Hmm, ja, irgendwie schon...
Aber dabei gibt es eben auch gleich einen Konflikt: soll der Gedanke des Komponisten dargestellt werden, oder soll der Gedanke des Musikers dargestellt werden?
Ich bemühe mich schon sehr, mich in den Komponisten hineinzuversetzen - so weit dies möglich ist - und die Musik so zu spielen, wie sie vom Komponisten mutmaßlich gemeint ist. Daß es dabei keine absolute Gewissheit gibt, ist natürlich klar. Aber das wäre jedenfalls mein Ziel.
Es ist also eher ein Vorgang des Sich-in-jemand-anderen-Hineinversetzens, als ein Stück in meinen eigenen Farben umzuinterpretieren. Meine eigene Sicht kommt natürlich trotzdem, ohne Absicht, zum Tragen, und das ist auch nicht schlimm. Es ist nur nicht der Teil der Interpretation, auf den ich irgendeinen Einfluß hätte. Das Bemühen zielt auf den mutmaßlichen Willen des Komponisten.
Ist schon eine schwierige Frage und ich kann auch den Konflikt erkennen, von dem du sprichst. Vielleicht sind es einfach zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen Seite soll das Stück das bleiben, was es vom Komponisten her ist. Auf der anderen Seite soll es aber auch meine
persönliche Antwort sein. Sich nur auf ersteres zu beschränken, hieße Musik zu machen, ohne dass der Ausdruck wirklich lebendig ist. Sich nur auf letzteres zu beschränken, hieße den eigentlichen Wert der Komposition zu verschenken. Dann kann man auch selber etwas komponieren oder improvisieren.
Vielleicht könnte man aber auch sagen, dass es zwei ganz verschiedene Dinge sind. Die eine Frage lautet: Wie originalgetreu setzt der Pianist die Komposition um, wie sehr wird er also dem Willen des Komponisten gerecht? Die andere Frage lautet: Wie sehr ist der Pianist innerlich beteiligt, wie sehr wird er persönlich berührt und antwortet von innen heraus auf seine originäre Weise?
Bei der Kombination der beiden Fragen gibt es nun - plakativ gesagt - vier Möglichkeiten:
1.) Der Pianist hält sich nur wenig an das, was in den Noten steht und spielt auch ohne innere Beteiligung. Das wäre der schlechteste Fall.
2.) Der Pianist hält sich genau an das, was in den Noten steht, spielt aber ohne innere Beteiligung. Da könnte man vielleicht von gutem Umsetzen sprechen, aber wohl noch nicht von guter Musik.
3.) Der Pianist hält sich nur wenig an das, was in den Noten steht, spielt aber mit viel innerer Beteiligung. Hier könnte man durchaus einen Gewinn aus der Musik ziehen, müsste aber eventuell auch sagen, dass der Pianist das Stück eigentlich verfehlt.
4.) Der Pianist hält sich genau an das, was in den Noten steht und spielt auch mit viel innerer Beteiligung. Das ist der Idealfall. Man spürt und hört, dass der Pianist persönlich auf das Stück antwortet.
Bei 3.) kann man bereits von einer persönlichen Antwort sprechen, nur dass der Pianist halt nicht auf das eigentliche Stück antwortet, sondern eher auf seine eigene Privatkomposition. Das braucht kein Fehler sein, manchmal sind die Privatkompositionen sogar reizvoller als das ursprüngliche Stück.
Bei 4.) aber antwortet der Pianist wirklich auf das eigentliche Stück, das der Komponist geschrieben hat. Bei "großer" Musik ist das dann mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die schönste Version davon (also schöner als eine mögliche Privatversion), so dass die Wirkung am größten ist.
Für die Wirkung von Musik spielen beide oben genannten Fragen eine wichtige Rolle. Also, von daher würde ich sagen, dass deine Herangehensweise sehr wichtig ist, wenn man einem Stück gerecht werden will. Trotzdem ist für mich persönlich die emotionale Beteiligung und persönliche Antwort des Pianisten wichtiger, wenn ich entscheiden soll, ob etwas gute Musik ist.
Das hängt aber auch mit meinem Bezugsrahmen zusammen, also mit dem, was ich als "gut" definiere. Meine primäre Frage lautet halt nicht: Hat der Pianist das Stück genau so umgesetzt, wie es in den Noten steht? Sondern: Hat der Pianist mich mit der Musik
berührt?
Grüße von
Fips