Jazz ohne Variationsform

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River Flowing

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15. Feb. 2019
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Ich mag Jazz ja eigentlich sehr gerne, aber was mich stört ist, dass fast alle Stücke die Variationsform verwenden. Ich finde, dass Jazz dadurch oft etwas eintönig wird, da ständig die selben Harmoniefolgen wiederholt werden. Dabei hat ja gerade Jazz mit seinen komplexen Akkorden Potential für interessante harmonische Entwicklungen. Es wäre spannend mit diesen Akkorden große harmonische Bögen zu spannen wie es die klassischen Komponisten gemacht haben, anstatt ständig den selben Chorus zu variieren.

Gibt es Jazz-Aufnahmen, welche keine Variationsform verwenden? Was könnt ihr in dem Bereich empfehlen?
 
Ist nicht das, wonach Du suchst, aber Free Jazz verzichtet auf das Spielen von "Chorussen".

"Anhörbare" Beispiele für Free Jazz: Die frühen Sachen von Ornette Coleman, vieles von Paul Bley.

Ansonsten muss gesagt werden, dass Du Deinen Fokus falsch legst. Das Entscheidende beim Jazz sind Rhythmus, Improvisation, Ausdruck. Nicht "Harmonik" (auch wenn es natürlich Spieler und Arrangeure von interessanten Harmonien gibt). Überdies gibt es Spieler, die mit den vorgegebenen Harmonien sehr einfallsreich umgehen; Beispiele wären Pianisten wie Herbie Hancock oder Marc Copland oder auch wie das Miles Davis Quintet der 60er Jahre im Laufe der Jahre Standards immer "abstrakter" spielt.
 
Da fällt mir natürlich zuerst die Keith Jarrett Soloschule ein.

Dann gibt es noch klassische Harmonien im Jazz von früher Jacques Loussier bis heute Johanna Summer.

Bei extremen Freejazzabwandlungen frage ich mich als unwissender Hörer, ob die harmonische Entwicklung überhaupt im Sinne der Eingangsfrage gewünscht ist oder eben gerade die Entrückung und eben der Ausbruch aus dem Harmoniekorsett bezweckt wird. Dekonstruktion statt einer komplexen Konstruktion.Im Gegensatz zur Klassik wäre dann der Weg das Ziel.
 
Der sog. "Third Stream" (Versuch einer Synthese von Jazz und neuerer E-Musik) ist bzw. war im Wesentlichen Jazz ohne Variationsform. Guckst du hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Third_Strea

Ansonsten ist die Variationsform (=festgelegte Akkordfolgen, die immer wiederholt werden, höchstens mit leichten Abänderungen, z.B. Verwendung von Chord Substitutes) nicht ohne Grund so dominierend im Jazz: Sie ist die Voraussetzung für rhythmische und melodische Freiheit beim Improvisieren im Zusammenspiel.
 
Zudem muss auch noch gesagt werden, dass es sich in aller Regel eben NICHT um eine Variationsform handelt!

Denn dafür müsste erheblich thematischer improvisiert werden, was meist nicht der Fall ist - die Solisten nehmen in der Regel das Akkordschema einfach als Basis für ganz eigenständige "Ausflüge", ihre Melodien haben meist keinen direkten Bezug zur Themenmelodie.

Wenn schon Vergleich mit Formen der "Klassik", fände ich den mit Chaconne/Passacaglia etwas zutreffender, denn da hatte man quasi bereits das "Chorus"- bzw. "Vamp"-Prinzip (die ständig wiederholte Form war allerdings nur 4-8 Takte lang). Man kann sich sehr gut vorstellen, wie bei diesen Stücken die Barockmusiker auch fröhlich improvisiert haben.
 
Man sollte übrigens auch das weite Feld der Reharmonisation bedenken, das viel Gestaltungsspielraum lässt.
 
Zudem muss auch noch gesagt werden, dass es sich in aller Regel eben NICHT um eine Variationsform handelt!

