Wer sagt wie langsam langsam ist?

40er

40er

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Liebe Clavianer,

mich plagt seit einiger Zeit eine Frage, auf die ich als solches noch keine befriedigende Antwort erhalten konnte.

Es geht um die Aufführgeschwindigkeit klasischer Stücke, für die keine Metronomangaben oder akustische Aufzeichnungen vorliegen - also praktisch die gesamte klassische Literatur vor 1887 dem Jahr des Patents für die Schallplatte.

Wer entschied wie rasch Stücke zu spielen sind, die mit Allegro oder Andante und den anderen Tempi-Bezeichnungen angegeben sind? Natürlich der Vortragende - aber orientierte sich dieser dabei an Vergleichsstücke anderer Komponisten und den Aufführenden?

Ich habe schon mehrfach gehört, dass in den früheren Jahrhunderten deutlich langsamer gespielt wurde als heute. Wie dies belegt werden könnte, ist eine andere Frage.

Hintergrund meiner Frage ist der, dass ich eines meiner aktuellen Stücke (Mignon von R. Schumann) soweit fehlerfrei und durchaus hörbar bei offener Balkontür (o-Ton meiner KL) spielen kann. Das Stück ist mit langsam, zart angegeben. Um dies ebenso fehlerfrei und für mich bequem spielen zu können, benötige ich 5 Min. für das Stück incl. aller Wiederholungen. Könner spielen es in ca. 3einhalb Minuten und kürzer runter wie Vergleiche mit diversen yt Videos ergeben.

Was mache ich verkehrt, ausser zu langsam zu sein?
Wer sagt wie langsam langsam ist und wie schnell schnell sein soll?

Gruss
40er
 
Das sind 49 Viertel pro Minute, was mir persönlich doch arg langsam vorkommt. Es kommt hier ja nicht auf die Achtel de Begleitung an, sondern auf die Melodie, die aus Punktierten Halben und Vierteln besteht und die wirkt für mich auch im doppelten Tempo noch langsam genug.
 
Man sagt generell, dass ein Stück langsam ist, wenn der Grundschlag unter der Herzschlagfrequenz liegt. Wenn ein Stück also 50 Viertel in der Minute als Taktangabe hat, aber es nur aus Sechzehntelnoten besteht, nimmt man es als schnell wahr.
 
Man sagt generell, dass ein Stück langsam ist, wenn der Grundschlag unter der Herzschlagfrequenz liegt. Wenn ein Stück also 50 Viertel in der Minute als Taktangabe hat, aber es nur aus Sechzehntelnoten besteht, nimmt man es als schnell wahr.

Ups, Wiemalte, Du bist doch sonst ein erstaunlich gut Bescheidwissender?

Und jetzt so etwas? Ich bin erstaunt...
 
Das sind 49 Viertel pro Minute, was mir persönlich doch arg langsam vorkommt. Es kommt hier ja nicht auf die Achtel de Begleitung an, sondern auf die Melodie, die aus Punktierten Halben und Vierteln besteht und die wirkt für mich auch im doppelten Tempo noch langsam genug.

Ich dachte bisher die Melodie in Mignon besteht grösstenteils aus den Achteln, die mit der rechten gespielt werden. einige Takte der rechten Hand haben zwei Stimmen, die aber ebenfalls komplett mit RH gespielt werden.
Deine Aussage zur Melodie verwirrt mich jetzt etwas. Rein rechnerisch bin ich auf das gleiche Ergebnis für das Metrum gekommen.

Gruss
 
Man sagt generell, dass ein Stück langsam ist, wenn der Grundschlag unter der Herzschlagfrequenz liegt. Wenn ein Stück also 50 Viertel in der Minute als Taktangabe hat, aber es nur aus Sechzehntelnoten besteht, nimmt man es als schnell wahr.

Mein und dein Herzschlag sind aber über einen weiten Bereich sehr variabel. Meiner auf jeden Fall und ich hoffe deiner auch.

So etwas habe ich noch nie gehört, geschweige denn gelesen.
 
Wer sagt wie langsam langsam ist und wie schnell schnell sein soll?
Auf diese Frage wirst Du aus einem bestimmten Grund keine befriedigende Antwort erhalten: Meßbares und gefühltes Tempo sind nicht dasselbe - und Tempodiskussionen gibt es auch bei Stücken mit vorgegebener Metronomzahl, die es vor der Erfindung der Schallaufzeichnung bereits gab. Maßgeblich für eine bestimmte Tempoempfindung ist nicht nur die Aktionsdichte an gespielten Tönen, sondern auch Tempoführung, Artikulation, Dynamik etc.!

