtheit zu präsentieren. Die Wiederaufnahmen des Themas insbesondere ganz am Schluss fand ich da überzeugender. Es gibt wahrscheinlich andere Gründe, die für die gewählte Reihenfolge sprechen, im konkreten Fall hätte es mir umgekehrt besser gefallen. Hätte Dir vielleicht auch geholfen, Dich an den Flügel zu gewöhnen. Einzelne der virtuoseren Passagen beim Schubert wirkten auf mich unsauber.
Es ist sehr schade, dass beim Ton ganz offensichtlich etwas dabeben gegangen ist. Es wirkt so, als wäre jemand am Regler für das Hauptmikro angekommen. Generell ist die Aufnahme sehr leise, was mich wundert, da hier ja mit professionellem Equipment aufnommen wurde. Dadurch sind sicher viele Nuancen verloren gegangen, was sicher auch zu dem von Lustknabe angesprochenen "statischen" und "braven" Eindruck beiträgt. Auch ich habe jedenfalls oft den Eindruck, dass gleichartige Muster zu gleich klingen.
In jedem Fall: Respekt für diese Leistung und weiterhin frohes Schaffen an diesen beiden tollen Werken! Drücke Dir die Daumen für Warschau
Liebe Grüße
Gernot