Da kann ich mich nur meinem Vorredner anschließen. Rameaus Traité von 1722 markiert zwar einen Angelpunkt der Musiktheorie im Übergang von einem kontrapunktischen Klangbegriff (in welchem Harmonien immer noch Ergebnis linearer Prozesse sind) zu einer eigentlichen "Harmonielehre" mit Akkorden als primären klanglichen Einheiten und der Vorstellung eines "Grundtons" sowie "Umkehrungen" von Akkorden. Aber die Entwicklungsstränge, die dort zusammen- und danach wieder auseinanderlaufen, reichen vom späten 16. bis ins 19. Jahrhundert: Die "moderne" Harmonielehre enthält von Rameau geprägte Begriffe und Konzepte, aber in neuer Synthese und Überformung. Und umgekehrt setzt Rameau nicht aus dem Nichts an, sondern entwickelt das Konzept des "basse fondamentale" auf dem Boden der zu seiner Zeit etablierten Generalbasslehre ("basse continue"). Wenn Du Dich mit Rameaus Konzepten intensiv auseinandersetzen willst (ich habe das bisher nicht getan), wird das sicher spannend, aber ein weit größeres Projekt, als einfach nur ohne Kontext den Traité durchzulesen. Du müsstest erst einmal die moderne Brille abnehmen, den Blickwinkel des Generalbasszeitalters einnehmen und wohl auch einen modernen Kommentar zu Hilfe nehmen (z.B. Holtmeier: Rameaus langer Schatten. Studien zur deutschen Musiktheorie des 18. Jahrhunderts. (2017)).
Wenn es Dir aber um moderne funktionelle Harmonielehre im Riemannschen Sinn geht, empfehlen sich stattdessen sicher die zahlreichen modernen Texte aus dem 20./21. Jahrhundert.