Warum macht ihr Musik?

Warum spielt ihr Klavier? Mich würde nun interessieren wieso ihr Musik macht?
Ich muss auch atmen und essen.

Es gibt so ein Zitat, ich glaube es ist von George Onslow gegen Ende seines Lebens (kennt jemand die Quelle?), geht ungefähr so: ''Ich habe mein ganzes Leben Musik geschrieben, aber bis heute habe ich nicht herausgefunden, was Musik eigentlich ist.''
 
Ich gebe eine ganz banale Antwort:
weil es mir Spaß macht zu musizieren.
 
Nochmal herzlichen Dank für die vielen Antworten! :004:Das ist sehr spannend und inspirierend.
 
Wurde schon "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum" von Nietzsche zitiert? Das ist ja immerhin ein Ausspruch eines Philosophen.

Es gibt auch diese wunderschöne Geschichte von Tucholsky: "Der Grundakkord". Ich erlaube mir mal zu zitieren:
"Da ist diese Geschichte von den beiden Musikern, die wohnten in einer gemeinsamen Wohnung. Und der eine spielte noch spät abends vor dem Schlafengehen Klavier, und er spielte eine ganze große Melodie, mit allen Variationen, und zum Schluß noch einmal das Grundthema, aber das spielte er nur knapp bis zum Schluß, da hörte er auf, und den Schlußakkord, den spielte er nicht mehr. Sondern ging zu Bett.

Nachts um vier aber erhob sich der andere Musiker, schlich leise zum Klavier und schlug den fehlenden Grundakkord an. Und dann ging er beruhigt und erlöst schlafen."

Die Botschaft ist in dieser Geschichte zwar eine andere (man sehnt sich nach einem stimmigen Abschluss), aber dieses Gefühl der Erwartung einer Harmonie kennen wir wohl alle. Und ich glaube, dass das auch ein Grund ist, Musik zu machen. Dinge passen zusammen, Dinge verwickeln und entwickeln sich, sind kompliziert und lösen sich auf.

Dem Gehirn macht das Spaß. So wie übrigens auch Mathematik oder Tüfteleien oder Krimis. Musik hat aber wie Kunst auch noch die Eigenschaft, Dinge auszudrücken, die man mit Worten so nicht ausdrücken kann. Man sagt etwas dazu, aber eigentlich ist das nicht die Empfindung, die wird durch das Sagen nur banalisiert. Das Beschreiben der Mona Lisa ist ja schön und gut, aber man muss sie sehen, ohne Worte.

Ist auch so ein Gedanke: Gedichte drücken mit Worten aus, was man mit Worten nicht ausdrücken kann.

Ach ja, das fehlt da auch noch, ich erlaube mir nochmals zu zitieren:

Marie Ebner-Eschenbach (1830-1916)

Ein kleines Lied

Ein kleines Lied! Wie geht's nur an,
Dass man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und eine ganze Seele.

Genau so geht es mir so oft. Da ist der Tag nicht rund, bevor ich nicht ein bestimmtes Stück gehört oder gespielt habe. Da ist tatsächlich etwas wie Seele darin, sehr schöne Vorstellung, auch wenn kein Mensch weiß, was die Seele so genau sein soll. Das ist es ja gerade. So etwas Luftiges, das nicht so richtig da ist und doch gefühlt wird ...
 
Schläft ein Lied in allen Dingen
Die da träumen fort und fort
Und die ganze Welt hebt an zu singen
Triffst du nur das Zauberwort.

J. v. Eichendorff
 
Erklären kann ich es nicht. Nur umschreiben.
Der Dreijährige beginnt, sich zu erinnern.
Frühe Musik aus jener Zeit war irgendwie lästig, bedrohlich: das Orgelspiel in der Kirche.
Bis mir aufging, dass eine Nachbarin meiner Oma, Kriegerwitwe auf einem Dorf am Möhnesee, "outstanding" sang, weit besser als alle trägen Bauern drumherum.
Dass da - hörenswerte - Unterschiede sind. Brillant, klar, im Takt. Faszinierend.

Ich sang im Kinderchor am Altar den Engel solo: Fürchtet euch nicht.

Dann hörte ich eine Nichte meiner Oma in deren Elternhaus klavierpielen, da war ich fünf. Ich mich daneben gestellt, geguckt, was sie machte - faszinos. Sie zeigte mir das C, und hieß mich, "Alle meine Entchen" zu befingern, und gab mir gleich mal auch ein Notenblatt, den Krams aufzuschreiben.
Da war es passiert.

