Schumanns "Träumerei" traditionell zu langsam?

  • Ersteller des Themas PianoAmateur
  • Erstellungsdatum

Die ganze Interpretation musz in sich stimmig sein. Bei Willkuer entsteht kein stimmiges Bild mehr. Das kann man nicht beweisen, aber spueren, fuehlen.
Da hast du aber den entscheidenden Punkt genannt: die Interpretation muß überzeugen und das reicht!

Was mick und rolf hingegen fordern, ist, daß der Interpret erstmal die Kenntnis umfangreicher Sekundär- und Tertiärliteratur nachweist, bevor er überhaupt das Recht haben soll eine eigene Interpretation anzubieten. Wenn alle so elitär denken würden, wären uns viele geniale Künstler schon entgangen, die einfach nur gut waren und das nicht mit Worten begründen konnten.
 
Manchmal mag die von Dir genannte Sekundaer- und Tertiaerliteratur sinnlos sein, manchmal auch nicht. Ich glaube etwas anderes:
Wenn man ein Stueck unbedingt spielen will/musz, dann will man es "ganz verstehen", "vollstaendig besitzen", d.h. man saugt alles auf, was einem irgendwie nuetzlich sein koennte oder bei der Interpretation weiterbringt. Horowitz soll von einem Komponisten z.B. moeglichst alle verfuegbaren Noten gespielt haben, Briefe des Komponisten gelesen haben. Ein echter Kuenstler - und ich hoffe jetzt nicht, Dir zu nahe zu treten, das ist zumindest meine vielleicht naive Vorstellung - musz sich dann fast zwanghaft mit dem Stueck, dem Komponisten, auch dessen Umfeld beschaeftigen. Einem Kuenstler reicht doch nicht, einfach die Noten zu lernen und dann zu sagen, "gut, das war's, Hauptsach' mir g'fallts"? Man will Zusammenhaenge entdecken, in einem "gewebten Teppich riesiger Struktur" jeden Faden kennen und doch das Gesamte nicht aus den Augen verlieren.
So gesehen kann ich verstehen, dasz vielleicht bei der Antwort "ich empfinde es einfach so", das perplexe Erstaunen einsetzt, naemlich darueber, das die andere Person so wenig Energie des echten Erforschens eines Stueckes zeigt. Ich nehme jetzt einmal an, dasz es darum ging, sonst, ja, "Arroganz" gehoert vielleicht auch zum "Geschaeft". Nachdem jetzt von mir alle, Laien und Professionelle, das Fett wegbekommen haben, kann ich beruhigt schlafen gehen :teufel:.
Jannis
 
Zuletzt bearbeitet:
Ja. Da wird ein unglaublich autoritäres Bild des "Maestros" transportiert. Man kann weit kommen, wenn man sich dem unterordnet. Nikolaus Harnoncourt nannte derartiges Gebaren der "Maestros" in einem Interview mal "billig".

Es geht hier gar gerade nicht ums Unterordnen und Autorität. Der Dirigent, von dem ich hier spreche, ist ein äußerst kollegialer und bei seinen Orchestern enorm beliebter Chef. Und zwar deshalb, weil er immer perfekt vorbereitet ist, ein klares Konzept hat, das er vermitteln kann und außerdem eine fantastische Musikerpersönlichkeit ist, der man sofort vertraut und glaubt. Und genau das - sein kollegiales Verhältnis zu diesem Orchester, dessen Chef er einige Jahre war - ist der Grund für den Rauswurf des jungen Dirigenten: er wollte diesen lausig vorbereiteten Kerl dem Orchester einfach nicht zumuten. Es wäre sicher gar kein Problem gewesen, wenn der Kollege diesen Tempowechsel plausibel erklärt hätte (das hätter er dem Orchester nämlich auch erklären müssen), aber so einen Eingriff mit einem diffusen Gefühl zu begründen, ist einfach viel zu wenig und vor einem Berufsorchester geradezu lächerlich.

