Hasenbein schrieb:
Im übrigen gibt es heutzutage generell eine ungesunde, geradezu religiöse Verehrung des Zählens und Messens, weil dies automatisch für "wissenschaftlich" und somit "wahr" gehalten wird. Das geht so weit, daß nur das, was meßbar bzw. versprachlichbar ist, für existent gehalten wird.[...]
In der Musik ist jedoch sehr schön erkennbar, daß das Entscheidende häufig das Nicht-Meßbare, das Nicht-in-Worte-Faßbare ist!
Es gibt aber auch das Gegenstück hierzu: eine ungesunde, geradezu religiöse Verdammung allen Zählens und Messens, in dem alles unmittelbar Messbare bzw. Versprachlichbare für Unwesentlich erklärt wird.
Dabei kann sich das Nicht-in-Worte-Fassbare ja erst im Zustand völliger Beherrschung der messbaren Komponenten entfalten, und umgekehrt ist die völlige Beherrschung der messbaren Komponenten nichts wert, wenn ihr keine Seele eingehaucht wird. Godowsky z.B. spricht von Technik als "a necessary drill [...] but at the same time quite worthless one unless directed by a brain trained in the principles of the technic of the art" (Great Pianists on Piano Playing, S. 141). Es kann also das eine nicht ohne das andere zur Geltung kommen, diese Auffassung ist doch recht weit verbreitet, oder? Für mich ist diese enge Verschränkung von "Handwerk" im besten Sinne und "Kunst" gerade eine der schönen Seite am Klavierspiel.
Bzgl. technischer Hilfsmittel beim Üben sprach in meinem vorigen Beitrag ja explizit von
Hilfsmitteln, die einen Lehrer niemals ersetzen, sondern nur ergänzen könnten. Es zieht heute ja z.B. auch niemand mehr den Nutzen in Frage, den man hat, wenn man sich regelmäßig aufnimmt und das eigene Spiel anhören kann, ohne mit Spielen beschäftigt zu sein. Oder??? Wenn das kein technisches Hilfsmittel ist...Genau so werden z.B. Kunstturnerinnen nie ohne Trainer und Choreographen arbeiten, aber dennoch nicht für immer auf dem
status quo eines Trainings von anno 1975 beharren wollen. Alte Rennradfahrer-Haudegen haben am Anfang auch als Kuriosität diskutiert, was Perfektionisten wie Armstrong alles begonnen haben (ich rede jetzt von Optimierungen an Sitzposition und kleinsten Materialdetails, von
Modellierung und Simulation von Strecken oder ganzen Etappen in bestimmten Verhältnissen, nicht von unerlaubten Substanzen :p), aber mittlerweile mache das alle (ich rede wieder nur von ersterem :p).
Hasenbein schrieb:
In der Musik beruhen "Optimierungen" nicht auf Meßbarkeit durch Geräte, sondern stets auf audiomotorischem Feinsinn von Menschen. Egal, ob es um Musizieren selber geht oder um Instrumentenbau o.ä. Dies leuchtet hoffentlich schon deshalb ein, weil das entscheidende Kriterium für "besser" ja immer der Höreindruck ist.
Genau, der Höreindruck ist das Entscheidende. Aber erinnerst Du Dich z.B. noch, wie Du als Anfänger (warst Du doch auch mal, oder? :)) erst mal lernen musstest, zu hören, Klang wahrzunehmen? Das ist zumindest dem "Normalmenschen" nicht immer alles gleich offensichtlich. Z.B. knallt doch bei vielen Anfängern über lange Zeiten der Daumen immer durch, wenn er zum Einsatz kommt, "schwer-leicht" bei Vorhalten wird einfach überspielt (passiert mir heute noch oft genug), Läufe sind unregelmäßig in Lautstärke und zeitlicher Abfolge der Töne, elementare Polyrhythmen (um an das Thema dieses Fadens zu erinnern) wie 2:3, 3:4 werden nicht korrekt ausgeführt. Ein Lehrer ist doch lange damit beschäftigt, einem Schüler zu helfen, solche Defizite erst einmal wahrzunehmen. Erst dann kann man sinnvoll an solchen Defiziten arbeiten.
So, und wenn ich als Anfänger nun eine Software hätte, die mir z.B. einen gespielte Lauf oder einen Polyrhythmus nicht nur aufnimmt und wieder abspielt, sondern visualisiert, in Zeitlupe vorspielen kann, auf Abweichungen hinweist und diese ggf. noch verstärkt/parodiert, damit ich sie als Anfänger leichter wahrnehmen kann...und das alles noch jeden Tag, zusätzlich zur wöchentlichen Stunde beim Lehrer....kannst Du mit voller Überzeugung sagen, dass das ein völlig nutzloses Ding wäre und einem Schüler überhaupt nicht helfen könnte, seine Wahrnehmung und seine Technik zu entwickeln?? (vielleicht hätte der Lehrer in der wöchentlichen Stunde dann sogar mehr Zeit, über künstlerische Fragen zu reden, als über holpernde Läufe und dergleichen). Also ich würde so ein Ding jedenfalls begeistert ausprobieren. Möchte ich es selber programmieren? Dann gehe ich doch lieber üben in der Zeit, und warte, dass das jemand anders macht :p
Das alles hilft jetzt Ute mit ihrer konkreten Frage leider nicht besonders weiter....
@wespennest: ich hab nochmal nachgedacht, dabei ist mir was eingefallen, was für dich vielleicht relevant ist: midi ist nur seriell, d.h. es gibt keine gleichzeitigkeit, akkorde sind immer arpeggiert. die auflösung ist natürlich verhältnismäßig fein, aber es ist dennoch hörbar.
Hallo megahoschi,
ich habe früher jede Menge Aufnahmen auf einem Digitalpiano über MIDI gemacht (
hier z.B. eine) und mit ist diese Nicht-Gleichzeitigkeit nie aufgefallen, auch wenn Du wohl recht hast, dass MIDI im Prinzip ein serielles Protokoll zur Datenübertragung verwendet. Hat das vielleicht damit zu tun, dass ich (wie die meisten heutzutage) eine externe Audiokarte als Eingang für das Midi-Kabel verwendet habe, die dann wiederum über USB in den Computer läuft, und dass das dann alles sehr schnell geht? (USB ist ja zigtausende Male schneller als die alte serielle Schnittstelle)