Klavierunterricht für erblindete Frau?

A

ag2410

Guest
Hallo,
ich hätte mal eine Frage!
Mich hat vor ein paar Tagen eine Frau angerufen. Sie ist 40 Jahre alt und seit einigen Jahren erblindet. Als Kind hat sie kurz Klavier gespielt, aber alles vergessen. Sie möchte gerne daß ich sie unterrichte (Hausbesuch), aber ich habe leider überhaupt keinen Plan, wie ich das machen soll. Sie hat ein Keyboard, sollte ich noch erwähnen.
Sie selber sieht das sehr locker, meint "daß wir das schon zusammen hinkriegen". Aber ich möchte doch nicht ganz unbedarft an die Sache rangehen. Gibt es Literatur dazu? Oder kann mir jemand Tips geben?

Vielen Dank im voraus!
Antje
 
Hallo Antje,

Tips habe ich keine, aber grundsätzlich mußte das möglich sein: Bei uns im Ort wurden vor einigen Jahrzehnten regelmäßig Konzerte blinder Pianisten veranstaltet. Die Programme waren durchaus anspruchsvoll (ich kann mich noch an Rachminoffs Polichinelle) erinnern, insofern dürfte die Blindheit selbst kein unüberwindliches Hindernis sein. Und Noten gibt es offensichtlich in Blindenschrift, s. z.B.

DBSV - Tour de Braille: Braille Notenschrift,

www.dbsv.org/.../tour.../blindenschrift.../braille-notenschrif... - Im Cache
Was viele nicht wissen: Nicht nur die Blindenschrift, sondern auch die Blindennoten wurden von Louis Braille entwickelt. 1809 unweit von Paris geboren, ..

Am besten, mal im Netz etwas recherchieren.

Viel Erfolg, auch für Deine potentielle Schülerin!

LG

Pennacken
 
Vermutlich war der hier gemeint.:
DBSV - Tour de Braille: Braille Notenschrift

Braille-Musikschrift, Braille-Notenschrift, Blindenmusikschrift / www.fakoo.de: Hier gibt's noch 'ne übersichtliche Erklärung, wie's funktioniert.

Da ich mir bei normalem Notentext schon unheimlisch schwer damit tue, mich beim Spielen von den Noten zu lösen oder auch ein Prase zu lesen und dann ohne Blick auf die Noten zu spielen, finde ich es schon erstaunlich, dass es möglich ist, auf diese Weise Stücke -auch komplexere- zu erarbeiten. Aber es scheint ja zu gehen.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Auch hier.

Justin Kauflin in der Library of Congress. Hauptsächlich geht es um Noten für blinde Menschen und moderne Techniken etc.

 
Auch hier.

Justin Kauflin in der Library of Congress. Hauptsächlich geht es um Noten für blinde Menschen und moderne Techniken etc.


Sicherlich ein zeitloses Thema - aber schon bemerkt, dass dieser Faden am 31. Juli 2011 erstellt wurde? Zumindest darf man hoffen, dass es eine Möglichkeit gab, der erblindeten Wiedereinsteigerin weiterzuhelfen. Vielleicht hat die heute noch regelmäßig mitschreibende Erstellerin dieses Fadens Lust und Zeit, von ihren Erfahrungen zu berichten?

LG von Rheinkultur
 
Ja hatte ich bemerkt, aber man muss ja nicht immer einen neuen Thread aufmachen.
Ich hatte extra per Suchfunktion einen passenden Thread gesucht.:zunge:
Das Handicap werden noch mehr Menschen haben.
 