Denn dafür müsste erheblich thematischer improvisiert werden, was meist nicht der Fall ist - die Solisten nehmen in der Regel das Akkordschema einfach als Basis für ganz eigenständige "Ausflüge", ihre Melodien haben meist keinen direkten Bezug zur Themenmelodie.

Wenn schon Vergleich mit Formen der "Klassik", fände ich den mit Chaconne/Passacaglia etwas zutreffender...

Chaconne und Passacaglia SIND Variationsformen!
 
Ich finde den Begriff der Variationsform auch nicht glücklich. Deren Wesen ist es ja, den Bezug zum Thema nie zu verlieren und genau das passiert ja im Jazz. Die Instrumente nutzen die Basis des Chorus, sich so weit es geht auszudehnen, aber den trauten Hafen nicht vollständig zu verlassen. Ich würde es mehr mit einer Fantasie - wenn dann schon klassisch - vergleichen mit der Fessel des Chorus. Anders ist gemeinsames Musizieren schwer möglich - wenn es schön klingen soll-dann brauchen wir eine Konstanz als Improvisatoren, auf die wir uns beziehen und mit der wir gemeinsam musizieren.
Die eigentliche Variaton ist noch viel enger.
 
Ich mag Jazz ja eigentlich sehr gerne, aber was mich stört ist, dass fast alle Stücke die Variationsform verwenden.

Hallo River Flowing,

es gibt nicht DIE Variationsform im Jazz. Zum einen ist das Wort "Variationsform" im Jazz vollkommen ungebräuchlich - man spricht in diesem Genre von einer "Song Form" und zum anderen gibt es doch einige Formen wie z.B. Blues, AABA, ABA, ABAC, ABCA, AB etc.. Dabei sind die einzelnen Teile meist acht-, zwölf- oder sechzehntaktig.
Klar ist das relativ überschaubar, aber dabei muss man bedenken, dass die meisten Jazzstandards auf das "Great American Songbook" zurück gehen, bzw. sich daraus entwickelt haben (oft Evergreens und Filmmelodien). Das Formempfinden der Jazzmusiker hat sich dadurch entscheidend geprägt. Da beim Jazz die Improvisation absolut im Vordergrund steht, wären kompliziertere Formabläufe für spontanes und intuitives Spielen eher hinderlich.

Ich finde, dass Jazz dadurch oft etwas eintönig wird, da ständig die selben Harmoniefolgen wiederholt werden. Dabei hat ja gerade Jazz mit seinen komplexen Akkorden Potential für interessante harmonische Entwicklungen.
In der Klassik ist wortwörtliche Wiederholung von Formteilen an der Tagesordnung. Im Jazz wirst Du nie eine wortwörtliche Wiederholung zu Gehör bekommen.

IEs wäre spannend mit diesen Akkorden große harmonische Bögen zu spannen wie es die klassischen Komponisten gemacht haben, anstatt ständig den selben Chorus zu variieren.
Da es sich um Improvisation handelt, brauchst Du ein harmonisches Gerüst um mit den anderen Musikern zu kommunizieren, es sei denn Du spielst Free Jazz. Der große Bogen wird von der improvisierten Melodie gespannt.
 
Ich mag Jazz ja eigentlich sehr gerne, aber was mich stört ist, dass fast alle Stücke die Variationsform verwenden.

Ich mag Sinfonien ja eigentlich ganz gerne. Aber mich stört, dass die nicht zu Potte kommen. Gehe ich in der Pause zwischen den Sets ein Bier treinken, komme wieder, und die sind immer noch an der selben Sinfonie dran ... :-)

Grüße
Häretiker
 
Denn dafür müsste erheblich thematischer improvisiert werden, was meist nicht der Fall ist - die Solisten nehmen in der Regel das Akkordschema einfach als Basis für ganz eigenständige "Ausflüge", ihre Melodien haben meist keinen direkten Bezug zur Themenmelodie.
Ah, so wie bei Bach in den Goldbergvariationen? Oder wie bei Beethoven in WoO 80? Oder später im Variationensatz von op. 109? Oder doch eher wie bei Brahms in den Händel-Variationen? :zunge:
 

Ich mag Klassik ganz gerne, aber da wird ja nur auf den Fuxschen Kontrapunktregeln gearbeitet...

