Lernkurve bei einem Stück

Dabei seit
11. Apr. 2007
Beiträge
3.806
Reaktionen
1.418
Hallo,

ich beobachte immer wieder bei mir, dass ich keine linear ansteigende Lernkurve beim Erarbeiten von Stücken habe, im Gegenteil. Oftmals geht der Anfang ziemlich leicht, es stellen sich erste Erfolge ein (das Thema klingt schon :D ).
Dann verfeinert sich meine Wahrnehmung, ich habe genauere Vorstellungen wie es klingen soll und plötzlich erscheint der Weg viel weiter und steiniger als vorher.
Ich habe sogar das Gefühl, dass ich es vorher schon besser spielen konnte, und gewissermaßen ein Stück zurückgeworfen wurde. Ganz aktuell war das bei Rachmaninoff g-moll Prelude der Fall. Ich muss wieder Stellen üben, die vorher gingen und es tun sich Probleme auf, wo vorher keine waren. Manchmal rückt dann die Beherrschung des Stücks (scheinbar?) in weite Ferne.

Kennt das jemand oder werdet ihr einfach jeden Tag besser und irgendwann klappts? :)

lg marcus
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Ich habe ähnliche Erfahrungen. Manchmal hakt es an Stellen, die vorher gingen.
Das ist zwar etwas frustrierend, scheint mir aber ein natürlicher Vorgang des Lernens/Erarbeitens zu sein.
Letztlich geht es ja doch voran, und irgendwann klappt es. Mit diesem Wissen mache ich mir nicht allzu viel aus solchen vorübergehnden Rückschritten.
Außerdem bemerke ich deutliche Unterschiede in der Tagesform. An manchen Tagen läuft es prima, es geht voran, an anderen hakt und hängt es.
 
Meine Erfahrung scheint anfangs paradox:

seit 30 Jahren spielte ich als Autodidakt ohne Notenkenntnis Gitarre und Bass. Rückblickend empfindende ich diese Zeit als eine lineare Lernkurve.
Auch Spiel-Pausen von ein paar Jahren haben dort nur unwesentliche Leistungs-Einbrüche hinterlassen.
Allerdings habe ich mir nie Ziele gesetzt und "relaxed" gespielt.

Seit 9 Monaten versuche ich mit starker Motivation (mind. 2 Stunden täglich üben) mit professionellem Unterricht, (60 min pro Woche) intensiv Klavier zu lernen.
Und hier mache ich das gleiche Wechselspiel durch, wie meine erfahrenen Vorredner.
Ich habe ein schwieriges Referenzstück, an dem ich mich immer wieder messe.
Aber dann kommen diese kleinen, fast unbemerkten Verbesserungen, die mich für die stundenlange Quälerei belohnen.

Wenn ich aber zurücktrete, und alles mit etwas Abstand betrachte, scheint sich die Kurve im Trend zu glätten. Und der Trend geht bergauf.

Für mich ist die Lernkurve "fraktal" selbst-ähnlich wie eine Börsenkurve, von der kein Experte sagen kann, ob es sich um einen Jahres- oder Tagesausschnitt handelt, den man betrachtet.
Aber der langfristige Trend ist entscheidend. Und danach versuche ich mich zu beurteilen.

Der Tag scheint irrelevant.

Gruß, Reiner
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:

Hallo marcus,

allem vorweg: bitte (!!!) betrachte die nachfolgenden Überlegungen nicht als Kritik oder gar Affront. Ich greife einfach Deine oben zitierte Formulierung als Aufhänger auf, und versuche, etwas klar zu machen (in der Hofnung, dass mir das gelingt).

Das ungleiche Brüderpaar Thomas und Chrtistian Buddenbrook bietet in Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks manchen Anlaß, teils erheitert, teils nachdenklich zu schmunzeln. In der fiktiven Realität des Romans ist es der praktische und sachliche Thomas, der es zum Konsul bringt - sein ästhetisch angefixter, zum karikaturistischen neigender Bruder Christian hingegen versagt. Das führt zu allerlei Streit, u.a. wirft Thomas seinem Bruder vor, dass dessen hypochondrische Beschwerden sowie sein Versagen im praktischen Leben einzig die Folgen seiner widerwärtigen Selbstbeobachtung seien.

Innerhalb der Erzählung ist das wohl ungerecht und auch nicht ganz richtig, denn Christian krankt an seiner Generation und sozialen Umwelt, findet aber keine Möglichkeit, dies produktiv umzusetzen - er kann nur leiden, jammern, prassen und karikieren.