Hallo!
Ich habe beim Überfliegen der Forumsübersicht gedacht: Den Threadtitel kenne ich doch :-)

Ich schildere kurz, wie es so läuft (nicht viel Zeit):
Es war sehr von Vorteil, dass sie als Kind noch als Nichterblindete zwei Jahre Klavierunterricht hatte. So konnte sie sich an manches erinnern (Notenwerte/Lage der Noten auf Klavier/etc.).
Trotzdem hat sie sich kleine Erhebungen jeweils auf die Cs und Fs gemacht, damit sie sich leichter zurechtfindet.
Es ist hilfreich, wenn sie Stücke lernt, die sie kennt. Die Melodie hat sie schon im Kopf, und die Begleitung setze ich zusätzlich in einem Schema, dass sie keine großen Sprünge machen muss, da liegt natürlich die Schwierigkeit in der Orientierung.
Ich diktiere ihr am Anfang das Stück (Taktart/Schema, zB. keine Akkorde, oder nur Akkorde/Besonderheiten), erst schreibt sie die rechte, dann die linke Hand auf (Braille-Schreibmaschine).
Dann spiele ich das Stück mehrfach vor, auch einzeln, und erkläre.
Dann spielt sie erst die rechte Hand, gleichzeitig liest sie die Schrift, und ich helfe ihr dabei.
Die Stunde ist zwar die Anstrengendste, aber auch die interessanteste und auch für mich sehr bereichernd. Es ist wirklich bewundernswert, wie sie die beiden Hände einzeln merkt, und dann zusammenfügt. Eine gigantische Denkleistung!
Sie wollte sich Noten in Brailleschrift zulegen, aber diese scheinen recht teuer zu sein. Und natürlich umfangreich.

Danke @gastspiel , ich werde das Video angucken, wenn ich Zeit und Ruhe haben!

LG Antje
 
Mich beeindruckt sehr, dass sie anscheinend seit 4 Jahren (!) dabei geblieben ist und Stücke durch nachspielen lernt. Es ist doch bestimmt sehr mühsam für sie.

Wenn Du möchtest, beschreibe sie doch ein bisschen. Ist sie vom Charakter her robust, dass sie so hartnäckig dabei geblieben ist? Was ist ihr Beruf? Warum spielt sie überhaupt Klavier, ist sie denn sehr musikalisch? Wie ist Eure Bindung? Und wie ist ihr Klavierklang: hört sie denn feiner und spielt sie dadurch feiner oder (da sie erst als Erwachsene erblindet ist) doch eher so ähnlich wie wir Sehenden? Wie hat sich im Verlauf der letzten vier Jahre ihr Orientierungssinn am Klavier entwickelt?

Das interessiert mich ja besonders, denn ich baue seit etwa 2 Jahren immer wieder (wie ich schon öfter erwähnte) diese blinden Übeeinheiten ein, gerade auch bei Sprungfolgen oder schwer zu treffenden Arpeggien. Gerade wenn ich wirklich die Augen verbinde und eben nicht zwischendurch blinzeln kann, "verbreitert" sich nach etwa 10 min meine räumliche Wahrnehmung. Das fühlt sich sehr interessant und angenehm an. So, als ob vorher ein großer Teil des Gehirns quasi durch die visuelle Information "belegt" war und nun "frei" wird für das Lageempfinden. Lustigerweise dauert es jedes Mal in etwa die gleiche Zeit, um von visuell gestützter Orientierung in propriozeptiv gestützte Orientierung zu wechseln. Das Üben gerade von Sprungstellen ist zunächst extrem frustrierend und gelingt nur teilweise, außerdem verbessere ich mich an dem Tag nur wenig. Der positive Effekt zeigt sich erst ein bis drei Tage später, dann fühlt sich die Stelle auf natürliche Weise deutlich sicherer an. Und, was noch wichtiger ist: das Lageempfinden hat sich über die Monate insgesamt deutlich verbessert. Gerade sehr gute Blattspieler (was auf mich nicht zutrifft) haben ein sehr gutes Lageempfinden und schauen nur noch bei Sprüngen auf die Tasten.
Hach, interessantes Feld! Da würde ich glatt ein paar Jahre dran forschen wollen und eine kleine feine Doktorarbeit drüber verzapfen. Leider brotloses Streben.
 
