Pianistisches Klangideal in den letzten 100 Jahren

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veloce

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22. Apr. 2010
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Hallo!

Ich hatte in den letzten Monaten die Möglichkeit, mir ziemlich viele verschiedene Klaviere anzuhören, von 130 Jahre alt bis neuwertig.

Dabei schien es mir, als hätte sich das Klangideal in den letzten 100 Jahren stark verändert. Wenn ich an die gut restaurierten alten Instrumente denke, klingen die eigentlich völlig anders als alles, was ich in der neuen Sparte gehört habe.

Es scheint auch so zu sein, dass neue Klaviere heute nicht mehr wirklich intoniert werden. Für mein Ohr klingen sie fast alle gleich. Aber das muss doch dann vom Kunden so gewünscht sein, sonst würde man das ja nicht machen, denke ich. Oder ist das nur Sparsamkeit, weil Intonieren so lange dauert? Bevorzugt man heute eine "pappigere" Intonation, die selbst ein akustisches Klavier ein wenig nach Digitalpiano klingen lässt?

Ich verstehe nicht so recht, warum ich so riesige Unterschiede zwischen alten und neuen Instrumenten höre, und warum das neue alles irgendwie ein Einheitsbrei ist. Bin ich da mit meiner Vorstellung von einem guten Klavierklang 100 Jahre zurück, bilde ich mir das nur ein, oder ist das wirklich eine Entwicklung, die sich so vollzogen hat?
 
Und warum rennen dann alle diesen miesen neuen Klavieren hinterher, aber die alten Prachtstücke sieht man fast nirgends?
 
Tja - ich vermute mal so: Das Instrument muss schnell erkannt werden bei der Suche. Das "Vorbild" ist oft der Steinwaycharakter dieser oder jener Einspielung. Und diesen Charakter kennen die meisten nur aus den Boxen. Wenn dann ein echtes Klavier so klingt, hat es gewonnen. Hinterher kommt man drauf - In der Wohnung ist es zu laut und die Stärken des leisen und feinen Klanges, der dynamischen Möglichkeiten beherrscht es nicht.

Außerdem - Es gibt nicht mehr SO viele gute alte Klaviere wie manchmal geglaubt wird. Die meisten übrig gebliebenen oder wenigen noch auf den Markt drängenden werden in diesen Tagen so überarbeitet, dass sie sich nahtlos in den Einheitsbrei ordnen.:rolleyes:

LG
Michael
 
Ich weiß nicht, ob man so pauschal sagen kann, dass man es heute in Sachen Klavierklang nur noch mit Einheitsbrei zu tun hat.

Bei den asiatischen und einigen ameríkanischen Marken mag das sicher so sein, aber die meisten europäischen Marken können doch auf eine lange Tradition zurückblicken, wodurch schon ein gewisses Maß an individueller Authentizität gewahrt wird.

Sicherlich hat sich das Klangideal in den letzten hundert Jahren verändert, aber es gibt ja bekanntlich so gut wie nichts auf der Welt, was über einen längeren Zeitraum immer absolut gleich bleibt.
Meistens gefällt uns auch das alte, liebevoll und größtenteils noch in Handarbeit hergestellte Instrument besser, als das neue, irgendwie steril wirkende Massenprodukt.

Generell glaube ich allerdings schon, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Sachen Musik bzw. Klangkultur zusehends anspruchsloser wird.
 
@ Generell glaube ich allerdings schon, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Sachen Musik bzw. Klangkultur zusehends anspruchsloser wird.

Da hast Du wohl leider Recht, nicht nur was dieses spezielle Problem betrifft - wenn ich so mitbekomme, was meine Enkel im Klavierunterricht "lernen" - überwiegend grauslich versimplifizierte aktuelle Hits, Bach Mozart ... auch nach mehreren Jahren Unterricht Fehlanzeige.

LG

Pennacken
 
Hallo Veloce,

Es scheint auch so zu sein, dass neue Klaviere heute nicht mehr wirklich intoniert werden. Für mein Ohr klingen sie fast alle gleich. Aber das muss doch dann vom Kunden so gewünscht sein, sonst würde man das ja nicht machen, denke ich. Oder ist das nur Sparsamkeit, weil Intonieren so lange dauert? Bevorzugt man heute eine "pappigere" Intonation, die selbst ein akustisches Klavier ein wenig nach Digitalpiano klingen lässt?


