Deutsche Volkslieder

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Liebe Clavioten,

als Musiklehrer wende ich mich an euch, in def Hoffnung, ein Dilemma zu lösen. Schon lange treibt mich dieses Thema um, nun wurde es in einem Beitrag von @Pianojayjay wieder präsent:

Die NGZ online schreibt:
„Ahamd flocht Variationen über das Lied ,Die Gedanken sind frei‘ ein und freute sich unbändig, dass das Publikum fehlerfrei mitsingen konnte. Mit Schülern sei das nicht gelungen, sagte er, sie kennen keine Volkslieder mehr. Das bedeutet indirekt den Verlust der Heimat, was zum Motto des Abends passte: ,Heimat und Heimweh‘“

Eigentlich schlimm, dass im Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen deutsche Volkslieder keine Rolle mehr spielen, auch in meinem Unterricht nicht. Lateinamerikanische oder afrikanische Volkslieder dagegen kommen gelegentlich vor. Bei ihnen habe ich auch das Gefühl, gute Musik mit den Schülern zu machen (aber nur dann, wenn die Akkorde nicht nur aus Tonika, Dominante und Subdominante bestehen bzw, der Rhythmus oder der Ausdruck komplexer sind).

Von Älteren wird das Ausklammern deutscher Volkslieder ja auch gelegentlich beklagt. In Klasse 5 könnte ich mir das Singen von Volksliedern zwar vorstellen, aber selbst dort hätte ich ein merkwürdiges Gefühl dabei. Ob es an der (vielleicht nur scheinbar) simplen Machart liegt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall behagt es mir nicht, diese Musik in den Unterricht einzubauen.

Vielleicht hat ja jemand von euch eine Idee, wie man deutsche Volkslieder in einen zeitgemäßen Musikunterricht einbauen kann...?
 
Zuletzt bearbeitet:

Ich vermute, es liegt daran, dass "deutsche Vergangenheit" generell Bauchschmerzen verursacht.

Vor einigen Jahren begleitete ich eine Truppe sehr gutbürgerlicher, sichtbar bejahrter Herrschaften auf einer Bildungsreise nach Dresden. Die Busreise dauert eingestandenermaßen "ewig". Auf dem Rückweg gelang es diesen Senioren, stundenlang gemeinsam Volkslieder anzustimmen. Mehrstrophig, eins nach dem anderen. Amazing. Und irgendwie rührend...

"Historische Entwurzelung" ist ein deutsches Phänomen. Das gibt es in anderen (mir bekannten) Ländern nicht in dieser Form. Aus der historischen Entwurzelung entsteht Unsicherheit, denn selbstverständlich IST eine Kultur immer verwurzelt in der Vergangenheit. Als Deutsche fühlt man sich verpflichtet, Teile der nationalen Identität aut zu verleugnen aut zu verteufeln (die berüchtigten 12 Jahre, aus gutem Grund).

Man kappt aufgrund dieser Verunsicherung lieber einen Wurzelstrang zu viel als zu wenig.

Folgende Situation ist mehr als nur denkbar: In vollendeter Harmlosigkeit studierst Du ein schönes Volkslied ein. Irgendein engagierter Antifaschist unter den Eltern wird aus irgendeiner Quelle herausfinden, dass just jenes schöne Volkslied gern auf Treffen der Hitlerjugend gesungen wurde und in irgendeinem kleinen Liederband aus dieser Zeit steht. Ab diesem Zeitpunkt kannst Du ein echtes Problem bekommen.

wie man deutsche Volkslieder in einen zeitgemäßen Musikunterricht einbauen kann

Mach doch eine sogenannte Rap-Version von "Am Brunnen vor dem Tore". Musst voher nur erklären, was überhaupt mit dem "Tor" gemeint ist und was ein Brunnen ist. Warum das lyrische Ich sich überhaupt dort aufhält und warum es "wandern" muss, statt sich in den Bus oder Mammas SUV zu setzen. :005:
 
Zuletzt bearbeitet:
Mach doch eine sogenannte Rap-Version von "Am Brunnen vor dem Tore.
Diese Didaktik gibt es auch für Goethe-Texte, die dann gerappt werden. So etwas hat für mich aber immer etwas von Anbiederung. Aber generell halte ich die Adaption in andere Musikstile für eine gute Idee. Ich habe mal eine Jazzband gehört, die deutsche Volksliedtexte als Grundlage für eigene Jazz-Stücke genommen hat. Ungewohnt, aber sehr gelungen und überzeugend.
In diese Richtung könnte es gehen.
 
