Zwölftonmusik - wozu, weshalb, warum?

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Da ich immer wieder die Erfahrung mache, daß der Begriff "Zwölftonmusik" zwar vielen Leuten bekannt ist, sich viele aber nichts konkretes darunter vorstellen können, möchte ich zu diesem Gebiet mal einen eigenen Thread aufmachen.

Was soll man sich also unter Zwölftonmusik vorstellen und wozu soll das gut sein?

Nun, "Erfinder" der „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ ist der Komponist Arnold Schönberg, der beabsichtigte, das alte System der auf Tonleitern basierenden Tonarten und auf Dreiklängen basierenden Akkorde zu ersetzen. Alle Töne sollten gleichwertig sein, es sollte keinen als "Grundton" empfundenen Ton mehr geben und auch das Prinzip von dissonanten Akkorden, die sich in konsonante Dreiklänge auflösen "wollen" sollte zugunsten einer Gleichbehandlung aller möglichen Zusammenklänge weichen.

Das Prinzip der Gleichbehandlung aller 12 Halbtöne verwirklicht Schönberg dadurch, daß alle Halbtöne in gleicher Häufigkeit auftreten. Wird also ein f gespielt, dann müssen erst alle anderen 11 Halbtöne erklingen, bevor das f wieder an der Reihe ist.

Daher legt der Komponist einfach zu Beginn einer Komposition eine Zwölftonreihe fest, in der alle 12 Halbtöne in einer bestimmten (frei festzulegenden, aber dann strikt beizubehaltenden) Reihenfolge enthalten sind.
Um das System noch etwas interessanter zu machen, darf die Reihe im Stück auch transponiert werden. Ebenso sind Umkehrung und Spiegelung der Reihe möglich.

Nicht festgelegt ist die jeweilige Oktavlage eines jeden Tons, der Rhythmus, die Dynamik und Artikulation. Das Zwölftonsystem sagt dem Komponisten also nur, welcher Ton als nächstes kommen "muß", aber nicht, ob er hoch oder tief, laut oder leise, lang oder kurz, staccato oder legato zu erklingen hat. Somit bleiben dem Komponisten trotz der "strengen" Festlegung der Tonhöhen-Reihenfolge eine außerordentliche Freiheit in der Ausgestaltung der melodischen, akkordischen und rhythnischen Aspekte des Stücks.
 

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Noja, ich durfte mir sowas mal im Orchester anhören (von Anton Webern). Es klang doch ganz interessant, aber da Zwölftonmusik so viele Freiheiten lässt, kann man kaum ein Stück mit dem anderen vergleichen. Es klang tatsächlich weniger wie direkte Musik, als wie spontante Ausbrüche, Erregungen. Aber wie gesagt: Theoretisch können sich die Stücke so stark unterscheiden, dass ich sagen muss, dass ich nur mal "damit in Berührung gekommen bin". :D

Insgesamt sehe ich darin aber doch mehr eine Technik, eine Technik, aus der sich dann die Musik ergeben soll. Als musikalisch ästhetisch empfinde ich das aber nicht, zumindest nicht das, was ich gehört habe. Wobei es doch eine lustige Idee ist, aber vielleicht hat Schönberg sie etwas zu ernst aufgefasst, zumindest passt diese Tongleichberechtigung nicht ganz in meine Vorstellung von "perfekter" Musik. ;)
 
Noja, ich durfte mir sowas mal im Orchester anhören (von Anton Webern). ... Es klang tatsächlich weniger wie direkte Musik, als wie spontante Ausbrüche, Erregungen.

Die Musik wird in jedem Fall das ausdrücken, was der Komponist fühlt bzw. darstellen will. Das hat eigentlich wenig damit zu tun, ob dieses oder jenes System der "Tonhöhenorganisation" verwendet wird. Für die teilweise Brutalität und Hektik von manchen Beethoven-Stücken wird ja auch niemand die tonale Kadenzharmonik verantwortlich machen. Und zu Zeiten Schönbergs und Weberns war die Welt doch ziemlich aus den Fugen geraten, Krieg und Revolution, Psychoanalyse, Furcht und Schrecken... sowas spiegelt sich eben auch in der Musik.


Insgesamt sehe ich darin aber doch mehr eine Technik, eine Technik, aus der sich dann die Musik ergeben soll. Als musikalisch ästhetisch empfinde ich das aber nicht, zumindest nicht das, was ich gehört habe.