Dieses Thema ist wirklich mal einen eigenen Faden wert, deshalb hab` ich darin gleich fett herummarkiert! Was das sogenannte "heutige Klangideal" betrifft, halte ich das für eine fade Ausrede bei unterentwickeltem eigenständigem Klangempfinden. Ich glaube, die Leut` machen sich oft gar keine Gedanken und spüren es noch weniger, dass der Klang eines Instruments quasi unmittelbar in den Körper und mittelbar in den Geist eindringt. Das klingt esoterischer als es gemeint ist, ich bin da ganz bodenständig und gehe vom physikalischen Schall aus.
Im Grunde hat doch schon auch ein jeder Vorlieben (von denen er vielleicht nichts weiß) bezüglich verschiedener Instrumente. Ich beispielsweise bin eher der Cello-Typ, sehr schön auch finde ich diese riesigen Holz-Xylophone. Was ich nur in niedriger Dosis vertrage sind Trompeten, Saxophon oder andere "Pressklänge". Und natürlich möchte ich auf meinem Klavier, mittlerweile Flügel, all die Komponenten die für mich zur Klangschönheit beitragen einzeln in die Filze "graviert" haben. Der Klang des Instruments hat also etwas mit mir zu tun, es zählt am wenigsten ein äußeres Ideal, im Gegenteil, ich muss mir selbst eine Vorstellung und Empfindung verschiedener Klangcharakter entwickelt haben, um den Klang meines Instrumentes zu bestimmen. Und die Auswahl soll dann so vielfältig sein, wie die Vielfalt menschlicher Stimmen.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, wenn jemand, wie Michael es beschreibt, nach folgendem traurigen Muster vorgeht

Das "Vorbild" ist oft der Steinwaycharakter dieser oder jener Einspielung.

Das kommt mir so widernatürlich und in gewisser Weise leider verkümmert vor. Schlimm ist es da um die Musik bestellt, denn was soll denn rauskommen, wenn schon bei der Wahl des Klangmediums nur äußere Vorbilder herhalten müssen. Viel innere Musik ertönt da wohl nicht. Für zigtausende Euronen kaufen sich die Menschen ihre Instrumente und die klingen dann so grausig, dass man es sich nicht anhören kann. Ein halbes Vermögen blättert man auf den Ladentisch für fabrikneue Totgeburten und flächendeckende Klangmonokultur. Nicht die Uniformität an sich stört mich, die ist auch nicht fein, aber wirklich entsetzlich finde ich die dahinterstehende Ignoranz und Bequemlichkeit der Entwicklung und Reifung eines eigenen Klangempfindens. Wie sich das dann im Einzelfall anhört ist höchstsubjektiv, klar, aber eben alles andere als der pandemisch verbreitete ach so brillante Einheitschrei, äh, -brei.

LG, Sesam
 
Das kommt mir so widernatürlich und in gewisser Weise leider verkümmert vor. Schlimm ist es da um die Musik bestellt, denn was soll denn rauskommen, wenn schon bei der Wahl des Klangmediums nur äußere Vorbilder herhalten müssen. Viel innere Musik ertönt da wohl nicht. Für zigtausende Euronen kaufen sich die Menschen ihre Instrumente und die klingen dann so grausig, dass man es sich nicht anhören kann. Ein halbes Vermögen blättert man auf den Ladentisch für fabrikneue Totgeburten und flächendeckende Klangmonokultur. Nicht die Uniformität an sich stört mich, die ist auch nicht fein, aber wirklich entsetzlich finde ich die dahinterstehende Ignoranz und Bequemlichkeit der Entwicklung und Reifung eines eigenen Klangempfindens. Wie sich das dann im Einzelfall anhört ist höchstsubjektiv, klar, aber eben alles andere als der pandemisch verbreitete ach so brillante Einheitschrei, äh, -brei.