Als siebenjähriger Knilch setzte ich die fünf mühsam vom Munde abgesparten Mark, die Oma all ihren fast zwanzig Enkelkindern gab, mal nicht für Autoscooter und Mandeln auf der Soester Kirmes ein, sondern rannte rechts vor dem Eingang zur Innenstadt in eines der beiden Spielwarengeschäfte, wo ich wusste, dass es die Hohner Melodica gab - mein erstes Tasteninstrument, selber erspart, Omas Talers plus das Taschengeld mehrerer Wochen geheim gebunkert.
Da steckte ich also schon tief, tief drin in der Sucht.

Die Verwandschaft guckte dumm. Das war bis dato noch nicht vorgekommen. Ein Kind sehnt sich so sehr nach Musik, dass es sich vom eigenen engen Geld ein Instrument kauft.

Klavier durfte ich nicht haben, war meinen Ellies zu teuer.
Dann mit elf eine Violine. Krönchen des ca. sechsjährigen Unterrichts bei einem fanatischen Musikus, Pluta, Konzertmeister in Oberhausen, war sein Raunen, er werde wahrscheinlich die Chance haben, im kommenden Sommerurlaub in Italien uU. eine Violine der Cremonenser Altmeister zu kaufen.
Er brachte so ein Teil mit heim - eine Guarneri. Er spielte ein und dasselbe Stück erst auf seiner Konzertmeister-Violine, die schon ca. dreivier Klassen besser als mein Schweineteilchen war, aber dann das selbe Stück nochmal - auf der Guarneri.

Diese ungeheure Kraft in diesem kleinen Holzteil werde ich mein Lebtag nicht vergessen.

Mit siebzehn konnte ich das alte Klavier eines Klassenkameraden schnappen. Es stand nach dem Anliefern seines neuen Klavieres dann überraschend im Vorbau meines Elternhauses - und passte nicht, welche Pleite, die enge Treppe hinauf. Ließ sich aber zerlegen, von Kollegen andern Tags hochtragen. Derweilen die Herren sich bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse belustigten, auch eine Kiste Bieer leerzogen, baute ich die Klavierkiste wieder zusammen, ich hatte beim Zerlegen fein aufgepasst. ;Immerhin mein erstes Klavier. Ein hell-eichenfarbiges Euterpe Kleinklavier 116 oder so. Und verabschiedete die hilfreichen Träger mit dem Flohwalzer.

Heute bewacht ein riesiger seidenmatt-schwarzer Drache unser Wohnzimmer. Zwometersiebzig. Mehr geht fast nicht. Angeblich habe er mit seinen sechs tiefsten Basstasten den machtvollsten Bass all derer Konzerter, die ein Experte aus Österreich je in Europa hörte. Er nannte den Drachen "A Diamond in the Raw". Bisschen Arbeit mittlerweile wieder, so what.

Orgel finde ich immer noch hässlich und LAUT.

Klar, die menschliche Stimme ist das allerbeste der Instrumente.
Um 2000 herum war ich Mitglied des besten Amateur-Männerensembles zwischen London und Wladiwostok. Ich war ein BAD BOY in Dortmund und sang den Barbershop. Auf dem Wettbewerb in der Bremer "Glocke" machten wir unter den Herren-Ensembles den besten Platz.

Warum ich Klavier spiele, kann ich nicht wirklich erklären, aber ich erinnere mich an mehrere "digitale" Sinnes-Erlebnisse, in denen ich für eine Minute den Himmel hatte, ohne sterben zu müssen. Die meisten davon waren Unendlichkeits-Erlebnisse des Hörens von Musik. Sehr wenige Erinnerungen an herausragende Sinnen-Erlebnisse, um die zehn, unvergessliche Dinge, die einen den Rest des kleinen Lebens begleiten werden.

Die hatte ich in allen Sinnen, minus das Sehen.
Ich vermute, ich muss ins Rongbuk-Tal in Tibet, um einen Blick auf die Nordwand des Everest zu wagen.
Oder ich muss uU. noch das Taj Mahal in Agra sehen.

Um meine Reise im Lande der menschlichen Sinne zu vervollständigen.

Oder es sei denn, es gebe sechs Sinne.
Manche sagen, Dolor sei vom Fühlen distant, ein eigener Sinn.
Er mag sich in der Letzten Minute des Lebens vollenden.
Wenn ich vielleicht von letzter Luft den Gruß der seefahrenden und unendlich neugierigen Phönizier entbieten kann:

"Tanit, Göttin des Meeres, Mutter von Karthago:
ich gebe meine Ruder zurück."
(co Gisbert Haefs, in "Hannibal")
 

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