Und genau deshalb ist es auch beinahe ein Witz, hier Nikolaus Harnoncourt anzuführen. Gerade der ist nämlich jemand, der in nie dagewesener Ernsthaftigkeit und Ausdauer Jahre in Bibliotheken verbracht hat, um möglichst alle historischen Quellen zur Aufführungspraxis und zu den von ihm aufgeführten Komponisten und Werken zu studieren, die irgenwie auffindbar sind. Aus irgendeinem Gefühl heraus hat der überhaupt nichts gemacht. Ganz im Gegenteil, der konnte jedes Tempo, jede Phrasierung, jede Artikulation haarklein begründen und hat deshalb auch die Spitzenorchester begeistern können, obwohl ihm das dirigentische Handwerkszeug gefehlt hat und er deshalb mehr Proben verlangen musste als jeder andere Dirigent. Er hat die Proben bekommen.

Da hast du aber den entscheidenden Punkt genannt: die Interpretation muß überzeugen und das reicht!

Was mick und rolf hingegen fordern, ist, daß der Interpret erstmal die Kenntnis umfangreicher Sekundär- und Tertiärliteratur nachweist, bevor er überhaupt das Recht haben soll eine eigene Interpretation anzubieten. Wenn alle so elitär denken würden, wären uns viele geniale Künstler schon entgangen, die einfach nur gut waren und das nicht mit Worten begründen konnten.

Ein einzeln auftretender Pianist kann sich das in Ausnahmefällen - sofern er über eine wirklich geniale Musikalität verfügt - ab und zu leisten. Vielleicht. Aber ein Dirigent, der ein ganzes Orchester von seiner Sichtweise überzeugen muss, kann das definitiv nicht., zumindest nicht, wenn er mit Berufsorchestern arbeitet. Und gerade die von dir angeführten Genies haben äußerst gewissenhaft gearbeitet und ganz sicher keine leichtfertigen Entscheidungen getroffen.

LG, Mick
 
Wenn alle so elitär denken würden, wären uns viele geniale Künstler schon entgangen, die einfach nur gut waren und das nicht mit Worten begründen konnten.
verblüffend, dass Chopin in Sachen Musik von lebenslangem Studium sprach... verblüffend, dass der von Zappa hoch geschätzte Boulez sehr viel über Musik geschrieben hat... sehr viele Komponisten aus dem 19. und 20. Jh., die nichts über Musik geschrieben haben, gibt es nun nicht gerade... schon fies, dass die alles sich nicht so verhalten, wie @auffeMütze es gerne hätte :-D:drink:
 
Worum geht´s?
 
Danke @jannis für die Buchempfehlung. Ich habe es soeben bestellt. Da habe ich wohl Glück gehabt?

Ich nehme die Ratschläge von @mick und @rolf ernst. Wenn ich mir keine Gedanken über die Herangehensweise an bestimmte Stücke machen würde, dann würde ich wohl nicht fragen.
 
Die Kunst ist stets nur von Leuten weiterentwickelt worden, die auf Konventionen einfach mal geschissen haben.

Und so manch einer kann sein Vorgehen halt auch nicht in Worte fassen. Deshalb ist er halt Musiker oder Maler oder Bildhauer geworden. Wie sagte der Maestro Frank Zappa einst: "über Musik reden ist, wie über Architektur tanzen."

Wer sich für so von der Muse geküßt hält, wird dann wohl auch keinen Meisterkurs besuchen.

Wer einen Meisterkurs besucht, will schließlich von einem Meister etwas lernen,
und ihm nicht zeigen, wie toll er die Konventionen brechen kann, ohne sie wahrscheinlich zu kennen
und zu können.

Und mal ehrlich: Grotesker Tempowechsel in einem Satz?
Ohne Erklärung, also ohne Plan?

Das ist ja nochmal etwas ganz anderes, als eine kreative Tempowahl, bei der man dann auch bleibt.
 