Oh Sesam,
von dir hätte ich am allerwenigsten erwartet, dass du zu "Sarrazieren" anfängst.
Ich bin sehr dafür, fair zu bleiben - auch schon im voraus gegenüber unseren Nachfahren, die ganz gewiss auch irgendwann mit nostalgischen Krokodilstränen auf unsere derzeitigen Jahre als "gute alte Zeit" blicken werden. Richtig ist, dass es derzeit Gruseliges auf dem Piano-Markt gibt. Das war aber schon immer so, auch vor hundert Jahren. Richtig ist auch, dass es gerade zurzeit sehr engagierte Entwicklungen bei ambitionierten Herstellerfirmen gibt. Mit sehr respektablen Ergebnissen.
Richtig ist ferner, dass zurzeit das Spektrum der Klavierklang-Unterschiede recht eng ist. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sich da im Laufe der Jahre/Jahrzehnte wieder Vielfältigkeiten auftun werden.

Wir leben halt in unserer Zeit, und nicht vorvorgestern. Und wir könnten doch wohl auch bedachtsam versuchen, das gute in der Gegenwart herauszudestillieren, also das, wovon unsere Nachnachnachfahren nostalgisch schwärmen werden.

Gruß
Martin
PianoCandle


... nicht jeder Klang ist Krach
 
Richtig ist ferner, dass zurzeit das Spektrum der Klavierklang-Unterschiede recht eng ist.

Zustimmung.

Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sich da im Laufe der Jahre/Jahrzehnte wieder Vielfältigkeiten auftun werden.

Keine Zustimmung.

Überall, in allen Bereichen der Kultur, verengen sich Spektren und werden sich weiter verengen.

Das liegt an der sog. "Globalisierung".

Früher waren Kulturen wirklich voneinander getrennt und konnten sich daher sehr individuell entwickeln. Deshalb war China tooootal anders als z.B. Deutschland.

Heutzutage wird durch die globale Kommunikation und durch multinationale Wirtschafts-Verflechtungen alles gleichgemacht zu einem Einheitsbrei, der in den jeweiligen Regionen allenfalls noch einen speziellen "Touch" hat (der dann kommerziell-touristisch ausgeschlachtet wird und daher auch nicht mehr authentisch ist).

Da die Klavierindustrie auch global arbeiten muß, um zu überleben, ist sie auch ein Stück weit zu Einheitsbrei-Produktion gezwungen. Alles andere ist zu risikoreich (es sei denn, man schafft es, sich irgendwie im Premiumsegment als Connaisseur-Spezialität zu positionieren).

LG,
Hasenbein
 
Oh Sesam,
von dir hätte ich am allerwenigsten erwartet, dass du zu "Sarrazieren" anfängst.

:confused: bitte nicht übers Ziel hinausschießen, lieber Martin.

Zitat von PianoCandle:
Ich bin sehr dafür, fair zu bleiben - auch schon im voraus gegenüber unseren Nachfahren, die ganz gewiss auch irgendwann mit nostalgischen Krokodilstränen auf unsere derzeitigen Jahre als "gute alte Zeit" blicken werden.

:confused: es handelt sich ja nicht um die nachträgliche Idealisierung von etwas letztlich Unbekanntem und längst Vergangnem, sondern um den höchst lebendigen Vergleich zweier Klangeindrücke: neuer/fabrikneuer Instrumente und alter Instrumente > 80 Jahre. Insofern passt dein Hinweis bzgl "nostalgischer Krokodilstränen" nicht gut. Denn was bitte hat ein aktueller Höreindruck mit Nostalgie zu tun??

Zitat von PianoCandle:
Richtig ist, dass es derzeit Gruseliges auf dem Piano-Markt gibt.

Eben.

Zitat von PianoCandle:
Das war aber schon immer so, auch vor hundert Jahren.

Macht die Sache auch nicht besser.

Zitat von PianoCandle:
Richtig ist auch, dass es gerade zurzeit sehr engagierte Entwicklungen bei ambitionierten Herstellerfirmen gibt. Mit sehr respektablen Ergebnissen.

Beispielsweise?

Zitat von PianoCandle:
Richtig ist ferner, dass zurzeit das Spektrum der Klavierklang-Unterschiede recht eng ist. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sich da im Laufe der Jahre/Jahrzehnte wieder Vielfältigkeiten auftun werden.

Warum ist das Spektrum jetzt so eng? Hast du dafür eine Erklärung??

Zitat von PianoCandle:
Wir leben halt in unserer Zeit, und nicht vorvorgestern. Und wir könnten doch wohl auch bedachtsam versuchen, das gute in der Gegenwart herauszudestillieren, also das, wovon unsere Nachnachnachfahren nostalgisch schwärmen werden.

siehe oben. Themaverfehlung.