Ich glaube auch, dass unsere Vergangenheit ein Problem für die Volkslieder darstellt.

Aber wer kann von den jungen Leuten, denn auch überhaupt noch etwas mit den Texten anfangen?

Vielleicht hat ja jemand von euch eine Idee, wie man deutsche Volkslieder in einen zeitgemäßen Musikunterricht einbauen kann...?

So wie Barrat schrieb, z.B. als Rap. Oder aber auch die Melodie lassen, dafür den Text mal in eine zeitgemäße Sprache bringen.

Ich singe in einem Frauenchor und bin auch im Vorstand und wir haben uns entschieden nächstes Jahr deutsche Volkslieder und Volkslieder aus aller Welt vorzunehmen für das nächste Konzert.
Für Frauenchor gibt es seit ein paar Jahren ein wunderbares Chorbuch
Lore-Ley II mit neu arrangierten Stücken, die zum Teil wirklich erfrischend daher kommen.
Wir haben vor 2 Jahren das erste Stück daraus gesungen. Bei uns im Chor wurde auch erst einmal die Nase gerümpft. Äh, sowas altbackenes, das will dich keiner hören. Es ging um "Ein Vogel wollte Hochzeit machen" aus dem oben benannten Chorbuch. Das Stück war hinterher beim Chor und Publikum der absolute Renner.

Wenn ich an meine Schulchorjahre denke, habe ich die Volkslieder eigentlich genauso gern gesungen, wie die anderen.

Sorry, ist jetzt viel Text, der dir aber überhaupt nicht weiterhilft. Aber das Liedgut gehört zu unserer Kultur dazu und deswegen finde ich es schon wichtig, auch mit den Schülern solche Stücke durchzunehmen. Es muss ja nicht unbedingt "Das Wandern ist des Müllers Lust" oder "Hoch auf dem gelben Wagen sein"
 
Du hast den richtigen Grund schon vermutet, denn es ist genau die Situation, als deutschtümend belacht und verdächtigt zu werden wenn Volkslieder angestimmt werden.
Man kann aber als damals jung gewesener die 68er Jugend auch verstehen, dass ihnen der Kamm schwoll, wenn die noch bräunlich denkenden Altvorderen so etwas sangen.
Jetzt muss man das "Volkslied" erst einmal neu definieren.
 
Folgende Situation ist mehr als nur denkbar: In vollendeter Harmlosigkeit studierst Du ein schönes Volkslied ein. Irgendein engagierter Antifaschist unter den Eltern wird aus irgendeiner Quelle herausfinden, dass just jenes schöne Volkslied gern auf Treffen der Hitlerjugend gesungen wurde und in irgendeinem kleinen Liederband aus dieser Zeit steht. Ab diesem Zeitpunkt kannst Du ein echtes Problem bekommen.

Derlei würde ich niemals akzeptieren, denn es läuft auf eine nachträgliche Expropriierung eines Teils des ererbten Kulturgutes durch die Nazis hinaus. Bei konsequenter Anwendung des Gedankens, dass man nichts mehr anfassen dürfe, was die Nazis zu ihrer ideologischen Legitimation instrumentalisiert haben, dürfte man auch keinen Beethoven oder Brahms mehr spielen. Eine solche Einstellung ist alles andere als aufgeklärt, im Gegenteil, sie ist archaisch. Denn hinter ihr steht letztlich das alte Tabu, dass du nichts berühren sollst, was ein Deskrierter berührt hat, weil Du dich dadurch »ansteckst« und ebenfalls aus der Gemeinschaft der Rechtgläubigen ausschließst. Zum Instrument moralischer Überhebung über andere eigenen sich derlei Primitivismen wahrlich nicht.

