Eine traurige Entwicklung

Ich habe mich schon oft gefragt, warum in der Schulmusik so viel über die Bedürfnisse der (mehrheitlich noch ungebildeten!) Schüler raisonniert wird. Ich habe nicht in Erinnerung, dass unser Mathematikkehrer uns fragte, ob wir lieber über die Natur unserer Lieblingszahl diskutieren wollen, oder lieber quadratische Gleichungen lösen wollen.
Warum macht sich die Schulmusik so klein, statt Kenntnisse über Musik (aller Musik, die mit Wissen angemessener zu rezipieren ist von der Renaissance bis zum Jazz) zu vermitteln. Und zwar allen Schülern, und ja auch denen, die keine Klavierstunden nehmen.
@Alter Tastendrücker und @Cheval blanc :

Die zentrale Tätigkeit des Mathematikunterrichts ist das Rechnen. Die zentrale Tätigkeit des Musikunterrichts ist das Musizieren. Ich sehe da in dieser Hinsicht keine Differenz in dem, was man Schülern zumutet.

Das stärkste Bedürfnis der mehrheitlich noch ungebildeten Schüler ist es, selbst sie eigene Stimme zu benutzen bzw. Instrumente in die Hand zu nehmen und damit Klang zu erzeugen. Und durch dieses eigene Musizieren kann man Schüler auch für Themen interessieren und sogar begeistern, die zunächst keinen erkennbaren Lebensweltbezug hat.

Ein Musikunterricht, der sich nur auf die kognitive Analyse künstlerisch wertvoller Kompositionen beschränkt, nimmt sich selbst die Chance, den Schülern einen Zugang zu zunächst nicht lebensweltbezogenen Themen zu ermöglichen. Ein Musikunterricht, der nur Hören und Analysieren beinhaltet (wie es wohl in Bayern und Sachsen teilweise noch üblich ist), lässt sich, polemisch formuliert, vergleichen mit einem Sportunterricht, in dem nur Olympiaturniere und Fußballweltmeisterschaften vergangener Jahrzehnte betrachtet und analysiert werden.

Natürlich sind Analyse und kognitives Verstehen unverzichtbar, aber der Zugang sollte über das eigene musikalische Handeln erfolgen. Dadurch wird Musikunterricht lebendig, erweckt Neugier und Interesse auch bei Schülern, die sich von von sich aus nicht darauf einlassen würden bzw. gar nicht die Chance dazu haben, weil sie privat keinen Instrumentalunterricht genießen.
 
So ein Kandidat war ich auch. Ok, Dur oder Moll vielleicht gerade noch...ansonsten Bestand mein Instrumentalunterricht aus mechanisch nach Noten spielen, und im Musikunterricht habe ich mathematische Konstrukte für die Klassenarbeit auswendig gelernt. Haken dahinter.
Gehörbildung und Spaß am Musik spielen hab ich mir später selbst beigebracht. Und plötzlich ergab die Musiktheorie Sinn!

Es ist m.E. total dämlich, Musiktheorie und Gehörbildung zu trennen. Aber das 'muss ja gut und richtig so sein', an der Hochschule kann das auch so sein. Da möchte man fazialpalmieren.

Grüße
Häretiker
 
Das kann man so sehen, aber Tanz und Rhythmus hat ja noch ganz andere Funktionen, z.B. ganz einfach Lebensfreude. Das blendet Adorno aus. In der aktuellen Musikdidaktik gelten Adornos Ansichten als veraltet. Er forderte z.B. als Gegner ganzheitlicher Musikerfahrung auch, dass sich Schüler im Musikunterricht nicht musizierend betätigen sollen, sondern Musik nur hören sollten (auf dem Weg zum "mündigen Hörer" als dem höchsten Ziel der Musikdidaktik). Die heutige Musikdidaktik verfolgt ganz andere Ziele (s. Beitrag Nr. 35).
Hegel wie Adorno lehnen die Beschäftigung mit einer subjektiven Ästhetik grundsätzlich ab, da sie nicht logisch erfassbar und analysierbar ist.
 
Eben nicht. Für Hörerfahrungen braucht man keinerlei Musiktheoretische (oder gar Musikgeschichtliche) Vorkenntnisse. Schüler können allein aus der Hörerfahrung auch Moll- und Dur-Akkorde unterscheiden lernen, ohne zu wissen was das überhaupt ist. Erst mit dieser Praxis (Musik!) ergibt die Theorie überhaupt irgendeinen Sinn, nicht umgekehrt.
Und wie benennt man das dann? Der fröhliche und der traurige Akkord?
 
Und wie benennt man das dann? Der fröhliche und der traurige Akkord?
Es ist zunächst einmal egal, wie man das benennt. Entscheidend ist, dass überhaupt ein Unterschied wahrgenommen wird. Und den nehmen nach meiner Erfahrung Schüler in der Regel wahr. Der Musikunterricht hat darauf aufbauend die Aufgabe, die Formulierung der subjektiven Wahrnehmung in eine objektivierte Fachsprache zu führen.
 