LG, Sesam


P.S. Dass mein Ton dir gegenüber etwas ruppig ist, liegt daran, dass ich mich ungern in Zusammenhang mit Figuren wie Sarrazin gebracht sehe. Das ist reichlich daneben!
 
P.S. Dass mein Ton dir gegenüber etwas ruppig ist, liegt daran, dass ich mich ungern in Zusammenhang mit Figuren wie Sarrazin gebracht sehe. Das ist reichlich daneben!

Was ist an Sarrazin so schlimm?

In seinem Buch steht neben manchem offensichtlich Zutreffendem einiges Unsinnige, das ist richtig.

Aber ihn zur Unperson aufzubauschen, wie Du das tust, heißt nur, daß man sich von bestimmten Politikern und Medien erfolgreich hat indoktrinieren lassen.

LG,
Hasenbein
 

Alles, was Sarrazin betrifft, bitte an anderer Stelle klären. Erfahrungsgemäß ufert das am Ende doch aus.

Aber wie es aussieht, stehe ich mit meiner Meinung nicht allein da.

Steinway fand ich nie so wirklich toll. Sauber und rein, aber dann doch seelenlos, zumindest, was ich gehört habe.

Mir gefallen die Klaviere, die nicht so gefällig sind, die Charakter haben, die man erst kennenlernen muss um sie zu schätzen.

Und was ist eigentlich mit Blüthner passiert? Die neuen Klaviere von denen klingen ja teilweise.... scheußlich!??
 
Ich werde mal etwas weiter ausholen;):

Angefangen hat es damit, dass ein Konzertflügel unbedingt ein Orchester von 100 Mann Paroli bieten sollte. Die großen Klavierkonzerte würden dies erfordern. Man kann ja sonst das Klavier nicht hören, und die gebauten Säle waren auch immer mehr gewachsen... Die Firma Steinway trug alles zusammen was dieses Ziel "mehr Lautstärke" verbesserte und tüftelte und tüftelte. Heraus kam ein ganz bestimmter Aufbau - Resonanzbodenstärke, Saitenstärke, Gussrahmenkonstruktion und eine ganz bestimmte Anschlagsstelle der schwingenden Saite. Eine dazu passende Mechanik mit einem dazu passenden schweren Hammer. Verstärkeranlagen gab es noch nicht. Wir schreiben das Jahr 1880.

Jede größere und bekanntere Firma hatte zu dieser Zeit ihr eigenes Klangideal und deren Erfindungen förderten vornehmlich diese spezifische Klangcharakteristik. Es war mehr oder weniger regionaler musikalischer Geschmack, der zum Ausdruck kam und zur Blüte erwuchs. Dieser hatte nichts oder nur marginal mit Lautstärke zu tun. Der noch nicht so offensichtlich durchschlagende Erfolg von Steinway spielte zur Zeit der Hochblüte des Klavierbaus um 1900 keine Rolle. Alle Firmen die recht ordentliche Instrumente bauten erfreuten sich übervoller Auftragsbücher.

Erst mit dem Niedergang der Klavierhochkonjunktur, dem Radio und anderer Medien wie Schallplatten und Tonaufzeichnungsgeräten trat der offensichtliche Vorteil in Konzertsälen präsent zu sein zum Vorschein.

Eine Weile noch - manche Firmen taten das noch viele Jahrzehnte - hielt man an den eigenen Entwicklungen fest. Schlussendlich versuchte aber jede dieser Firmen auch in Konzertsälen ein Wörtchen mit zu reden und schufen Flügel, die dazu in der Lage wären. Immer mehr und immer mehr wurden sie zu Pseudosteinways.

Wieso das?

Wenn man ein Auto in den Windkanal steckt um den Luftwiderstand zu reduzieren und die günstigste, windschlüpfrigste Form zu erhalten passiert genau das Gleiche.. Alle Autos sehen irgendwie gleich aus.

Mit dem Charakter eines Klaviertones ist das ähnlich. Wie bekomme ich die größte Lautstärke aus dem kleinsten Kasten heraus - ja man macht dies und jenes - soviel Möglichkeiten hat man physikalisch nicht - und diese Tätigkeit der Optimierung der Lautstärke und Geschrei um (Mein 110er Kasten ist lauter als dein 130er) wurde mehr und mehr zum Nonplusultra erklärt und gekauft.