Was die Volkslieder betrifft, scheint mir ein Problem zu sein, dass ein erheblicher Teil von ihnen gar keine Volkslieder im landläufigen, durch die Romantik geprägten Sinne sind, sondern Erfindungen oder wenigstens Bearbeitungen der Romantik und des Biedermeier, und dass die Biedermeierlichkeit solcher Texte in Zeiten, wo »Empathie« zu den höchsten aller Werte gerechnet wird, natürlich Abstoßungsreaktionen auslösen muss. Eigentlich wäre es Aufgabe der Pädagogen, ihrem Publikum klarzumachen, dass der Primat des Empathiegebots uns vom größten Teil der Musik (Literatur, bildenden Künste...) abschneidet, denn Musik ist nunmal ein historischer Gegenstand. Wenn man nun ein Lied wie das oben genannte "Die Gedanken sind frei" in den Kontext der Aufklärung, des Ende des Feudalimus und des Sturm und Drangs stellte, würde es möglicherweise nicht nur interessant, sondern könnte auch ohne unreflektierte Beklemmung gesungen werden. Vielleicht aber auch nicht; denn für die Gattung Lied könnte einfach der aristotelische Satz gelten, dass es für alles irgendwann, nach Ausschöpfung des gesamtes Entwicklungspotentials, ein natürliches Ende, ein telos, gibt. Nun, dann ist es halt so, man singt nicht mehr, sondern lässt sich lieber zudröhnen. Man betet ja auch nicht mehr, weil die Frage nach dem gnädigen Gott uninteressant geworden ist, und man liest nicht mehr, weil das Glotzo Unmassen von abgesunkener Literatur zum mühelosen Konsum bereithält.

Und die Musiklehrer* bereichern eines der umfänglichsten Kapitel der Kulturgeschichte: Leute auf verlornem Posten.
 
Lieber Demian,

das Problem fängt ja im Elternhaus und Kindergarten schon an. Es ist aber noch nicht Hopfen und Malz verloren, denn es gibt immer wieder Schüler, die "Auf der Mauer, auf der Lauer", "Hänsel und Gretel", "Drei Chinesen", "Dornröschen war ein schönes Kind" etc. kennen. Märchenbezug ist immer gut und Lieder wie die Chinesen, bei der lustig mit Sprache experimentiert wird, werden auch noch gesungen.

Ich hatte mal eine Diskussion mit einer Kindergartenleiterin darüber, dass ich mir wünsche, dass auch das alte Liedgut dort gesungen wird. Sie war völlig anderer Meinung und sagte, dass die Volkslieder nicht "situativ" seien, dass also Kinder mit den Texten nichts mehr anfangen könnten und deshalb diese Lieder nicht mehr zeitgemäß/am Leben der Kinder vorbei wären.

Ich sehe das nach wie vor anders und meine, dass diese Lieder einen Anlass bieten, in den Alltag und die Gesellschaft der Menschen vergangener Zeiten zu schauen und den Blick zu öffnen. Warum gibt es manche Nachnamen so häufig in Deutschland? Thomas Müller, Helene Fischer, ..... . Das waren mal Berufe und wie war es denn früher? Wie ist es heute? War es früher oder heute besser?.....

So könnte man Volkslieder mit einem Einblick in die damalige Zeit verknüpfen und sogar die Klimadebatte, wenn man will, mit hineinnehmen (oder sie sogar als Aufhänger nehmen). Meinem Wunsch nach einer Verbindung der Fächer, nach fachübergreifendem Unterricht käme das sowieso nahe.

Liebe Grüße

chiarina
 
Eigentlich schlimm, dass im Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen deutsche Volkslieder keine Rolle mehr spielen, auch in meinem Unterricht nicht. Lateinamerikanische oder afrikanische Volkslieder dagegen kommen gelegentlich vor. Bei ihnen habe ich auch das Gefühl, gute Musik mit den Schülern zu machen (aber nur dann, wenn die Akkorde nicht nur aus Tonika, Dominante und Subdominante bestehen bzw, der Rhythmus oder der Ausdruck komplexer sind).
Dann musst Du das Ganze eben den Schülern ein wenig schmackhaft machen indem Du die Lieder neu arrangierst.

Beispiel -->


View: https://www.youtube.com/watch?v=qKvuO6UoAuY&pbjreload=10
 
@chiarina
Deine Idee scheint mir sehr gut geeignet für jüngere Klassen, 5 oder vielleicht auch 6. Und natürlich (mit Märchenbezug) für die Grundschule. Ich vermute übrigens, du wärst in der Schule auch eine gute Musiklehrerin!