Ich bin mir sehr sicher, daß die beiden erstmal gründlich die Regeln gelernt haben, um zu wissen wie man sie am besten bricht ;-)

Wenn man nicht lernt, was es schon gibt und warum, kann man nunmal nicht wirklich etwas neues schaffen.
Dann stochert man nur rum, um evtl. erstmal alles nachzuerfinden (oder zu kreativieren), was es schon gibt.

Drogen helfen natürlich dabei, daß man es selbst nicht so schlimm findet ;-)

Bezüglich der Drogen in der jüngeren Musikgeschichte:
 

(1) Gould oder Zappa hielten sich nicht für "von der Muse geküßt", sondern haben das Publikum schlicht mit Tatsachen überzeugt. (2) Und wären doch nach den Kriterien, die hier gefordert werden schlicht unfähige Deppen.
...wenn man sich darin gefällt, zusammenhanglos markige Sätze abzusondern, dann sollte man sich vorher darüber informieren, wie es um die mitgeteilten Inhalte bestellt ist und ob diese irgendwas mit dem gerade anstehenden Thema zu tun haben...

(1)
großenteils ja, allerdings kann man nicht übersehen, dass nicht restlos alles, was die zwei gebracht haben, erste Sahne ist (nur ein Exempel: Gould, den Kopfsatz op.111 verpfuschend durch überzogenes Tempo, was dann zu technischen Unzulänglichkeiten führt)
(2)
Falsch! Beide haben ihr musikalisches Metier von Grund an gelernt. Kann man unschwer nachlesen. Keiner von beiden ist urplötzlich als Genie vom Himmel gefallen. Und keinesfalls sind beide in jedem Takt, den sie schrieben oder spielten, automatisch ultrarevolutionär (man denke nur an Goulds Streichquartett). Und beide haben sich durchaus umfangreich schriftlich wie mündlich über Musik und Musikpraxis geäussert. Auch das ist unschwer nachzulesen.

_____________________________

und noch was nettes zur Träumerei: selbst das blinde Huhn Tante Wiki findet mal ein Korn... höchst spaßig, was hier mitgeteilt wird: https://de.wikipedia.org/wiki/Träumerei#Tempo
:-D:drink::-D
 
Da hast du aber den entscheidenden Punkt genannt: die Interpretation muß überzeugen und das reicht!

Was mick und rolf hingegen fordern, ist, daß der Interpret erstmal die Kenntnis umfangreicher Sekundär- und Tertiärliteratur nachweist, bevor er überhaupt das Recht haben soll eine eigene Interpretation anzubieten. Wenn alle so elitär denken würden, wären uns viele geniale Künstler schon entgangen, die einfach nur gut waren und das nicht mit Worten begründen konnten.

Naja, ein Konzertpianist sollte schon in seiner Interpretation die Primärquellen, also Briefe, Aufzeichnungen etc. und Historische Hintergründe, Gegbenheiten, Lebenssituation des Komponisten etc. berücksichtigen. Sonst kann eine Interpretation nie überzeugen, weil sie ja nicht wirklich mit der Intention des Komponisten zu tun hat.

Ab einem gewissen Level erwarte ich sogar, dass diesesWissen von einem ausgebildeten Klavierlehrer vermittelt wird. So wird dek Schüler nicht nur Wissen im Beteich der Musik vermittelt, sondern viel mehr,

Aber selbst unter gewissen Grenzen, sollte genug Interpretationspielraum gegeben sein, solange man es aufgrund der Quellen etc. begründen kann.

Alles andere ist Scharlatanerie.

Ansonsten kann er/ sie ja gerne selbst komponieren.

Harnoncourt war ja -.wie ich in einem Interview nachgelesen habe, einer der Ersten die den Orchestern etwas erklären und damit grenzte er sich eben zu seinem Lehrer/Orchesterleiter in Wien Karajan ab. Der Befahl und alle anderen hatten zu folgen.
Aber Karajan hatte es auch nicht anders gelernt. So hatte wohl Karajan in jungen Jahren die Erfahrung gemacht, dass sobald Furtwängler ein Konzert von ihm besuchte, dasOrchester anders spielte. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu erkennen, dasFurtwängler gerade den Raum betreten hatte.