Wenn man es so betrachtet, ist das Charakterklavier von vor hundert Jahren ein Opfer der Medien, der Globalisierung und wer weiß was noch geworden. Kann sein, dass Nischenprodukte in Zukunft wieder Erfolg versprechen. Aber so wie jetzt überall gebaut wird ist da noch nichts abzusehen, weit und breit nicht.

LG
Michael
 
@Sesam:
Entschuldige, wenn ich dir auf die Füße getreten bin mit dem Begriff "Sarrazieren". Aber ich finde, diese Bemerkung:

"Ein halbes Vermögen blättert man auf den Ladentisch für fabrikneue Totgeburten und flächendeckende Klangmonokultur"

hättest du dir wirklich sparen können. Ich denke, wenn ich daraufhin ein Lanze für die Qualitäten der Gegenwart breche, ist das keine "Themaverfehlung".
Sag die zitierte Bemerkung doch mal den Entwicklern bei Steingraeber. Oder den Leuten bei Schimmel, in anbetracht deren neu konstruierter Instrumente. Oder den Leuten bei Bechstein, im Hinblick auf ihr überarbeitetes Concert-8-Modell. Oder den Leuten von Wendl & Lung anlässlich ihres Paulello-Flügels.
Dies sind nur vier Beispiele (du wolltest ja welche) - und wenn du die Instrumente der genannten Beispiele nebeneinander stellst, dann glaube ich schon, dass du die Unterschiede in Klang und Philosophie buchstäblich mit Händen greifen kannst.

Ich selbst bin zweifelsfrei ein Fan älterer Pianos mit wunderbar deutlichen Marken-Unterschiedlichkeiten. Z. B. teile ich, wie du sicher weißt, deine Begeisterung für ältere Blüthner-Instrumente. Und ich bin darüber hinaus ein begeisterter "Neugieriger" gegenüber vielen alten seltsamen oder sinnreichen Konstruktionen und Schmankerln, die allermeist gar nicht gesehen, geschweige denn gewürdigt, und vielfach in Bausch und Bogen über Bord geworfen werden. (Beispiele irgendwann in einem anderen Faden.)
Aber es gibt auch die andere Seite. Ich habe auch schon Altes gesehen, was mich das Gruseln lehrte. Nur ein Beispiel: Seit Jahrzehnten lösen alte wurzelholzfurnierte Klaviere bei vielen Menschen Begehrlichkeiten und leuchtende Augen aus. Schon seit meiner Anfangszeit als Klavierstimmer habe ich ein großes Misstrauen dagegen entwickelt. Weil ich schnell feststellte, dass diese äußerlich ach so hübschen Instrumente überzufällig häufig innerlich, äh, traurig waren. Woraus ich schloss: Billigware gabs seit eh und je, auch vor unzähligen Jahren wurde schon schöner Schein vermarktet.

Und mein Umkehrschluss: Gutes, das Differenzierung und Würdigung verdient, gibt es auch heute. Und wird es auch in Zukunft geben, und dann wiederum so anders, wie wir uns das heute noch gar nicht vorstellen können, aber auch nicht müssen.

Nichts für ungut, Sesam. Danke für deine Kritik.

Gruß
Martin
PianoCandle


... und aus Krach wird Klang
 
@Sesam:
Entschuldige, wenn ich dir auf die Füße getreten bin mit dem Begriff "Sarrazieren". Aber ich finde, diese Bemerkung:

"Ein halbes Vermögen blättert man auf den Ladentisch für fabrikneue Totgeburten und flächendeckende Klangmonokultur"

hättest du dir wirklich sparen können.

Bin ich nun auch ein Sarrazist oder Sarrazenist oder sowas esoterisches, wenn ich mich der Aussage von Sesam vollinhaltlich anschließe? :D

Übrigens, ich anerkenne die Bemühungen einzelner, die dem Erfindergeist und Fortschritt dienen durchaus, aber was ich vornehmlich sehe sind gleiche Gleichklaviere mit unterschiedlich erhoffter Dauerhaftigkeit und unterschiedlichem Preis. Der Unterschied in Klangschönheit bzw. im Charakter ist hingegen marginal.