@tilo
Gefällt mir ganz gut, ist nur manchmal etwas quietschig.
Auf jeden Fall könnte ich mir vorstellen, dass die SuS in der Oberstufe beim Thema „Jazz“ so etwas in der Richtung machen. Volkslieder als Steinbruch und Fläche für anspruchsvolle Jazz-Harmonisierung.
 
"Volkslied arrangieren" ist ungefähr dasselbe wie "Rohkost frittieren".

Kann man machen - aber danach ist das Volkslied kein Volkslied mehr und die Rohkost keine Rohkost mehr.
 

Lieber Demian,

für Ältere könnte auch der Ansatz interessant sein, dass Komponisten wie Bartok, Chopin, Grieg u.v.a. sich sehr mit dem Kulturgut (Volkslieder, Tänze ...) bestimmter Länder beschäftigt haben und dass diese Beschäftigung einen großen Einfluss auf ihre Kompositionen hatte.

Wenn man dann noch "es klappert die Mühle am rauschenden Bach" bei Schumann (Carnaval, Papillons) entdeckt und dann staunt, dass dieses Lied ja aus der Romantik stammt und die Melodie auf den Großvatertanz, einem Kehraus zurückgeht ... dann kann man anspruchsvolle Kompositionen zu einer wahren Fundgrube machen (s. auch Mazurken von Chopin....).

Liebe Grüße

chiarina
 
Es wurde uns einfach zu viel seichter Heino-Kram als Volkskulturgut vorgesetzt.
Aber dafür kann man die wirklich erhaltenswerten Volkslieder nicht verantwortlich machen.
Ich erinnere mich noch gut an Rundfunksendungen des NWDR, in denen Aufnahmen von Liedern gespielt wurden, die aus den verlassenen Gebieten des ehemals deutschen Ostens stammten.
Ostpreußen, Pommern und Schlesiern waren diese Lieder sicher Trost, aber auch schmerzliche Erinnerung.
Deutsche Volkslieder sind wie deutsche Dialekte ein erhaltenswertes Kulturgut.
Dabei darf man sich nicht dadurch beirren lassen, dass auch die Nazis Volkslieder gesungen haben, sonst dürfte man ja auch Worte wie Ehre und Treue nicht mehr in den Mund nehmen.
 

Ich denke, dass Bartók sich absolut darüber im Klaren war, dass es sich beispielsweise bei seinen "Rumänischen Volkstänzen" um Kunstmusik handelt. Er hat sich sehr stark von der Volksmusik seiner Heimat inspirieren lassen. Aber das, was er dann aus den Melodien gemacht hat, ist alles andere als Volksmusik.

Auch Brahms war sich des Dilemmas bewusst und fand seine Volksliedbearbeitungen selbst "bedenklich" - eben deshalb, weil der zwar schlichte, aber überaus kunstvolle Klaviersatz jedes Volkslied in ein Kunstlied verwandelte.

Aber das macht ja nichts. Ich mag die Brahms-"Volkslieder" sehr. Und ich mag auch frittierte Gemüsechips. :coolguy:
 
Zuletzt bearbeitet:
Heino ist schon erwähnt worden. Der ist mit Volksliedern zum x-fachen Millionär geworden. Man könnte ihn fragen, wie man Volkslieder in den Musikunterricht integrieren kann. Er würde antworten "meine Platten kaufen und in der Schule nachsingen".

CW
 
Heino ist schon erwähnt worden. Der ist mit Volksliedern zum x-fachen Millionär geworden. Man könnte ihn fragen, wie man Volkslieder in den Musikunterricht integrieren kann. Er würde antworten "meine Platten kaufen und in der Schule nachsingen".

CW
Heino und Ähnliches ist eben keine Volksmusik, sondern volkstümliche Musik. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied! Volkstümliche Musik sind nämlich Schlager, gemacht, um Geld zu erwirtschaften.
 
Heino und Ähnliches ist eben keine Volksmusik, sondern volkstümliche Musik. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied! Volkstümliche Musik sind nämlich Schlager, gemacht, um Geld zu erwirtschaften.

Dazu fällt mir 'der Musikantenstadel' ein, schrecklich, schrecklich.... von mir mal betitelt als 'das neue deutsche Liedergut'. Gibt's denn diesen Schrott noch (oder in ähnlicher Sendung)?
 

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