Es war ja auch nicht das Bestreben von Schönberg und Webern, ästhetische im Sinne von "wohlklingende" Musik zu schreiben. Schönberg hat übrigens auch gemalt, eine ganze Reihe von Selbstportraits, und der Ausdruck von Angst, Schrecken und Entsetzen ist in diesen Ölgemälden genauso allgegenwärtig wie in seiner Musik. Da ist nicht die Zwölftontechnik daran "schuld" :)

Schönberg als Maler
http://de.youtube.com/watch?v=yBL7_1MUZQM
 
Wie Vorzeichen bei Zwölftonmusik notieren?

Dumme Frage als Tonsatz-Novize:

Wenn man bei der Zwölftonmusik die Begriffe wie Grundtonart, Tonika usw. verlässt, weil jeder Ton gleichwertig ist, wie notiert man dann die Tonart?

Also alles z.B. einfach in C-Dur ohne Vorzeichen und die schwarzen Tasten mittels "#"? Oder nach Belieben mit "b"? Je nachdem, ob man lieber B's oder Kreuze mag, aber konsequent das ganze Stück durch?
 
Akkorde

Ich hab auch mal eine Frage:

Wie sieht es denn in der Zwölftonmusik mit Akkorden aus?! Darf man aus der Zwölftonreihe also nur Akkorde bilden, deren Töne in der Zwölftonreihe nebeneinander liegen? Dein Beispiel legt das nahe, weil du einmal die Töne d und gis, die in der Zwölftonreihe nacheinander kommen zu einem Intervall zusammenziehst.

Kannst du uns auch konkrete Werke als Hörprobe empfehlen?

Das hier ist Zwölftonmusik, oder?

marcus
 
Ich hab auch mal eine Frage:

Wie sieht es denn in der Zwölftonmusik mit Akkorden aus?! Darf man aus der Zwölftonreihe also nur Akkorde bilden, deren Töne in der Zwölftonreihe nebeneinander liegen? Dein Beispiel legt das nahe, weil du einmal die Töne d und gis, die in der Zwölftonreihe nacheinander kommen zu einem Intervall zusammenziehst.

Ja, das hast du genau richtig erkannt. Man kann z.B. einen Ton als Melodieton nehmen und die folgenden 5 Töne der Reihe als Akkord darunter und oder darübersetzen. Man könnte aber auch die Melodie aus der Reihe herleiten und parallel dazu eine Akkordstimme die sich wiederum aus den Reihentönen zusammensetzt ablaufen lassen. Das kann auch rhythmisch ganz unabhängig von der Melodie sein.


Kannst du uns auch konkrete Werke als Hörprobe empfehlen?

Das hier ist Zwölftonmusik, oder?

Schöne Aufnahme der Klavierstücke op.19 !
Es handelt sich dabei aber nicht um Zwölftonstücke, sondern um frei atonale Stücke. Das erste Zwölftonstück ist der Walzer aus den Klavierstücken op.23.
Obwohl Schönberg die Zwölftontechnik erfunden hat, hat er nur sehr wenige Stücke in dieser Technik komponiert :p

Hier einige Erläuterungen von Mitsuko Uchida zu einem echten Zwölftonwerk von Schönberg, dem Klavierkonzert op.42
http://de.youtube.com/watch?v=PmWRttCo7lo

Menuhin und Gould reden über die Fantasie für Violine und Klavier op.47
http://de.youtube.com/watch?v=av2XTNgA72w

und so klingt sie

http://de.youtube.com/watch?v=mvgwhZ0uLP0
 
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Hier einige Erläuterungen von Mitsuko Uchida zu einem echten Zwölftonwerk von Schönberg, dem Klavierkonzert op.42
http://de.youtube.com/watch?v=PmWRttCo7lo

Danke für die Erläuterung und den Link :)
Mitsuko Uchida hatte ich bisher nur am Rande als Pianistin wahrgenommen. Ich finde, sie ist auf Anhieb sympathisch und spricht ein wunderbar verständliches Englisch. Außerdem erinnert sie mich in ihrer Art an meine KL :-P

marcus
 
Super Thread! Danke dir Haydnspaß!
Hab mich schon oft gefragt, was das denn genau sei...
 