Um dies ebenso fehlerfrei und für mich bequem spielen zu können, benötige ich 5 Min. für das Stück incl. aller Wiederholungen. Könner spielen es in ca. 3einhalb Minuten und kürzer runter wie Vergleiche mit diversen yt Videos ergeben.
Entscheidend ist, die fünf Minuten mit Spannung und Entspannung lebendig zu gestalten. Als Vergleich eine sehr farbige und anschlagsdifferenzierte Interpretation mit Notentext durch Jörg Demus: Jörg Demus plays Schumann Album für die Jugend Op.68 - 35. Mignon - YouTube

Als Vergleich eine kürzere (Mignon - Robert Schumann - YouTube) und eine längere (Schumann : Mignon - YouTube) Wiedergabe von YouTube. Mit gut fünf Minuten kommt man etwa in die Dimension dieses Livemitschnitts: Me playing "Mignon"- Schumann, n.35 - YouTube

Mein Eindruck: Mit "richtig" oder "falsch" ist die Frage nach dem korrekten Tempo nicht zu beantworten, es geht eher um "überzeugend" und "nicht überzeugend". Je langsamer der gewählte Grundpuls ist, desto schwieriger ist es, Spannungsbögen zu gestalten und diese Gestaltung beim Zuhörer lebendig werden zu lassen. Wer dies in äußerst langsamem Zeitmaß zu leisten vermag, präsentiert gestalterische Meisterschaft. Wer hingegen nur Töne aneinanderreiht, überzeugt mit anderthalb Minuten Spieldauer ebenso wenig wie mit sechs - im erstgenannten Tempo hat man die gepflegte Langeweile nur schneller hinter sich.

Was mache ich verkehrt, ausser zu langsam zu sein?
Dazu müsste man Deine Interpretation hören können, um überhaupt festzustellen, ob Du etwas "verkehrt machst". Wie gelangst Du zu der Einschätzung, "zu langsam" zu sein? Was passiert mit dem Stück, wenn Du ein anderes Tempo wählst? Ich frage deshalb so gezielt, weil Du die Wiedergabe durch "Könner" in einem Atemzug mit einer kürzeren Spieldauer erwähnst. Die Empfindung des Gehetztseins kann mit einer (noch) nicht ausreichenden technischen Beherrschung des Notentexts verknüpft sein, muss aber nicht. Ein Tempo aus konkretisierbaren Gestaltungsabsichten zu modifizieren, das kann durchaus in Ordnung sein. Nicht akzeptabel ist es allerdings, wenn die Modifikation spieltechnisch begründet ist. Wenn es zwischen schwierigen und einfachen Textvorgaben im Stück große spieltechnische Unterschiede gibt (was bei "Mignon" nicht der Fall ist), soll die Tempowahl sowohl dem Charakter des gewählten Stücks als auch der sicheren Beherrschung der schwierigsten Aufgaben im Stück gerecht werden. Prinzipiell gibt es bei der Wahl des Spieltempos, soweit nicht aus dem Notentext und dem ermittelbaren Musikcharakter ersichtlich, nur ein verbotenes Phänomen, das aber oft anzutreffen ist: Aus Willkür oder aufgrund von mangelhafter spieltechnischer Beherrschung einer Passage einfach schneller oder langsamer zu werden.

LG von Rheinkultur
 
Was passiert mit dem Stück, wenn Du ein anderes Tempo wählst? Ich frage deshalb so gezielt, weil Du die Wiedergabe durch "Könner" in einem Atemzug mit einer kürzeren Spieldauer erwähnst. Die Empfindung des Gehetztseins kann mit einer (noch) nicht ausreichenden technischen Beherrschung des Notentexts verknüpft sein, muss aber nicht. Ein Tempo aus konkretisierbaren Gestaltungsabsichten zu modifizieren, das kann durchaus in Ordnung sein. Nicht akzeptabel ist es allerdings, wenn die Modifikation spieltechnisch begründet ist. Wenn es zwischen schwierigen und einfachen Textvorgaben im Stück große spieltechnische Unterschiede gibt (was bei "Mignon" nicht der Fall ist), soll die Tempowahl sowohl dem Charakter des gewählten Stücks als auch der sicheren Beherrschung der schwierigsten Aufgaben im Stück gerecht werden. Prinzipiell gibt es bei der Wahl des Spieltempos, soweit nicht aus dem Notentext und dem ermittelbaren Musikcharakter ersichtlich, nur ein verbotenes Phänomen, das aber oft anzutreffen ist: Aus Willkür oder aufgrund von mangelhafter spieltechnischer Beherrschung einer Passage einfach schneller oder langsamer zu werden.

LG von Rheinkultur

Lieber Rheinkultur,

vielen Dank für Deine ausführliche Antwort. Die von dir angeführten yt-Bsp. schau ich mir heute nach Feierabend gerne mal genauer an. In deinen letzten Sätzen (wie im Zitat abgebildet) steckt wahrscheinlich die volle Wahrheit zu meinen Problem, wenn es den eins wäre (gemäss meiner Kl sollte ich es viel relaxter ansehen, sie macht sich hinsichtlich Tempo keine grossen Gedanken).

Es ist das Gefühl gehetzt zu werden wenn ich das Tempo erhöhe und mit dem Anschlag der richtigen Tasten nicht mehr hinterherkomme. Hier fehlt noch ne Mege spielerische Technik und Gelassenheit, die man nach 9 Monaten Unterricht trotz noch so fleissigen Üben nicht hinbekommt.
Meine Kinder sind dabei viel lässiger und weit weniger perfektionistisch - die sagen einfach, dass sie jetzt (nach 2 Monaten Unterricht) Klavierspielen können und spielen ihre Stückchen einfach so runter - egal wer und wieviele zuschauen und wie es am Ende klingt.

