Gibt es überhaupt einfache Stücke?

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Dr. Schlonz

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8. Okt. 2020
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Hallo liebes Clavio Forum,


dies ist mein erster Beitrag in diesem Forum. Ich bin ein 36jähriger Wiedereinsteiger (spiele seit einem halben Jahr wieder regelmäßig inkl. sporadischen Klavierunterricht) und hatte während meiner Kindheit/Jugendzeit mehrere Jahre Unterricht, bin damals aber (so denke ich zumindest heute) aufgrund mangelnder Motivation unter meinen Möglichkeiten geblieben. Deshalb fehlen mir aktuell wünschenswerte Grundlagen. Seit einiger Zeit geistert mir eine Frage im Kopf herum, welche ich gerne an Euch erfahrene Pianisten stellen möchte:

Gibt es überhaupt einfache Stücke?

Damit meine ich nicht die rein technische Schwierigkeit, ein Stück zu spielen, sondern die Schwierigkeit, dass ein vorgetragenes Stück sich wirklich gut anhört und anderen Vergnügen bereitet.

Ich denke nein, aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.

Als Beispiel habe ich zwei Einspielungen von mir angehängt. Sowohl beim Präludium C-Dur als auch beim Chopin Nocture habe ich versucht, mich an bekannten, für mich schön klingenden Einspielungen von Lang Lang anzunähern. Natürlich ist es lächerlich, sich als Amateur mit der Weltelite zu vergleichen. Aber da der Vergleich so leicht durchführbar ist und viele Leute, v.a. solche mit geschultem Gehör, professionelle Einspielungen in ihrer Vorstellung haben, findet dieser Vergleich (besser gesagt Abgleich) automatisch im Unterbewusstsein statt.

Es ist für mich undenkbar, als (unter-)durchschnittlicher Amateur selbst bei technisch einfachen Stücken wie dem Präludium dieselbe Ausdruckstärke, den möglichen Dynamikumfang, die gebotene Gleichmäßigkeit oder die denkbare Leichtigkeit wie sehr gut ausgebildete Amateure / Profis hinzubekommen. Wenn ich mir meine eigenen Einspielungen anhöre, fallen mir nur Unregelmäßigkeiten, kleine Fehler und Unsauberkeiten auf und es ist für mich das konsistente und große Ganze nicht erkennbar.

Kann man als (unter-)durschnittlicher Amateur selbst leichte Stück wirklich schön spielen? Oder müsste man für dieses Niveau so viel üben (bzw. in der Jugendzeit geübt haben), dass man dann schon automatisch ein sehr gut ausgebildeter Amateur sein würde? Mit anderen Worten: Ist der Zug schon abgefahren bzw. ist das erforderliche Niveau selbst bei technisch einfachen Stücken für durchschnittlich begabte und durchschnittlich motivierte Amateure überhaupt erreichbar?

Eine Bestätigung meiner Annahme würde mir insoweit helfen, dass ich zufrieden einfach für mich selbst spiele und nicht mehr (unbewusst) einem Phantom hinterherjage. Weiterhin werde ich niemanden mehr mit meinen Aufführungen belästigen...

Freue mich auf eure Antworten!

Viele Grüße
Dr. Schlonz

P.S.: die Aufnahmen wurden digital am Kawai CA-98 (Pianist Modus) im WAV Format abgespeichert und am Rechner in mp3 umgewandelt. Ich habe die Aufnahmen nicht eingestellt, um hier aufmunternde Worte zu bekommen, dafür bin ich zu sehr Realist :) Übezeit seit einem halben Jahr ca. 5mal die Woche für 30min / Tag (zumeist am Abend).
 

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Lieber Dr. Schlonz,

Das sind eigentlich zwei Fragen, die du hier stellst, ich formuliere sie leicht um:

1. Kann man auch bei einfach(st)en Stücken hören, ob der Interpret auf hohem professionellen Niveau ausgebildet ist?
2. Kann jemand, der nicht auf hohem professionellem Niveau ausgebildet ist, schön, berührend, "künstlerisch wertvoll" spielen?

Die Antwort auf beide Fragen ist für mich eindeutig "ja".

Es ist nicht so leicht in Worte zu fassen, was bei 1) alles hineinzählt in diesen "Unterschied". Natürlich ist es die Dynamikbandbreite, das Gespür für Metrum und Rhythmus, die Artikulation, Phrasierung und Klangbalance. Aber es geht noch weit darüber hinaus: Es ist ein Zurücktreten vom Stück, das einen Blick auf die gesamte Form ermöglicht, und zeitgleich ein nahes Herantreten, das auch die Wahrnehmung kleinster Details und Nuancen mit einschließt - inklusive deren Auswirkungen auf das, was unmittelbar und mittelbar davor und danach steht. Das klingt vielleicht schwer verständlich oder gar mystisch, aber genau so empfinde ich es und bin mir sicher, vielen anderen Profis (und auch Nicht-Profis) geht es ähnlich.