Du verbindest deine Augen? Cool, das mach ich jetzt beim parnassum. Ich guck an sich nicht mehr bewusst, aber bei Sprüngen schielt man mal auf die landungszone, wenn auch mehr intuitiv. Klingt spannend! Schult ja auch das gehör, da man sich alles vorstellen muss und nicht bei Unsicherheiten die fingerlage erspähen kann, cool! Dickes like!

Lg lustknabe
 

@Herzton
Es macht ihr sehr viel Spaß, und ich denke, es ist willkommene Ablenkung für sie, da sie alleine lebt. Sie ist recht ehrgeizig, aber hat durch ihre Berufstätigkeit oft keine Zeit zum Üben.
Sie merkt sofort, wenn sie einen Fehler macht, oder einen Akkord falsch spielt. Sie hat ein sehr gutes Gehör für Harmonien, was, denke ich, auch für Blinde nicht selbstverständlich ist.
Sie ist "lagentechnisch" mit den Jahren immer sicherer geworden.
Wir haben einen ähnlichen Sinn für Humor, und hocken manchmal giggelnd am Keyboard, weil sie oder ich einen Witz gemacht hat. Sie lacht sehr gerne über sich, ich über mich, und daraus ergeben sich manchmal sehr nette Situationen.
Meist unterhalten wir uns nach der Stunde noch länger. Sie ist ein tiefsinniger Mensch.
Aber: Sie hat auch - im übertragenen Sinn - zeitweise dunkle Phasen, in denen sie die Stunden absagt. Sie neigt zu depressiven Verstimmungen, und manchmal merke ich dann, wenn sie die Stunde trotzdem nimmt, dass sie verständlicherweise kaum aufnahmefähig ist. Dann lasse ich locker, erzähle zwischenrein vom Komponisten, von der Band (je nachdem was sie gerade spielt), oder anderes.

Übrigens leite ich Anfänger dazu an, einfachere Stücke mit geschlossenen Augen zu spielen. Damit ernte ich erst erstaunte Blicke, aber man merkt, dass die Schüler beim Üben nicht mehr so sehr auf die Tasten gucken. Es ist wichtig, von Anfang an darauf zu achten, dass die Augen zwischen Noten und Klavier nicht zu sehr hin- und herschweifen, sondern auf dem Notenblatt bleiben. Denn bei schwierigeren Stücken weiß der Schüler u.U. dann nicht mehr, wo er zuerst hinsehen soll.

LG Antje
 
Es ist bewegend, wie Du über sie sprichst. Ihr habt anscheinend eine vertrauensvolle Bindung entwickelt, was ich stark finde. Auch dass Du mit ihrer "dunklen Seite" so pragmatisch umgehst, ist toll.

Gerade letztes Wochenende hatte ich Gelegenheit, mit einer Klavierlehrerin über ihre Schüler "mit Handicap" zu sprechen. Was hat sie doch von oben herab gesprochen. Immer ging es nur darum, dass diese Schüler nicht die gleichen Fortschritte machen, wie andere, dass sie ja nie werden vorspielen können und so schrecklich anstrengend seien, quasi eine Zeitverschwendung. Ich würde mich nie von ihr unterrichten lassen, obwohl wir sogar privat befreundet sind. Aber am Klavier ist so jemand sehr demotivierend, ich hätte bei jedem Fehler Komplexe. Manche Lehrer unterlegen ihre Kritik emotional mit einem Vorwurf, die Guten schaffen es, konstruktiv zu kritisieren und eine Entwicklung anzustoßen.
 