Der nächste Schritt, der schon beschritten ist sind chinesische Steinways mit einer Null weniger am Ende der Preisauszeichnung - nicht von Steinway sondern von anderen Herstellern auf den Markt gebracht.

Die Frage so manches Verkäufers: "klingt das nicht total wie Steinway" oder "dieses (markenunbekannte) Klavier klingt doch wie ein Steinway" erhofft ein zustimmendes "ja" - und so kann man bald Steinways in allen Preisklassen erwerben.

LG
Michael
 
Bin ich nun auch ein Sarrazist oder Sarrazenist oder sowas esoterisches, wenn ich mich der Aussage von Sesam ("Ein halbes Vermögen blättert man auf den Ladentisch für fabrikneue Totgeburten und flächendeckende Klangmonokultur") vollinhaltlich anschließe?

Das weiß ich nicht, Michael - aber du kannst darüber ja selbst entscheiden. Und deine Frageform lässt immerhin noch offen, ob du genau diese Formulierung vollinhaltlich mitträgst. Warum solltest du das denn tun? Hat das was mit Sesam zu tun, oder mit mir? Oder findest du tatsächlich, dass genau diese Formulierung deine Berufsphilosphie, als überreigional agierender Klavierbau-Experte und regionaler Fachgeschäfts-Inhaber, in einem wichtigen Teil korrekt rüberbringt, für die Augen der Internet-Weltöffentlichkeit?

Kollegialer Gruß
Martin
 
Das weiß ich nicht, Michael - aber du kannst darüber ja selbst entscheiden. Und deine Frageform lässt immerhin noch offen, ob du genau diese Formulierung vollinhaltlich mitträgst. Warum solltest du das denn tun? Hat das was mit Sesam zu tun, oder mit mir? Oder findest du tatsächlich, dass genau diese Formulierung deine Berufsphilosphie, als überreigional agierender Klavierbau-Experte und regionaler Fachgeschäfts-Inhaber, in einem wichtigen Teil korrekt rüberbringt, für die Augen der Internet-Weltöffentlichkeit?

Kollegialer Gruß
Martin
Hallo Martin,

Irgendwas hast Du da vermutlich falsch verstanden. Es hat mit Dir nichts zu tun, mit Sesam nichts zu tun, mit überregionalem Expertentum nichts zu tun und mit Geschäftsinhaberei nichts zu tun und wozu soll ich irgendjemand das Goderl kratzen?

Nein - es ist meine Überzeugung, die ich mitteile und die ich so gut als möglich lebe, die ich höre und die ich fühle - und die auch Veränderungen unterworfen ist. Ich berate nicht, indem ich jemand nach dem Mund rede - das ist es was mir ein Gräuel ist. Lies meine Beiträge zu dem Thema und Du bekommst ein genaueres Bild von dem, was ich ausdrücken will.

LG
Michael
 
Ein halbes Vermögen blättert man auf den Ladentisch für fabrikneue Totgeburten und flächendeckende Klangmonokultur.
LG, Sesam

Ich finde das auch sehr treffend formuliert! Besonders, da ich selbst noch so eine Totgeburt am Hals habe, einfach weil ich seinerzeit aus Unwissen und mangelnder Vergleichsmöglichkeit darauf reingefallen bin, als ein seelenloser Plastikton in einer Pressspanschachtel verpackt als das Maß aller Dinge präsentiert wurde. Und dann werden die alten Instrumente mitleidig belächelt.

Dazu kommt noch, dass es hier in der Gegend genug Klavierbauer gibt, die die alten Teile kaputtreparieren, so dass sie am Ende noch mieser klingen und nur mit einer neuen Plastikoberfläche glänzen können. Das trägt auch nicht zum guten Ruf ihrer Fähigkeiten als Instrument bei. Finde ich aber auch bezeichnend für das Fach des Klavierbauers, dass es da so unheimlich viele schwarze Schafe gibt.
 