Dumme Frage als Tonsatz-Novize:

Wenn man bei der Zwölftonmusik die Begriffe wie Grundtonart, Tonika usw. verlässt, weil jeder Ton gleichwertig ist, wie notiert man dann die Tonart?

Da es keine Tonart gibt hat das Stück am Anfang auch keine Tonartvorzeichen.

Also alles z.B. einfach in C-Dur ohne Vorzeichen und die schwarzen Tasten mittels "#"? Oder nach Belieben mit "b"? Je nachdem, ob man lieber B's oder Kreuze mag, aber konsequent das ganze Stück durch?

In der Zwölftonmusik gibt es tatsächlich keinen Unterschied zwischen fis und ges. Es gibt ja keine Leittonwirkung, also hat fis bzw. ges auch keine "Richtung". Es steht einem daher frei fis oder ges zu notieren, je nachdem, was besser zu lesen ist. Oft wird bei Zwölftonstücken auch vor jede unveränderte Note (weiße Taste) ein Auflösungszeichen geschrieben, um Mißverständnissen vorzubeugen.
 
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Ich hätte da ne Idee: Wie wär's mit einem 12-Tonmusik-Komponierspiel? :)

In der Theorie hört sich ja nicht so unheimlich schwer an...
 
Vielen Dank, Haydnspaß, für die Erläuterungen und Links zur Zwölftonmusik!

Ja, das Grundprinzip hört sich einfach an, die Herausforderung besteht wohl darin, nach diesem Prinzip Musik zu entwickeln, die man selber als schön und ästhetisch empfindet (danach würde ich jedenfalls streben wollen), und nicht das es in Beliebigkeit ausartet.

In gewisser Weise sehe ich sogar Ähnlichkeiten mit einer Fuge - es wird ein Thema nach einem gewissen Prinzip erstellt, was transponiert werden kann, gespiegelt, umgekehrt usw. - alles Dinge, die bei einer Fuge auch gemacht werden können.

Interessanter Faden!
 

Ich muß sagen, ich bin äußerst überrascht, wie friedlich es in diesem Thread zugeht. Hätte ich nicht erwartet :D

@Pitt
Ein Zwölfton-Komponierspiel, das fände ich auch mal lustig. Falls es genügend Interesse gibt - ich wär dabei :)

@Mindenblues

In gewisser Weise sehe ich sogar Ähnlichkeiten mit einer Fuge - es wird ein Thema nach einem gewissen Prinzip erstellt, was transponiert werden kann, gespiegelt, umgekehrt usw. - alles Dinge, die bei einer Fuge auch gemacht werden können.

Es scheint mir auch so, daß Schönberg doch stark von Bachs Fugen inspiriert wurde. Er hat aber auch großen Wert gelegt auf die Feststellung, daß die Zwölftonreihe nicht als Thema des Stücks mißverstanden werden darf. Die Zwölftonreihe liefert nur das Notenmaterial - sie ist aber in der Regel für den Zuhörer nicht hörbar und auch nicht wichtig. Das steht etwas im Gegensatz zu der Feststellung von Uchida, sie würde immer gerne zuerst die Reihe spielen. So hatte das Schönberg nicht gemeint.

@Drifty

Bodo Wartke ist genial. Wie übrigens damals auch Achim Hagemann und Hape Kerkeling :D

http://www.youtube.com/watch?v=tnJXsCZ67i4
 
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Ne also ich kann diese " Musik" ( für mich Lärm) echt nicht ab. Ist gut zu wissen was es ist, weil es doch recht bekannt ist; ich musste mir den Mist im Musikkurs anhören ( zum Glück nicht lange, weils der Lehrer selbst nicht ertragen konnte:D), aber dabei will ichs dann auch belassen.

Ich mein, ich könnte jetzt auch irgendein System mit Regeln aufstellen, nach dem man komponieren könnte.
Aber was macht das für einen Sinn, wenn dieses System überhaupt nicht danach ausgerichtet ist, was sich gut anhört?

Und Pitt: Was hätte da ein Komponierspiel für einen Sinn?
Hört sich doch nacher eh alles gleich sch***e an.
 
Danke für den Thread, Haydnspaß!

Ich möchte ein paar Betrachtungen zum Ursprung der Zwölftontechnik geben.

