Die Frage stellt sich ja nicht nur bei Bach. Es ist eine grundsätzliche Frage, und man kann sie nur subjektiv beantworten mit "in diesem Tempo klingt das Stück für mich am überzeugendsten". Okay, manchmal würde man vielleicht gern schneller spielen, was aufgrund spieltechnischer Probleme nicht machbar ist [...] Aber abgesehen davon liegt die Wahl des Tempos in der vollen Verantwortung des Interpreten.
Ich denke, es gibt bei der Tempofrage zwei Herangehensweisen: die intuitive (die offensichtlich die meisten Pianisten pflegen) und eine eher "musikwissenschaftlich" orientierte. Bach selber hat in seinen Manuskripten höchst selten Tempoangaben notiert. Wir sind also darauf angewiesen, was Bachs Zeitgenossen über das Tempo gesagt haben.
An erster Stelle wäre hier J.J. Quantz "
Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen" (1752) zu nennen, insbesondere das Kapitel 17 (
Von den Pflichten derer, welche accompagniren, oder die einer concertirenden Stimme zugeselleten Begleitungs= oder Ripienstimmen ausführen), Abschnitt 7 (
Von den Pflichten welche alle begleitenden Instrumentisten überhaupt in Acht zu nehmen haben), §§ 45-58 (S. 261-271)
Nachzulesen sind die Ausführungen von Quantz hier:
http://www.koelnklavier.de/quellen/quantz/_index.html
Quantz' Tempoangaben kategorisch auf Bachs Musik zu übertragen, führt allerdings zu mitunter grotesken Ergebnissen.
CPE Bach schreibt in seinem
Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753):
§. 10. "Der Grad der Bewegung läßt sich so wohl nach dem Inhalte des Stückes überhaupt, den man durch gewisse bekannte italiänische Kunstwörter anzuzeigen pflegt, als besonders aus den geschwindesten Noten und Figuren darinnen beurheilen. Bey dieser Untersuchung wird man sich in den Stand setzen, weder im Allegro übereilend, noch im Adagio zu schläfrig zu werden." (Teil 1, S. 121)
Ähnlich auch der Bach-Schüler J.Ph. Kirnberger im Vorwort zu
Recueil d'airs de danse charactéristique (1777):
"Wie wäre es dem Spieler möglich, dem Stück, das er spielt, den entsprechenden Ausdruck zu verleihen, den sich der Komponist vorstellte, wenn er nicht mit Hilfe der der verschiedenen Notenarten, die im Stück vorkommen, genau bestimmen könnte, welche Bewegung und welcher Charakter jeder Art von Tempo entsprechen? Um die notwendigen Eigenschaften eines guten Interpreten zu erwerben, kann ein Spieler nichts besseres tun, als sich in allen möglichen charakteristischen Tänzen zu üben. Jedes Stück dieser Tanzmusik hat seinen ihm eigenen Rhythmus, seine gleich langen Zäsuren."
Aber bereits Mattheson (
Das beschützte Orchestre, 1717, S. 138 ) gibt zu bedenken:
"Eine Allemande zum Tanzen und eine solche zum Spielen unterscheiden sich voneinander wie Himmel und Erde."
Jetzt ist man allerdings genauso schlau wie vorher! :D
Wer sich mit dem Thema "Tempo bei Bach" eingehender beschäftigen möchte, dem seien hier zwei Literaturhinweise an die Hand gegeben:
- Erwin Brodky: Der Vortrag der Klavierwerke von J.S. Bach. Tutzing (H. Schneider) 1970. S. 107-152
(Hier finden sich etliche Tabellen, wer welche Stücke in welchem Tempo eingespielt hat, sowie Übersichten der Tempoangaben der verschiedenen Ausgaben.)
- Paul Badura-Skoda: Bach-Interpretationen. Die Klavierwerke Johann Sebastian Bachs. Laaber (Laaber Verlag) 1990.