 
Zuletzt bearbeitet:
... denn sie wissen, was sie tun?

Ich habe mir mal die Mühe gemacht, die Einspielungen der "Träumerei", die mir zur Verfügung stehen, auf die entsprechenden Metronomzahlen herunterzurechnen. Das Fazit: Keiner der namhaften Pianisten nähert sich den von Schumann gewünschten M.M. Viertel = 100 an. Andreas Staier ist mit M.M. Viertel = 72 der Schnellste. Als "Schlußlicht" rangiert Alexis Weissenberg mit M.M. Viertel = 37.

Worum es mir geht: Die Frage, ob eine Interpretation überzeugt oder nicht, hängt sicherlich nicht allein vom Tempo ab. Ich habe nicht den Eindruck, daß all die namhaften Pianisten "durchdachte Konzepte" haben. Die einschlägigen Quellen und das Sekundärschrifttum haben sie entweder nicht studiert oder geflissentlich ignoriert. "Interpretation" scheint auch in der pianistischen Champoins-League wohl doch eher aus dem Bauchgefühl heraus zu entstehen, selbst bei jemandem wie Alfred Brendel, der sicherlich zu den "Intellektuellen" der Tastenbranche zählt.

Im Anhang die Liste (damit sich jeder ein Bild machen kann).
 

Anhänge

  • Träumerei (Tempo-Liste).pdf
    5,6 KB · Aufrufe: 26
Ich habe mir mal die Mühe gemacht, die Einspielungen der "Träumerei", die mir zur Verfügung stehen, auf die entsprechenden Metronomzahlen herunterzurechnen. Das Fazit: Keiner der namhaften Pianisten nähert sich den von Schumann gewünschten M.M. Viertel = 100 an
@koelnklavier
quasi naturwissenschaftliche Messungen sind immer erfreulich oder unerfreulich :-) ich hoffe, du kennst die op.111 CD samt Essay von Vitaly Margulis: dort sind auch erstaunliche Messergebnisse aufgelistet!!!
Es gibt eine kleine Handvoll Musikstücke, deren Tempogestaltung im Verlauf der Rezeptionshistorie verblüffende Kapriolen aufweisen:
Beethoven: op.13 (Kopfsatz), op.27,2 (1.Satz), op.106 (Finale), op.111 (Variationen)
Schumann: Träumerei
Chopin: op.10 Nr.2, Nr.4, op.25 Nr.6
Wagner: Tannhäuserouvertüre
Puccini: die großen Opern (die originalen Metronomzahlen versus Aufführungspraxis...)

Zu den extremen Beispielen zählen Beethovens op.111 (was keine originalen Metronomzahlen hat, aber immense Unterschiede in der Aufführungsdauer vorweist) und eben Schumanns Träumerei.

Schumann: Viertel = 100
Clara Schumann: Viertel = 80 (Brahms war dagegen, präferierte 100)
Notenausgaben frühes 20. Jh.: Viertel ca. 50-40

Hier hatte sich eine Tradition etabliert, die zu immenser Verlangsamung geführt hatte - und Traditionen können gelegentlich betonhart werden... Das ist der Träumerei widerfahren.

...warum spielten/spielen so viele namhafte Interpreten die Träumerei so langsam bzw. verzerrend zu langsam? Weil die Kraft dieser Aufführungstradition so groß ist (?!) - niemand freut sich, wenn die Rezipienten irgendwas als "lieblos heruntergerast" aburteilen (das widerfuhr z.B. Horowitz beim Chopinschen andante spianato)

Allerdings überzeugt mich die kontinuierlich verlangsamende "Tradition" nicht, denn sie geht sogar über Clara Schumanns Viertel = 80 (was schon langsamer als das Original ist) weit hinaus...
 

Zurück
Top Bottom