Musik spiegelt den Zeitgeist, das gesellschaftliche Leben und die Mode wieder. Das dürfte allseits bekannt sein. Was hat das mit Zwölftonmusik zu tun?

Die von Karl Marx formulierte klassenlose Gesellschaft, brachte viele Anhänger dieser Utopie, die zielstrebig dieses Ideal umzusetzen versuchten. Daraus entstand der Kommunismus. "Alle Menschen sollen gleich viel haben und gleich viel arbeiten usw." - schlussendlich arbeitete kaum noch jemand und es hatte niemand was, wie sich in der Realität herausstellte.

In der Musik entstand zeitlich parallel die Zwölftonmusik.
....sollte zugunsten einer Gleichbehandlung aller möglichen Zusammenklänge weichen.

Das Prinzip der Gleichbehandlung...

Jeder Ton ist gleich viel Wert, keiner soll eine untergeordnete Rolle spielen etc. welch Analogie!

Nicht, daß ich Zwölftonmusik nicht mag, aber sie kommt aus der gleichen ideellen Ecke.

Was uns diese gleichmachende Idee nebenbei genommen hat (bis heute), sind die Abstände der Töne zueinander.

Bis 1870 wurden Klaviere vorwiegend tonartencharakteristisch temperiert. Erst danach setzte sich das Gleichmachungsprinzip, die gleichschwebende Temperierung allgemein durch.

Hat gewiss Vorteile, aber für mich überwiegen die Nachteile.

Das mal so am Rande...

Liebe Grüße
Klaviermacher
 
Die von Karl Marx formulierte klassenlose Gesellschaft, brachte viele Anhänger dieser Utopie, die zielstrebig dieses Ideal umzusetzen versuchten. Daraus entstand der Kommunismus. "Alle Menschen sollen gleich viel haben und gleich viel arbeiten usw." - schlussendlich arbeitete kaum noch jemand und es hatte niemand was, wie sich in der Realität herausstellte.

In der Musik entstand zeitlich parallel die Zwölftonmusik.


Jeder Ton ist gleich viel Wert, keiner soll eine untergeordnete Rolle spielen etc. welch Analogie!

Nicht, daß ich Zwölftonmusik nicht mag, aber sie kommt aus der gleichen ideellen Ecke.

Hast du, bevor dir die Idee mit dem Kommunismus eingefallen ist, das Video mit Bodo Wartke angesehen? Das würde einiges erklären :D

Ganz klare Antwort: Nein, Schönberg war kein Anhänger des Kommunismus :)

Ob du's glaubst oder nicht: Schönberg war Anhänger der Monarchie!

Er hatte allerdings einen berühmten Schüler, Hanns Eisler, der spätere Komponist der Nationalhymne der DDR, von Arbeiterkampfliedern und Brecht Songs. Eisler hat zur Zeit seiner Schülerschaft bei Schönberg erstklassige Zwölftonmusik komponiert!. Daß sich Schönberg und Eisler auf politischem Gebiet heftigst in die Wolle bekamen, kannst du dir denken.
 
"Nicht, daß ich Zwölftonmusik nicht mag, aber sie kommt aus der gleichen ideellen Ecke." (Soll sicher aus der "ideologischen Ecke" heißen.)
Huch? Schönberg war Opfer der Nazis, gewiß, aber wenn Bodo Wartke einen Scherz macht, würde ich damit nicht musikhistorisches Wissen ersetzen:

Man muß Zwölftonmusik im Zusammenhang der historischen Entwicklung sehen: Die Spätromantiker (Schönberg, Berg und Webern hatten in ihren Jugendwerken als solche begonnen) hatten die Chromatik und harmonische Zweideutigkeit weit getrieben, die Harmonik wurde immer dissonanter und gespannter. Die kadenzierende Tonalität hatte sich abgenutzt, an ihre Stelle mußte etwas Neues treten, man begann, frei atonal zu schreiben. Die Atonalität jedoch drohte in Beliebigkeit abzugleiten. Es war nicht nur Hauers und Schönbergs Zwölftonmusik allein, die der Musik zu neuen brauchbaren Regeln verhelfen wollte, es entstanden auch andere Ideen wie Vierteltönigkeit, später die serielle Musik, wo nicht nur Tonhöhen wie in der Zwölftonmusik, sondern auch Lautstärken und Notenlängen einem Reihenprinzip unterworfen sind, und vieles andere.