Gegenfrage: was hörst du an Jazz? Da ist das Feld so weit, dass ich das mit deiner Frage kaum in Einklang bringen kann.
Ein Hauptbestandteil des Jazz ist die Improvisation und da zu einem großen Teil das individuelle Solo. Da ist es dann hilfreich wenn die Begleiter nicht harmonisch abdriften 😊
Auch da gibt es komplexere zugrundeliegende Harmonien oder im Gegenteil einfachere Strukturen, die dem Solisten einen größeren Gestaltungsspielraum lassen. Stichwort: Modaler Jazz
Oder auch freiere Spielformen, die sich versuchen den Regeln der Harmonik komplett zu entziehen.
Die frühen Ornette Coleman Sachen wurden schon erwähnt (z.B. this is our music, Hammer!)
Bis hin zu komplexeren Gruppenimprovisationen
(FreeJazz, Ornette Coleman, Ascension, John Coltrane)
Da dies ein Klavierforum ist: Cecil Taylor! Große Sachen! Die Blue Note Alben von ihm sind nicht unanstrengend aber in ihrer Struktur und dem Aufbau starkes Zeug.
Eric dolphy, Out to lunch...
Andrew Hill, fast alles
Wayne shorter, die späteren blue note Sachen, oder das was er jetzt noch macht
...
...
Mein Verdacht ist, dass du das Feld Jazz noch gar nicht durchgeackert hast 😊 auch ich hab da jetzt nur ein paar Buzzwords abgelassen.

Ciao Oli
 
Also wenn ich es richtig verstehe, suchst Du Jazz-Aufnahmen, bei denen nicht oder nur wenig improvisiert wird nachdem das Thema vorgestellt wurde. Mir fallen die American-Songbook-Aufnahmen von Ella Fitzgerald ein. Diese habe ich als Student immer gehört, um neue Standards kennenzulernen. Außerdem kann man von diesen Aufnahmen viel über gutes und kontrastreiches Arrangieren lernen.
Viele Puristen betrachten diese Aufnahmen als zu kitschig und gefällig. Für mich sind sie aber meisterhaft.
 
Gordon Goodwin hat superkomplexe Sätze für Big Band geschrieben. Er erinnert mich an den guten alten Johann Sebastian.
Es geht ja nicht immer darum, wieviele Harmonien benutzt werden, sondern, was man daraus macht...
Bach hat in jedem zweiten Takt einen Verminderten....Wenn man überlegt, dass es davon nur drei gibt, ist das auch nicht so viel. Die Genialität liegt in der Verarbeitung.
Hier mal Summertime von Gordon Goodwin...:

View: https://www.youtube.com/watch?v=-zuKbrTDAnw
 
Nicht zu vergessen: der modale Jazz. Von weniger guten Musikern kann das auch durchaus langweilig werden, wenn sie nur Skalen abspulen: Im Prinzip ist ja harmonisch gesehen jede Akkordbildung möglich, das Gefälle von Spannung/Entspannung teilweise nicht vorhanden. Wenn allerdings Meister wie die Musiker des Miles Davis Quintetts aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre so etwas machen, kann es faszinierend sein. Die haben es hingekriegt, mit teuflisch guten Ohren im kollektiven Miteinander mit Skalenwechseln zu jonglieren,ohne Absprache.
@störtebeker: Cecil Taylor, großer Mann. Die grundsätzlich frei improvisierten Sachen sind zum Teil so logisch strukturiert wie Stücke von Bartok odet Strawinski.
 
Es wäre schön, wenn der Thread-Starter auf die diversen Antworten auf seinen Eingangs-Post seinerseits reagieren würde...
 

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