Was die zweite Frage angeht: Um zu berühren, muss man nicht die riesige Werkzeugkiste an Pianistik angehäuft haben - auch vermeintlich top ausgebildete Pianisten langweilen mich häufig. Worum es geht: Authentizität; das Verstehen und Mit-Erleben eines Stückes, während man es spielt; Ausdruckswille. Mir geht es sogar manchmal so, dass mich ein wohlgeformtes Amateurstück mehr, oder auf andere Weise berührt wie ein polierter Pianist, weil der sich zum Teil auch hinter seinen vielgeübten pianistischen und musikalischen Fähigkeiten verstecken kann. Beim Amateur (oder auch bei Kindern) ist das nicht so, da diese selten die dafür nötige Erfahrung mitbringen. Solche Vorträge sind deshalb manchmal unmittelbarer und direkter, der Mensch und seine Gedanken werden klarer fassbar.

Das heißt natürlich nicht, dass man dir nicht zeigen und erklären kann, was dich von Lang Lang unterscheidet und wie du dich ihm annähern kannst. Dafür brauchst du guten Klavierunterricht und etwas Geduld :005:
 
Hallo Dr. Schlonz,

herzlich willkommen im Forum!

Ich versuche mal, deine Vielzahl an Fragen nacheinander zu beantworten.
Gibt es überhaupt einfache Stücke? Damit meine ich nicht die rein technische Schwierigkeit, ein Stück zu spielen, sondern die Schwierigkeit, dass ein vorgetragenes Stück sich wirklich gut anhört und anderen Vergnügen bereitet.
Ganz klar: Nein! Denn ein gut gespieltes Musikstück braucht neben handwerklich-technischem Geschick auch einen musikalisch weiten Horizont, d.h. alles, was ein Pianist jemals gespielt hat, fließt als Erfahrungsschatz (ja, Schatz!) bewusst oder unbewusst in das Spiel eines jeden Musikstücks mit ein - auch und gerade im Hinblick auf die gestalterischen Möglichkeiten.

Kann man als (unter-)durschnittlicher Amateur selbst leichte Stück wirklich schön spielen? Oder müsste man für dieses Niveau so viel üben (bzw. in der Jugendzeit geübt haben), dass man dann schon automatisch ein sehr gut ausgebildeter Amateur sein würde? Mit anderen Worten: Ist der Zug schon abgefahren bzw. ist das erforderliche Niveau selbst bei technisch einfachen Stücken für durchschnittlich begabte und durchschnittlich motivierte Amateure überhaupt erreichbar?
Ob du ein unterdurchschnittlicher Amateur bist, sei mal dahingstellt, ich finde nicht, dass du unter dem Durchschnitt der Amateure spielst. Um allerdings ein, wie du sagst, sehr gut ausgebildeter Amateur zu sein, müsstest du schon spielen wie @Pianojayjay , der ist ein Beispiel für einen sehr gut ausgebildeten Amateur.

Eine Bestätigung meiner Annahme würde mir insoweit helfen, dass ich zufrieden einfach für mich selbst spiele und nicht mehr (unbewusst) einem Phantom hinterherjage.

Das kannst nur du selbst an deinen eigenen, für dich gesetzten Maßstäben entscheiden. Meiner Meinung nach enthält dein Klavierspiel viele wirklich (!) schöne, musikalische Ansätze, aber ich merke deinem Spiel auch an, dass dir vieles nicht bewusst ist und einiges nur (falsch) intuitiv läuft. Hier könnte ein Lehrer/eine Lehrerin Abhilfe schaffen! Gönne dir doch den Luxus, dein grundsätzlich vorhandenes Talent von einem Profi entfalten zu lassen!
 
Liebe Stilblüte, vielen Dank für Deine Antwort, du kannst dich mit Worten ebenso schön und lebendig ausdrücken wie mit dem Klavier :)
...Es ist ein Zurücktreten vom Stück, das einen Blick auf die gesamte Form ermöglicht, und zeitgleich ein nahes Herantreten, das auch die Wahrnehmung kleinster Details und Nuancen mit einschließt - inklusive deren Auswirkungen auf das, was unmittelbar und mittelbar davor und danach steht...
Worum es geht: Authentizität; das Verstehen und Mit-Erleben eines Stückes, während man es spielt; Ausdruckswille.
Die beiden Zitate lasse ich jetzt mal auf mich wirken... Dieser Schritt zurück ist es, der mich vorwärts bringen könnte. Weniger den Fokus auf die Technikverbesserung zu legen, vielmehr das Stück als Ganzes auszudrücken wollen, über die ganze Länge des Stücks hinweg. Leider bin ich oftmal sehr unkonzentriert beim Üben am Abend, so dass es mir schwer fällt im Stück zu versinken.

Ganz klar: Nein! Denn ein gut gespieltes Musikstück braucht neben handwerklich-technischem Geschick auch einen musikalisch weiten Horizont...
Vielen Dank, das bestätigt natürlich meine Annahme, ohne aber im Widerspruch zum unbedingten Ausdruckwillen zu stehen. Man kann eine Darbietung ja auf mehr als auf eine Art wahrnehmen.