Eine gewachsene natürliche Grammatik mußte einer intellektuell konstruierten weichen, die nur wenige für genießbar halten. Dergleichen ist der Versuch, die Kunstmusik zu retten, die sich sonst in der Wiederholung des tonal immer Gleichen erschöpfen muß. Anscheinend aber ist sie nicht zu retten, denn wir befinden uns heute in einer musikhistorisch einzigartigen Situation: In den Medien dominiert die seichte Muse, in der Kunstmusik dominiert das Museale; zu keiner Zeit wurde so wenig zeitgenössische Musik gespielt (wenn man Popularmusik nicht als solche bezeichnen will), wenigstens 95% der Konzertprogramme sind nichts Neues, Solisten und Orchestermusiker sind überwiegend Museumsverwalter.
Schönbergs Versuch der Erneuerung ist über die Maßen ernsthaft und ehrenwert. Erfolg hat er nicht wirklich gehabt, aber wer das einfach als "ideologische Ecke" bezeichnet, hat das Problem nicht verstanden, das tiefgreifend ist.

"Was uns diese gleichmachende Idee nebenbei genommen hat (bis heute), sind die Abstände der Töne zueinander. Bis 1870 wurden Klaviere vorwiegend tonartencharakteristisch temperiert. Erst danach setzte sich das Gleichmachungsprinzip, die gleichschwebende Temperierung allgemein durch."
Demnach wäre die Idee vom Perpetuum mobile ein Zeichen von Individualität und der Beweis, daß es nicht möglich ist, Gleichmacherei? Kann man das vielleicht, bitte, auch weniger ideologisch sehen, sondern rein pragmatisch?: In mitteltöniger Stimmung klingt Fis-dur einfach beschissen, in irgendeiner Temperierung von Kirnberger bis Werckmeister I bis III klingt es nicht mehr ganz so schlecht, aber immer noch schlecht. Man kann nicht einmal alle sieben weißen Tasten stimmen, ohne irgendwie zu temperieren, denn in dieser unserer Welt ergeben 6 Quinten nun mal keine reinen Terzen.
Was, bitte, ist eine "tonartencharakterische" Temperierung? Richtig ist natürlich, daß eine ungleichmäßige Temperatur ein paar Tonarten -- sagen wir lieber "Akkorde" oder noch genauer "Intervalle", das kommt der Sache näher -- evtl. besser klingen läßt, aber genauso viele klingen dafür schlechter. Das kann man ausrechnen, und bekanntlich ist Mathematik frei von jeder Ideologie. Die Frage ist also, ob man es vorzieht, daß einige Akkorde vielleicht ein wenig besser klingen, und dafür in Kauf nimmt, daß andere auffällig schlechter klingen. Das mag ja jeder für sich entscheiden, aber mit Ideologie und Gleichmacherei hat das nichts zu tun, nur damit, daß es kein Perpetuum mobile geben kann: In etwas, das sich unentwegt bewegen soll, muß man Energie hineinstecken; für Zusammenklänge, die besser klingen sollen, muß man anderen Zusammenklängen etwas an Wohlklang stehlen.

Die temperierte Stimmung ist dafür erstens der einzig gangbare Weg, wenn man alle Intervalle benutzen will, zweitens ist sie heute Standard. Standards eigenwillig ändern zu wollen, kann man "Individualität" nennen, man kann es aber auch treffender mit "Eigenbrödelei" bezeichnen. Die Entwicklung der gleichmäßig temperierten Stimmung ist nicht aus der Übermacht einiger spinnerter Ideologen geboren, sondern aus simpler pragmatischer Not. Ob Kirnberger III besser klingt als Werckmeister III oder Valotti besser als Neidhard 1724 oder Neidhard 1729, darüber darf man getrost die Ideologen der Alten Musik streiten lassen...
 
Hallo Haydnspaß!
Zwei Fragen:
1)Wer ist Bodo Wartke - bzw. welches Video?
2)Wo war eine Frage in meinem Post?
Ganz klare Antwort: Nein, Schönberg war kein Anhänger des Kommunismus
Wenn ich Dich mit dem Fettgeruckten richtig verstehe, müsste ich anfügen:
...außerdem schmälert die politische oder religiöse u. sonstige Ausrichtung eines Künstlers niemals den Wert seiner Kunst.