Gerade letztes Wochenende hatte ich Gelegenheit, mit einer Klavierlehrerin über ihre Schüler "mit Handicap" zu sprechen. Was hat sie doch von oben herab gesprochen. Immer ging es nur darum, dass diese Schüler nicht die gleichen Fortschritte machen, wie andere, dass sie ja nie werden vorspielen können und so schrecklich anstrengend seien, quasi eine Zeitverschwendung.
Die dunkle Seite der Instrumentalpädagogik also - sofern man da überhaupt von Pädagogik sprechen kann, zu deren prägenden Elementen ja gerade das geduldige Vermitteln gehört. Eigentlich sollte es so sein, dass die Lehrkraft zu ihrer jeweiligen Aufgabe ja sagt oder eben nicht.

Vergleichbare Erfahrung: Mehrere Jahre lang habe ich einen A-Cappella-Popchor geleitet und mit diesem auch an Leistungssingen erfolgreich teilgenommen. Wir waren sogar stolz darauf, zwei an multipler Sklerose erkrankte Sängerinnen in unseren Reihen zu haben, deren Energie und Ausdrucksstärke von den körperlich gesunden Mitsänger(inne)n wahrgenommen und als Bereicherung empfunden wurde. Viele der Arrangements waren mit Choreografien versehen und es gelang stets, alle Beteiligten ins Geschehen einzubinden. Viele Menschen "mit Handicap" sind das Kämpfen um ihr Fortkommen gewohnt und legen sehr großen Wert darauf, auf Augenhöhe mit ihren Mitmenschen zu bestehen, denen die Natur ein günstigeres Schicksal zugedacht hat. Und Hand aufs Herz: Wer kann schon mit Sicherheit ausschließen, selbst einmal durch Unfall oder Krankheit auf fremde Hilfe angewiesen zu sein? Natürlich soll nicht verschwiegen werden, dass es unangenehmere Zeitgenoss(inn)en gibt, die sich mit demonstrativ zur Schau gestellter Gebrechlichkeit persönliche Vorteile erschleichen. In Laienchören kennt man so seine Pappenheimer, die sich ihrer Teilnahmeverpflichtung an Proben und Auftritten mit fadenscheinigen Verweisen auf hohes Alter und angegriffene Gesundheit entziehen, aber fit genug sind, dauernd in Urlaub zu fahren und sich da auch körperlich zu betätigen. Es gilt also, jeden Menschen mit seiner individuellen Persönlichkeitsstruktur zu begreifen und bei in der Gruppe ausgeübten Tätigkeiten bestmöglich einzubinden. Oft verlaufen erfolgreiche Entwicklungen nachhaltiger, wenn man gelernt hat, Hindernisse zu überwinden und Schwierigkeiten zu meistern. Schade, dass die im Beispiel genannte Kollegin da große Erkenntnisdefizite hat.

LG von Rheinkultur
 
Auch bei Blinden scheint es keine wirklichen Grenzen am Klavier zu geben.
Hier der zur Zeit wohl beruehmteste blinde Pianist Nobuyuki Tsujii:

Er scheint sich besonders auch fuer eine Kommunikation der schriftlichen Partitur einzusetzen, da es fuer Blinde beim Spielen nach Gehoer schwierig ist, eine eigene Interpretation zu entwickeln, die sich an der Verschriftlichung durch den Komponisten orientiert.
Jannis
 
Ja, ich kenne seine Aufnahmen. Ein Phänomen. Und ein tolles Beispiel für im wahrsten Sinne des Wortes "audiomotorisches Lernen", ein Begriff, den ich übrigens nicht kannte (ist das nicht verrückt?), sondern erst hier durch Hasenbein davon erfuhr.
Ich liebe auch die Videos, in denen er als Kleinkind gezeigt wird. Als er zwei Jahre alt war, sang ihm die Frau (Mutter?) eine Melodie vor. Der Bub haut mit je einem Finger rechts und links recht zappelig auf die Klaviatur und spielt im Wesentlichen korrekt die Melodie mit. Sehr schön.
Und was aus ihm geworden ist! Er hat auch Glück, dass er für das Klavier genau die richtigen Hände hat: weich, schlank, groß aber nicht zu groß. Dann seine große lyrische Begabung.


 

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