"dass auch nur ein Bach-Stück ... an ein romantisches Stück ranreicht."
Nun mögen die Romantiker ja alle Dummerjahns gewesen sein, aber einig waren sie sich alle darin, daß Bach einer der größten, wenn nicht der größte aller Komponisten war, und Chopin hat außer eigenen Werken nur ein paar Beethoven-Sonaten und das Wohltemperierte Klavier gespielt. Noch heute sind sich die meisten Profis einig, daß es kaum etwas Höherwertigeres als Bachsche Musik gibt. Und das hat nichts damit zu tun, zufällig "Fan" von ihm zu sein, sondern läßt sich objektiv durch das handwerkliche Können des Herrn Bach begründen. Wo alle Welt sagt, daß es aber nicht nur Kunstfertigkeit alleine war, die ihn auszeichnete, sondern darin auch immer Ausdruckstiefe und Lebendigkeit liegen, sollte man vielleicht einfach schweigen, wenn man das nicht nachvollziehen kann. Denn Romantiker gegen Bach ausspielen zu wollen, ist ziemlich albern angesichts der Tatsache, daß wir die Wiederentdeckung Bachs einem Romantiker verdanken, nämlich Mendelssohn. Und wenn Brahms den Bach für dröge und die Romantik für fortgeschrittener gehalten hätte, hätte er wohl die Chaconne nicht für einhändiges Klavier bearbeitet, um dazu zu bemerken: "Wenn ich mir vorstelle, ich hätte das Stück machen, empfangen können, ich weiß sicher, die übergroße Aufregung hätte mich verrückt gemacht." Wenn man diese Bach-Bewunderung nicht teilen kann, die sich bei allen großen Komponisten findet (Mozart z.B. hat Fugen des WTK für Streichtrio bearbeitet), sollte man besser nicht davon ausgehen, daß das am Herrn Bach liegt.
Dafür, daß neben Ashkenazy etliche andere Pianisten wenig oder gar nicht Bach spielen, mag es jeweils verschiedene Gründe geben, so wie Gould seine Gründe hatte, keinen Chopin zu spielen. Daß den einen dieses, den anderes jenes reizt oder nicht reizt, ist legitim, es gibt keine Verpflichtung, alles zu spielen.
Nicht einsehen zu wollen, daß kaum jemand so viele verschiedene Interpretationsweisen erlaubt wie der Herr Bach, verwundert mich, weil es ja nun wahrlich offensichtlich ist. In einer Chopinschen Mazurka gibt es eigentlich immer EIN "richtiges" Tempo, die Variationsbreite ist jedenfalls begrenzt, und man kann eine Mazurka nur auf dem Klavier, nicht auf dem Cembalo und schon gar nicht auf der Orgel spielen, man kann sie auch kaum für andere Besetzungen bearbeiten, ohne daß sie ihren Reiz verliert oder gänzlich banal wird. Mit Bachscher Musik kann man so ziemlich alles machen, man kann sie in sehr verschiedenen Tempi und sehr verschiedenen Bearbeitungen, sogar noch auf dem Akkordeon, spielen, man kann sich ihr in historischer Spielweise oder, wie in den Bearbeitungen Busonis, romantisch nähern, ohne daß sie irgendetwas verliert. Es ist eine Musik, die man nicht zuschanden reiten kann, egal wie man sie spielt.