Das würde wiederum heißen, ich hätte Schönberg irgendwie beleidigt oder ins schiefe Licht gerückt.

Das darf doch nicht wahr sein...

Vergleiche meinen vorigen Post eher mal mit der heutigen Grün-Pinselei. Es gibt fast nichts, daß nicht irgenwie ökologisch ist, selbst wenn dabei Urwälder abgerodet werden. Immerhin kommen dann Ölpalmen dorthin und das ist Biosprit und Umweltneutral. Toll Grün - Toll ÖKO

Ich meine einfach "Zeitgeist" damals und "Zeitgeist" heute.

Im übrigen will ich gar keine politische Diskussion losbrechen (passt auch absolut nicht in diesen Thread) - blos mißverstanden möchte ich nicht werden.

Liebe Grüße
Klaviermacher
 
"Die temperierte Stimmung ist dafür erstens der einzig gangbare Weg, wenn man alle Intervalle benutzen will, zweitens ist sie heute Standard. Standards eigenwillig ändern zu wollen, kann man "Individualität" nennen, man kann es aber auch treffender mit "Eigenbrödelei" bezeichnen. Die Entwicklung der gleichmäßig temperierten Stimmung ist nicht aus der Übermacht einiger spinnerter Ideologen geboren, sondern aus simpler pragmatischer Not. Ob Kirnberger III besser klingt als Werckmeister III oder Valotti besser als Neidhard 1724 oder Neidhard 1729, darüber darf man getrost die Ideologen der Alten Musik streiten lassen...
Es geht nicht blos um ganz alte Musik vor Bach (wo sich in abneigender Weise historiker Streiten sollten), sondern um Klaviermusik bis 1870 - und da gibt es eine ganze Menge. Man muss sich, um von Standards zu sprechen im Zusammenspiel immer auf eine bestimmte Tonhöhe einigen. OK, das ist klar!
Aber was, wenn ein Klavierabend mit Beethoven, Bach, Mozart und Schubert am Programm steht? Da finde solche "Standards" als höchst überflüssig und absolut sinnlos. Auch empfinde ich ein Aufleben verschiedener Temperierungen nicht als Eigenbrödlerei, sondern als Bereicherung.

Abgesehen davon, die gleichschwebende Stimmung wurde schon wesentlich früher erfunden bzw. entdeckt, wurde aber mehr als 100 Jahre lang eher abgelehnt, eben weil die Charakteristika der Tonarten verwaschen wurden und die Musiker und Komponisten das gar nicht schätzen.

Wenn man heute ein stinknormales modernes Klavier, nicht ein Cembalo, mit einer Werkmeister V stimmt, oder einer Young und dann verschiedene Klassiker bzw. Romantiker darauf spielt, oohhh - hättest mal hören sollen, dann würdest Du verstehen, was ich meine. Es klingt einfach toll und nach meinem Gefühl wesentlich authentischer. In der Musik ist mehr Leben, als bei gleichschwebender Temperatur. Auch kommst Du schnell dahinter, wie schnell bzw. langsam das Stück gespielt werden muss, um es eindeutig zu verstehen. Da öffnen sich die Ohren. Klar sind wir heutzutage konditioniert auf gleichschwebend, aber richtig schlecht oder verstimmt klingen sogar Tonarten mit 5 oder 6 Vorzeichen nicht.

Nachdem ich das gehört habe, fand ich es echt zum Kotzen, daß man diese scheinbar unverrückbaren "STANDARDS" eingeführt hat. Nicht wegen Pragmatismus - eher wegen der Bequemlichkeit und dem Umstand verkümmerter Gehörbildung vielleicht. Doch diese beiden will ich nicht zu meinem Meister machen.

Daher habe ich bei meinem letzen Kurs im Konservatorium gleich 6 verschiedene Temperierungen auf modernen Instrumenten gemacht. Die Studenten waren sehr beeindruckt, welche Vielfalt es gab. Selbst die Professoren staunten nicht schlecht, wie gut die Werke zu verstehen waren. Es gab jeweils den direkten Vergleich zur gleichschwebenden Temperatur.

Wir konnten alle eines feststellen: Es ist definitiv etwas verloren gegangen!

Und ich schätze es gar nicht, zu behaupten, es ist nicht Wert es wieder zu finden.

LG
Klaviermacher
 

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