Aber außerhalb der fiktiven Realität dieses (unbedingt lesenswerten!!) Romans ist das Misstrauen gegenüber der "Selbstbeobachtung" gar nicht so falsch! Warum sollte man sich mit so unnützen Fragen plagen, ob man dieses oder jenes schon könne, oder schwanke - - kurzum: warum das eigene Lernen ständig von außen bewerten? Sinnvoller ist, sich nicht auf "wie klappt das denn schon" (distanzierte Außensicht) zu kaprizieren, sondern sich auf das "wie klingt es schon" zu konzentrieren. Also weniger sich selbst bzw. das eigene Tun, als mehr den eigenen Klang beobachten. Denn Musik muß man mitfühlen, miterleben.

Gruß, Rolf

(ich hoffe, ich hab´s verständlich machen können)
 
Offenbar bin ich nicht so alleine mit meiner Beobachtung :) das ist ja immerhin tröstlich

@Rolf: dass zu viel Kontrolle nicht förderlich ist, kommt einem erstmal paradox vor. Schließlich wird man unzählige Stunden vergeuden, wenn man nicht Fehlerquellen findet und sie behebt. Außerdem scheint mir eine ständige Neu-Justierung des Ziels erforderlich zu sein.

Wenn ich das richtig verstehe, plädierst du für eine entspanntere Haltung gegenüber den Fortschritten beim Üben. Etwa nach dem Motto: Früher oder später stellt sich der Erfolg ein, man sollte ihn aber nicht zwanghaft an sich bringen wollen. Trifft es das in etwa?


Mein Lösungsweg bei diesen Rückschlägen sieht übrigens so aus, dass ich nochmal langsam übe und sehr genau darauf achte, wann ich mit dem Klang zufrieden bin (am Anfang ist man oft zufrieden mit dem Abspielen der Noten!!!).

lg marcus
 
@Rolf: dass zu viel Kontrolle nicht förderlich ist, kommt einem erstmal paradox vor. [/QUOTE]

na ja - wer z.B. sein Jogging-Pensum im Lauf von z.B. einem Monat von 5km in 30min auf 10km in 50min steigern möchte, der sollte während dieser allmählichen Steigerung nicht permanent auf die Stoppuhr schauen und sich von dieser zu sehr ablenken lassen - - vielleicht ist es mit diesem Vergleich etwas besser ausgedrückt.

Gruß, Rolf
 
Hier wurde mal treffend gesagt,die klangvorstellung macht die bewegung. und genauso ist es beim üben.

gru´ß aus florida
 
- kurzum: warum das eigene Lernen ständig von außen bewerten? Sinnvoller ist, sich nicht auf "wie klappt das denn schon" (distanzierte Außensicht) zu kaprizieren, sondern sich auf das "wie klingt es schon" zu konzentrieren. Also weniger sich selbst bzw. das eigene Tun, als mehr den eigenen Klang beobachten. Denn Musik muß man mitfühlen, miterleben.

Hallo,

diesen Hinweis empfinde ich als sehr wertvoll.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der selbstfabrizierte Zwang, ständige Übefortschritte zu erreichen - verbunden mit peinlicher Selbstbeobachtung - jede Freude am Musizieren erstickt. Helfen kann dagegen anscheinend wirklich nur die Konzentration auf den Klang, die einen lebendigen Kontakt mit der Musik wiederherstellt.

Viele Grüße
Clavifilius
 
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der selbstfabrizierte Zwang, ständige Übefortschritte zu erreichen - verbunden mit peinlicher Selbstbeobachtung - jede Freude am Musizieren erstickt. Helfen kann dagegen anscheinend wirklich nur die Konzentration auf den Klang, die einen lebendigen Kontakt mit der Musik wiederherstellt.

Zunächst: Ein super Gedankenaustausch. Vielen Dank für den Anstoß, marcus.

Clavifilius hat sehr schön und treffend formuliert. Da kann ich mir ne große Scheibe abschneiden. Ich denke dennoch, dass ein gesundes Maß an Ehrgeiz angebracht ist, um doch effektvoller üben zu können, dadurch bleiben dann auch Fortschritte nicht aus.

Beste Grüße von Madita
 
Ich bin gerade sehr sehr beeindruckt, dass hier das in Worte gefasst wurde, was genau den Kern trifft.
Hat mir wieder ein Stück weit die Augen geöffnet.

Ich habe gerade meinen Beitrag zum Thema, den ich geschrieben hatte, gelöscht, weil mir gerade bewusst geworden ist, dass meine Schwerpunktlegung oft total verkehrt war. In gewisser Weise kann sich somit manches erklären...
Es erklärt auch so einige Enttäuschung.

Ich bin froh, dass ich in dieses Thema hier hineingeschaut habe.
Danke.
 
Gute und motivierende Beiträge! Just my 5 Cents: In allen kreativen Tätigkeiten ist die "Qualitätskurve" mit der Zeitdauer ansteigend, jedoch ausgeprägt sägezahnartig. Bei welcher Abbruch man den "Biss" verliert, hängt vom einzelnen Charakter (Fleiß/Gelassenheit) ab.
 

Zurück
Top Bottom