Wobei wir wieder beim Thema sind: Traurig.
Aber vielleicht ist das bei der Entwicklung ähnlich wie beim Moll-Akkord: Manchmal findet man "traurig" schöner als "fröhlich".
Warum eigentlich?
Oder sagt das etwas über mich, wenn ich Moll mehr mag als Dur :015:
 
Mag ja sein, dass ich da irgendwas nicht weiß und der Adorno in Wirklichkeit ein kleiner Schlingel war, der gerne seinen Eumel in süße Girls reinhielt und gerne mal abdancte - aber mir erscheint der ganze Mensch Adorno so was von seinem Körper entfremdet und freudlos, dass es einen nicht wundert, dass er solche Theorien vertrat.
 

Ja, genau. Immer wenn eine Frau im Bett zu ihm flötete: "Theo, zieh dich doch mal aus", dann explodierte er: "Wie kannst Du nur an so etwas durch und durch Abgeschmacktes und letztlich von der Konsumindustrie Korrumpiertes wie Geschlechtsverkehr denken? Ich wollte mit Dir natürlich über Reihentechnik bei Boulez diskutieren!"
 
Weil ich diese Einengung und den emotionalen Kurzschluss moll=traurig und Dur=fröhlich für ein echtes Problem halte. Solche Stereotypen mag ich gar nicht erst in den Köpfen verfestigen.
Ich auch nicht. Einengung ist immer schlecht. Lernen bedeutet Erweiterung und geschieht durch einen Prozess, in dem grobe Basis-Schemata nach und nach zu immer feineren Erkenntnissen ausdifferenziert werden. Ein Großteil der mitteleuropäischen Musik verwendet das Tongeschlecht Dur für positiv konnotierte Emotionen und Moll für dunklere, bedrückendere. Da ist das klischeehafte „Lustig und traurig“ von Beethoven nur die Spitze des Eisbergs.
Was spricht dagegen, dieses Basis-Schema, nachdem es eingeführt worden ist, durch Beispiele zu erweitern, in denen eine Musik in Moll z.B. Lebensfreude transportieren kann? Beispielsweise wären dafür etliche Tänze geeignet.
 
Das Tongeschlecht moll umfasst vier verschiedene Skalen. Die Zuordnung einer Emotion ist erlernt (Prägung ca. 6. Lebensjahr) . Es gibt keine genetische Grundlage. Die Zuordnung ist im europäischen Raum aber traditionell verbreitet, daher macht es keinen Sinn, sich darüber endlos auszubreiten. Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele wie Donizettis Lucia di Lammermoor, wo einzelne textlich/inhaltlich verzweifelte Arien musikalisch in Dur unterlegt sind. Das erweckt bei mir den Eindruck einer Opera buffa, was sie nun einmal nicht ist. Da die Oper viele Fans hat, bestätigt das, dass im Detail die Wahrnehmung und emotionale Zuordnung sehr variabel ist. Auch die einzelnen Skalen wirken unterschiedlich, zum Glück - der Komponist kann mit der Verwendung unterschiedlicher Skalen die emotionale Wirkung subtiler und abgestufter beeinflussen.
 
Irgendwie - muss man ja einen Fuß in die Tür kriegen.
Irgendwo - muss man anfangen.
Irgendwann - fällt einem Nena ein.

Wenn ich Skat erklären will, fange ich auch bei Farbe, Stich, Kartenwert usw. an und nicht "beim überreizten Spiel zahlt der Spieler mindestens so oft den Grundwert wie der Reizwert, wir üben das jetzt mal bei Pik Hand ohne 3, der Kreuz Bube ist im Skat".

Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele wie Donizettis Lucia di Lammermoo

"What shall we do with a drunken sailor" ist jetzt auch nicht melancholisch oder so. Passt nicht so gut, ist aber für viele nahe liegender.

Grüße
Häretiker
 
Ich habe diesen Artikel dazu gefunden:

-Warum klingt Moll traurig? Meine Meinung​

Nach meiner Meinung ist nicht nur die Auswahl der Akkorde entscheidend, ob ein Song als traurig oder als fröhlich wahrgenommen wird. Denn auch ein Musikstück mit vorwiegend Dur-Akkorden kann eine traurigen Botschaft vermitteln. Zum Beispiel wenn das Tempo sehr langsam ist und die Töne sehr langgezogen werden. Die Spielweise (Artikulation) ist also entscheidend.

Zudem können kurze und schnell gespielte Töne lustig wirken, obwohl diese in Moll komponiert wurden. Oft entscheiden Nuancen darüber, wie ein Song wahrgenommen wird. So erzeugen tiefe Töne eine Bedrohung, wohingegen hohe Töne die Stimmung heben können.

Kurzum, es ist nicht immer gesagt, dass mit der Verwendung von Moll-Akkorden gleichzeitig auch eine traurige Stimmung erzeugt wird. Es ist die Mixtur aus allem, beispielsweise die Beziehung der einzelne Akkorde untereinander, die Auswahl der Instrumente und das verwendete das Tempo. Letztendlich ist auch der eigene Gemütszustand entscheidend und wie wir basierend auf persönlichen Erfahrungen Musik registrieren – zusammengefasst, Musik wird subjektiv wahrgenommen.-

Quelle:

 

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