"Klassik-Melodienraub" in der Popmusik

Einer der wichtigsten deutschen Kulturträger, nämlich Freddy Dreck, äh, Breck, hat ganz besonders fleißig die Highlights des 19. Jahrhunderts abgefrühstückt:
Freddy Breck - Bianca 1973 Video - rosy3 - MyVideo
Freddy Breck - Rote Rosen 1973 Video - fritz0151 - MyVideo
Freddy Breck - Die Sonne geht auf 1974 Video - fritz0151 - MyVideo
Freddy Breck - Halli-hallo 1974 Video - fritz0151 - MyVideo

Wenigstens hat er auf gemeinfreiem Terrain geklaut, da Franz von Suppé, Giuseppe Verdi & Co. zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon sieben oder mehr Jahrzehnte zuvor verstorben waren und sich somit auch nicht mehr gegen besondere Interpretationen ihres Lebenswerks wehren konnten...
 
Zitat von opus22
Schon Schuman hat sich beim Meister ispirieren lassen und es meines Wissens auch nirgendwo erwähnt:

J.S. Bach Freu' dich sehr, o meine Seele BWV 39 Klaas Hoek harmonium, reed organ - YouTube

Jörg Demus plays Schumann Album für die Jugend Op.68 - 4. Ein Choral - YouTube

Zitat von Axel
Wobei es sich dabei um einen gängigen ev. Choral handelt, den nicht JSB erfunden hat.
Grüße
Axel

Das bedeutet also, dass selbst JSB sich schon an fremder Tonkunst bedient hat?
Weißt du vielleicht welcher Geist diesen Choral zuerst "empfangen" hat?

Viele Grüsse

opus..........
 
Das bedeutet also, dass selbst JSB sich schon an fremder Tonkunst bedient hat?
Weißt du vielleicht welcher Geist diesen Choral zuerst "empfangen" hat?

Einen Komponistennamen oder geographische Herkunft kann ich nicht nennen. Aber in einem Choralbuch steht als Jahreszahl 1505 und 1551/1572 als erstes Jahr der Melodieverwendung im geistlichen Kontext. Damit dürfte sich auch Johnny B. an die heute üblichen Fristen für die Verwertung gehalten haben. Die Verwendung der Kirchenlieder im Rahmen von Choralbearbeitungen, sei es für Orgel oder in Kantaten etc., würde ich aber nicht gerade als Melodienraub bezeichnen, das ist eher übliche Praxis der Kirchenmusik.
 
Die Verwendung der Kirchenlieder im Rahmen von Choralbearbeitungen, sei es für Orgel oder in Kantaten etc., würde ich aber nicht gerade als Melodienraub bezeichnen, das ist eher übliche Praxis der Kirchenmusik.
...und das nicht nur in sakraler, sondern auch in weltlicher Musizierpraxis. "Kontrafaktur" war nicht nur in früheren Jahrhunderten gang und gäbe - und immer gab es dabei diverse Grenzüberschreitungen: Das sakrale "O Welt, ich muss dich lassen" wird dann zum eher weltlichen "Innsbruck, ich muss dich lassen". In späteren Jahrhunderten ist dieses Verfahren zu allen erdenklichen Gelegenheiten praktiziert worden; das im 19. und 20. Jahrhundert verbreitete "politische Lied" nutzte dauernd solche Assoziationsmomente, sogar über politische Lagergrenzen hinweg. "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" mag vielen unter dem Titel "Rotgardistenmarsch" eindeutig "linken" Strömungen zuzurechnen sein - dass das gleiche Lied bei der ******-Bewegung unter "Brüder in Zechen und Gruben" beliebt war, ist vielleicht weniger bekannt. Das politisch radikal positionierte Liedgut (Rechtsrock, nationalistische Liedermacherszene) nutzt dieses Gestaltungsmittel bis auf den heutigen Tag konsequent: Bekannte, einprägsame Muster und Anknüpfungspunkte eignen sich gut für den Transport propagandistisch motivierter Botschaften - was diese Musikgattung auch so gefährlich macht. Bis in die Kunstmusik hinein (Eisler) gibt es den Rückgriff auf in anderem Kontext bekannte Muster - ohne damit aber "Gebrauchsmusik" schaffen zu wollen. Fazit: Es wird also mitunter keineswegs nur geklaut, sondern auch schon mal mit hintergründiger Absicht zitiert oder verfremdet. Bei Bruce Lows "Deck of cards" wird nicht nur eine Geschichte mit zahlenmystischem Einschlag erzählt, sondern mit dem im Hintergrund laufenden Bach'schen Air aus der 3. Orchestersuite D-Dur auch eine jedem verständliche Klangstimmung erzeugt: Bruce Low - Das Kartenspiel - YouTube

So sind wir auf Umwegen wieder bei JSB angelangt. Als Urheber des choraliter verarbeiteten "Freu dich sehr, o meine Seele" wird mitunter ein Christoph Demantius (1620) erwähnt, wobei die Quellenlage in damaliger Zeit immer mit Vorsicht zu genießen ist...
 
Haha, Bach hat bekannte Kompositionen bearbeitet, weil sich diese Stücke bei der Herde bewährt haben und im religiösen Kontext dazu beitrugen, die Schäfchen beisammenzuhalten ohne sie mit zuviel neuem zu überfordern.
Heute wird in einem anderen, genauso religiösen, nämlich konsumgesellschaftlichem Rahmen nach dem gleichen Prinzip produziert.
Bekannte, schon mal gehörte Musik wird wiederverwendet, weil sie sich in der Vergangenheit bewährt hat, und dieses nicht mit dem Risiko verbunden ist, Abneigung beim Konsumenten hervorzurufufen, wie es bei neuem unbekannten Material möglicherweise der Fall wäre.
Andererseits stellt sich die Frage, wieviele Kompositionen in welcher Form auch immer es heute geben würde, wenn sowohl Komponisten als auch Rezipienten und Interpreten sich dem Anspruch verschrieben hätten, nur Origilale zu komponieren, rezipieren oder interpretieren. Wenn man bedenkt, dass Literaturhistorisch betrachtet nicht einmal 1% aller Weke Originalberichte sind, die als Blaupause für alles andere dienten, sähe es ohne epigonale Kompositionspraxis wohl weitaus leerer aus in unserer geliebten Welt der Klänge.
 

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