Die Frage wer sagt wie langsam langsam und wie schnell schnell sein soll - lässt sich wohl nicht in naturwissenschaftlicher Exaktkeit sagen.

40er
 
"Mignon" nach neun Monaten Unterricht? Da wundert es mich nicht, wenn Du Deinen Anspruch "technisch" (noch) nicht erreichst.
 
Mein und dein Herzschlag sind aber über einen weiten Bereich sehr variabel. Meiner auf jeden Fall und ich hoffe deiner auch.

So etwas habe ich noch nie gehört, geschweige denn gelesen.

Ich weiß es aus dem Musikunterricht von einem durchaus kompetenten Lehrer. Er hat uns auch erklärt, dass man "langsam" tatsächlich z.B. nach dem Sport anders definiert.

Hasenbein: Was meinst du?
 
Danke, 40er, für Deine Frage die mich wieder einem mir bisher unbekannten Stück nahegebracht hat.

Und danke, Rheinkultur, für die Nennung der Links die verdeutlichen warum es „richtig“ oder „falsch“ – zumindest bei diesem Stück – nicht geben kann. Es erstaunt mich wie unterschiedlich die Stücke durch die unterschiedliche Geschwindigkeit auf mich wirken.

Vor kurzem hatte ich auch eine erfreuliche Begegnung mit einem Stück, das deutlich langsamer gespielt wurde als es normalerweise der Fall ist. Es war Bachs 2. Invention in gemächlichem Tempo und so gespielt hat mir das Stück viel besser gefallen als im Originaltempo (Bach möge es mir verzeihen).

Aber ob schneller oder langsamer gespielt: Schumanns „Mignon“ ist zum Dahinschmelzen schön!
 

Vor kurzem hatte ich auch eine erfreuliche Begegnung mit einem Stück, das deutlich langsamer gespielt wurde als es normalerweise der Fall ist. Es war Bachs 2. Invention in gemächlichem Tempo

Irre ich? Das Stück ist doch von Grund auf eher gemächlich zu spielen... abgesehen von Hewitts Interpretation.

http://www.youtube.com/watch?v=q5XfPUoY7vk
Hier von Peter Serkin... finde diese nicht sonderlich schnell, oder gibst die noch langsamer?
im vergleich Hewitt :) http://www.youtube.com/watch?v=oRYevpJ9YYE

Vortrag: ruhig, Gesangsvoll bei 52 Viertelschläge
Quelle: Die Klavierwerke Bachs von Hermann Keller

Lg Lustknabe
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Der Till Fellner haut die Inv#2 in 1:15 durch. (Die #4 in 0:47 !!!) Und das ist (auch) geil! ;-) Wobei für mich ohnehin eine der großen Qualitäten von Barockmusik ist, dass sie (fast) in jedem Tempo "funktioniert".
 
Das Stück ist doch von Grund auf eher gemächlich zu spielen... abgesehen von Hewitts Interpretation.

Und schon wieder etwas gelernt. Es war genau das Tempo der Interpretation von Angela Hewitt welches ich kannte. Ich dachte dies sei das übliche Tempo. Es scheint wohl wirklich nicht so einfach zu sein "die richtige Geschwindigkeit" zu finden.
 
Und schon wieder etwas gelernt. Es war genau das Tempo der Interpretation von Angela Hewitt welches ich kannte. Ich dachte dies sei das übliche Tempo. Es scheint wohl wirklich nicht so einfach zu sein "die richtige Geschwindigkeit" zu finden.

Ein "übliches" Tempo gibt es doch bei Bach eigentlich gar nicht; Bachs Werke klingen fast alle sowohl langsam als auch schnell gut! :D
 
Ein "übliches" vielleicht nicht, ein "richtiges" meistens schon. Ich persönlich finde z.B. schnelle Sarabanden und langsame Giguen nicht so prickelnd, aber was soll's.
Suum cuique.

Gruß, Mick

Wenn überhaupt ein übliches. Richtig ist ein Tempo dann, wenn es eine Vorgabe gibt. Und die hat Bach meist nicht. Auf jeden Fall nicht bei den Inventionen. Bei einer Gigue aber steckt ein wenig "Tempoangabe" ja schon im Namen.
 
Wenn überhaupt ein übliches. Richtig ist ein Tempo dann, wenn es eine Vorgabe gibt. Und die hat Bach meist nicht. Auf jeden Fall nicht bei den Inventionen. Bei einer Gigue aber steckt ein wenig "Tempoangabe" ja schon im Namen.

Viele der Inventionen sind aber nun mal stilisierte Tanzsätze. Die in c-Moll z.B. eine Allemande. Und bei Mattheson kannst Du nachlesen, dass Allemanden, die nicht im Allabreve notiert sind, langsam zu spielen sind. Natürlich gibt es da eine gewisse Bandbreite - aber wer das Ding im Affenzahn spielt, liegt völlig daneben.

Gruß, Mick
 

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