Ich übersetze Eure Ansichten mal in ein Kochbuch:
Also müsste man zuerst ein Stück wählen, zu welchem man einen intuitiven Zugang hat und ein Verständnis aufbauen kann. Der technische Schwierigkeitsgrad eines Stückes sollte so gewählt sein, dass genügend Puffer vorhanden ist, um den Ausdruck dann auch realisieren zu können. Erst dann könnte die Darbietung auch technische Unzulänglichkeiten verzeihen.

(...) aber ich merke deinem Spiel auch an, dass dir vieles nicht bewusst ist und einiges nur (falsch) intuitiv läuft. Hier könnte ein Lehrer/eine Lehrerin Abhilfe schaffen! (...)
Danke, den Punkt kann ich voll und ganz nachvollziehen! Bekannte Unzulänglichkeiten und unbekannte Unzulänglichkeiten... hier versuche ich auch, mir viele professionelle Einspielungen bewusst anzuhören und mit dem eigenen Spiel zu kontrastieren. Leider ist mehr / öfterer Klavierunterricht aufgrund Zeitmangel (Beruf + Familie) nicht realisierbar. Mehr als alle paar Woche geht das aktuell nicht... wenn ich mir meine Einspielungen von vor einem halben Jahr anhöre, habe ich durch meinen Unterricht schon deutliche Fortschritte erzielen können. Die Punkte, welche meine Lehrerin angebracht hat, lässt mich öfter den Kopf schütteln über den Klavierunterricht während meiner Kindheit...entweder wurde es mir nicht vermittelt oder ich konnte es nicht aufnehmen, das kann ich nicht mehr rekonstruieren. Komisch fühlt es sich trotzdem an... (Beispiel: Halten des Pedals in den nächsten Takt "hinein". Meine Klavierlehrerin hat mich vor einem halben Jahr in der ersten Stunde darauf aufmerksam gemacht, dass das Pedal nicht abrupt am Taktende vor dem Anschlag der neuen Tasten gelöst und wieder gedrückt gehört....davor hat sich mein Pedalspiel furchtbar angehört).

Aber ich habe ja keinen zeitlichen Druck...ich freue mich, noch viele solche Momente und Aha-Erlebnisse der Erleuchtung erfahren zu können :)
 
@Demian : danke für die Blumen, da gibt es aber auch noch ganz andere Beispiele im Forum...

@Dr. Schlonz : Man kann auch als "durchschnittlicher Amateur" Stücke zur Aufführung bringen und etwas zu sagen haben bzw. das Publikum berühren. Vor allem gibt es hier durchaus Überraschungen zu erleben. Besuche ich ein Konzert von Sokolov, Lang Lang oder wem auch immer, so habe ich gewisse Erwartungen. Werden diese nicht erfüllt, war es womöglich nach meiner Meinung ein "misslungenes" Konzert. Ich habe einige internationale Amateurwettbewerbe gespielt und habe dort hingegen Darbietungen gehört, die nicht nur locker mit Profis mithalten konnten, sondern die mich bis heute faszinieren. Es gibt unter den Amateuren Musiker, die es wirklich verstanden haben, worauf es in der Musik ankommt, die aber auch genau dafür leben und sich neben Beruf, Studium, Familie noch stundenlang an den Kasten setzen.... hat man vor allem als Kind/Jugendlicher hier ein gewisses Grundgerüst erlernt, so kann man später darauf aufbauen und sicherlich nach langer Pause auch Ergebnisse erreichen, mit denen man selber zufrieden ist bzw. den Menschen Freude bereiten. Bei mir ist es so, dass ich schaue, welche Werke ich mit meiner begrenzten Zeit erarbeiten möchte. Natürlich reizen mich die großen Brecher wie Liszt h-moll, Brahms f-moll etc. Aber es steht in keinem Verhältnis zu meiner Zeit, die ich habe (freiberuflicher Rechtsanwalt, nebenbei Vorsitzender des Ortsvereins des DRK / Justitiar des Kreisverbandes, verheiratet, Kleinkind....). Daher wähle ich nur Stücke aus, die ich in einem angemessenen Zeitrahmen lernen kann bzw. plane langfristig, beispielsweise für den Chopin Wettbewerb für Amateure 2021 in Warschau.
 
Am Ausdruck mangelt es, aber technisch halte ich dich für einen Amateur nicht schlecht.
 
Damit meine ich nicht die rein technische Schwierigkeit, ein Stück zu spielen, sondern die Schwierigkeit, dass ein vorgetragenes Stück sich wirklich gut anhört und anderen Vergnügen bereitet.

Anfänger-Stückchen der E-Musik wollen häufig durch virtuose Darbietung aufgewertet werden. Und dann wundert sich Otto Normalamateur, dass ausgerechnet er das nicht hinkriegt.
Ich spiele lieber U-Musik. Wenn man die technisch beherrscht, ist die musikalische Gestaltung ein Selbstläufer.
 

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