Danke für die Äußerungen.
Gut zu wissen, dass es unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen gibt. Zu der meinigen (was den Respekt vor den Klängen heutiger real existierender Neu-Pianos betrifft) sagte ich bereits in den vorigen beiden Postings etwas. Zweierlei möchte ich noch nachreichen.

a) Totgeburt - so ein Begriff sagt sich schnell, solange dadurch keine vermeidbaren Nebenklänge ausgelöst werden. Bei Menschen, die einmal eine Totgeburt erlebt haben, wäre dies ganz gewiss nicht lapidar möglich, denn so etwas verursacht beträchtliche Schmerzen und lang anhaltendes Leid. Und das sollte Grund genug sein, einen solchen Begriff, wenn überhaupt, dann nur in handverlesenen Einzelfällen im übertragenen Sinne zu verwenden.
Solche Fälle habe ich in meinen dreißig Tätigkeitsjahren zwei(!) mal erlebt. Im ersten Fall, ca. 1985 in Hamburg, hatte sich eine sehr gering verdienende Pflegedienstbeschäftigte ein Auto verkniffen und sich stattdessen, gutgläubig, ein billiges Neuklavier vom Munde abgespart. Es war ein China-Produkt, aber das konnte sie nicht wissen. Als ich zur Erststimmung kam, erlebte ich hinter der Hochglanz-Fassade unbearbeitetes Splitter-Holz, und eine an vielen Stellen lose, unstimmbare Bewirbelung. Dem damit verbundenen zutiefst enttäuschten Leiden messe ich den Analogbegriff "Totgeburt" durchaus als angemessen zu. Im zweiten Fall, ebenfalls in den 80er Jahren in HH, feierte ein lateinamerikanischer Student seinen dreißigsten Geburtstag. Seine ganz gewiss nicht wohlhabenden Freunde aus dem Latino-Verein legten zusammen und trieben die stolze Summe von 2000 Mark auf, um ihm ein Klavier zu schenken. Das kauften sie dann gebraucht im Fachhandel, und ich wurde von ihm später zum Stimmen gerufen. Was ich vorfand, war ein kaum nutzbarer Schrotthaufen, der selbst nach den damaligen überteuerten Maßstäben allenfalls wenige hundert Mark hätte kosten dürfen. Gesagt habe ich ihm das nicht, um ihn nicht zutiefst zu enttäuschen, sondern ich habe halbwegs einfallsreich das Bestmögliche draus gemacht. Aber meine Entrüstung hält bis heute vor. "Totgeburt" ist hier zwar nicht ganz die richtige Analogie, aber was ähnlich Kraftvolles würde ich schon finden, wenn ich wollte.

b) Zu dir, veloce: Du selbst wirst bestimmt wissen, ob dein Klavier zu solchen krassen Fällen zählt, oder ob es vielleicht doch einen guten Kern hat, der sich mit vertretbarem Aufwand herauskitzeln lässt. Mir macht es viel mehr Freude, selbst in vermeintlich aussichtslosen Gegebenheiten positiv-konstruktive Ansatzpunkte zur Steigerung zu suchen, anstatt den Stab über allem zu brechen. Und auch unter den vielen Fachleuten sind ganz gewiss die meisten so gestrickt, dass sie guten Gewissens das tun, was sie können, was naturgemäß nicht immer das Optimale sein muss. Nur die allerwenigsten werden sich selbst in der Rolle eines schlitzohrigen Schwarzschafes wohlfühlen. Meine Devise, hierzu und in anderen Fällen, lautet: Such das Gute, dann findest du es auch. Das Schlechte brauchst du nicht zu suchen, es wird sich dir aufdrängen. Und je mehr du dich für das Gute stark machst, desto weniger hast du es nötig, das Schlechte anzuprangern.


Gruß
Martin
PianoCandle


... und aus Krach wird Klang
 
Hallo zusammen,

die kurze Zusammenfassung der Klavier- bzw. Flügelbaugeschichte von klaviermacher fand ich hochinteressant - - eine kleine Korrektur: das fing schon kurz nach 1870 an, 1875/76 lagen die ersten modernen Konzertflügel vor.

Was mich aber bestürzt, ist der Ausdruck "Totgeburt", und dann obendrein auch noch eine grausam teuere Totgeburt (halbers Vermögen etc.)

Ganz im Gegenteil halte ich die heutigen Konzertflügel von Steinway und Bechstein weder für Totgeburten, noch für schlecht oder uniform klingend - allerdings spielt dabei auch eine nicht unerhebliche Rolle, wie man mit solchen Instrumenten umgeht.

Gruß, Rolf
 

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