und wie wäre es bei Extremfällen?
käme dir eine Braut, die im Tiefseetaucheranzug vor den Altar tritt, nicht etwas verwunderlich vor?
oder ein mit Wohlstandsbauch ausgestatteter Endfünfziger, welcher seinen Geschäftsbericht in der Vorstandssitzung in der luftigen Tracht eines Kriegers aus Neuguinea vorträgt?
oder eine Kindergärtnerin, welche aus jeder-nach-seiner-Facon-Gründen einen Zoobesuch mit den lieben Kleinen im Dominagewande durchführt?
Die Braut im Taucheranzug würde mich durchaus belustigen. Ebenso wie ein Pianist, der im Smoking Tauchgänge veranstaltet :D
Wobei ich an einem See wohne, auf dessen Grund bereits Hochzeiten gefeiert wurden. Die Standesbeamten haben aber immer einen passenden schwarzen Taucheranzug gewählt ;)
Über die Kindergartendomina würde ich mir wenig Gedanken machen, eher über jene ihrer Schützlinge, die deren Kleidung
nicht für ein lustiges Faschingskostüm halten.
Der kriegerische Vorstand wäre bei vielen Unternehmen wenigstens ein Grund zur Erheiterung, was der Geschäftsbericht vielleicht so gar nicht ist.
Ein Dresscode ist nichts anderes als eine Konvention innerhalb einer bestimmten Gruppe, what else. Er dient zur Gruppenfindung und nicht zuletzt zur Signalisierung "Ich gehöre zu euch, ich akzeptiere die Gruppenregeln, ich werde nicht stören". Der vereinzelte Klassikkonzertbesucher in Jeans wird darum misstrauisch beäugt, der wird sicher stören, stinken, irgendwas. Dummerweise klingeln die Handys, rascheln die Programmhefte und klirren die Juwelen nach meiner Erfahrung immer bei jenen, die durch ihre Kleidung den Künstlern "Respekt" erweisen. Das kann aber auch der statistischen Mehrheit geschuldet sein.
Ganz klar ist mir immer noch nicht, warum ausgerechnet die Klassikliebhaber so auf "gegenseitigen Respekt" durch Kleidung beharren. Soll ich ein Konzert von Iggy Pop mit nacktem, zerschundenen Oberkörper besuchen, um ihm Respekt zu erweisen? Wird dieses Konzert für mich als (fiktiven) Liebhaber von Iggy Pop ein schlechteres, weil ich das lieber unterlasse?
Von Extremen brauchen wir nicht ausgehen. Die sind lustig, aber in der Mehrzahl nicht relevant. Ich bin absolut kein Vertreter von Dresscodes, diese sind mir ein Gräuel. Aber ich überlege mir sehr wohl, was ich anziehe, wenn ich ein Konzert besuche. Dabei besteht kein Unterschied zwischen Klassik oder Pop. Denn es stimmt schon, dass man sich selbst nichts Gutes tut, wenn man so ein Ereignis zur Belanglosigkeit herabstuft, indem man es im Pyjama besucht, weil der gerade so bequem und man zu faul zum Umziehen ist.
Trotzdem hat das nichts mit Respekt gegenüber dem Künstler zu tun. Diesen erweise ich ihm durch Kauf der Eintrittskarte, durch mein angemessenes Verhalten (Stille oder Brüllen, je nach Genre), meinen Applaus und insgesamt ohnehin durch meinen Besuch.
Mein Respekt gilt dabei seiner Kunst und deren Vorführung, in manchen Fällen auch dem Menschen. Seiner Kleidung jedoch in keinem Fall, das wäre lächerlich, egal ob es sich dabei um die Lederhose nebst Hasenpfote von Mick Jagger oder um den Smoking von Rudolf Buchbinder handelt.
Dass "Leben und leben lassen" nicht unendlich dehnbar ist, sollte ich nicht betonen müssen. „Das Recht, meine Faust zu schwingen, endet, wo die Nase des anderen Mannes beginnt." ;)
Nachsatz zu Fisherman:
Wenn ich nun anfange Klassikkonzerte in bequemer Kleidung (dummerweise sind gute Anzüge eigentlich sehr bequem) zu besuchen, spiele ich Trendsetter und erlöse die anderen mittelfristig von ihrem Leidenszwang. Hoffentlich störe ich dann nicht die Aufführungen durch die ständigen "Messias"-Rufe, die mir entgegenschallen :D