Neue Musik

  • Ersteller des Themas Romantikfreak98
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allerdings brauch man einiges an Ausdauer und Überwindung, um sich in die Musik von Wyschnegradsky und Co. einzuhören, denn zunächst einmal klingt das einfach nur wie ein ziemlich übel verstimmtes Klavier...
Da bin ich vermutlich schon ein Stückchen weiter, denn diese Einspielung schlägt mich z.B. gleich "in den Bann", und sie gefällt mir sehr gut. Ich erkenne bzw. erspüre den musikalischen Plan an einigen Stellen, effektvoll "zwischen" dem gewohnten Tonsystem komponieren zu wollen, und sich aus dem gewohnten Tonbild heraus- und wieder hineinzubewegen.

Den akkordischen Abwärtslauf bei 0:55 bis 1:00 finde ich absolut faszinierend; ein so fein abgestufter Abwärtslauf ist eben unmöglich in der zwölfstufigen Stimmung, und klingt für mich hochinteressant.
 
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Zurück zum unmodifiziert zwölftönigen Klavier.
Ich zeige hier ein Beispiel wie ich mit Atonalität und Tonalität spiele.
Es zeigt sich, dass sich jede atonale Situation im Nahbereich auch tonal auffassen lässt.
ato_ton.jpg

Das Beispiel ist aus dem 3. Satz meiner Sonate, der sich am weitesten von der Tonalität entfernt und doch immer wieder ausgeprägte Melodien bringt.

Grüße
Manfred
 
Hier sind aber viele Dissonanzen am Werk, in diesem Thread. Und wo kommt die Auflösung? Ich dachte, über Geschmack kann man nicht streiten. Dissonanzen zu mögen oder nicht, ist das eine Geschmacksangelegenheit oder eine "intellektuelle" Angelegenheit? (Also wenn ich mir traditionelle chinesische Oper anhöre, dann erübrigt sich diese Frage für mich - nach der chinesischen Oper kann ich mir Bartoks "Wunderbaren Mandarin" rauf und runter anhören - ich finde ihn auf einmal fantastisch.) :musik::lol:
 
Um mal etwas zur Begriffsentwirrung beizutragen:
  • Unter dem Begriff Moderne wird seit Baudelaires Zeiten die konfrontative Haltung des Künstlers gegenüber einem auf Unterhaltung, Affirmation und Selbstbestätigung fixierten Publikum verstanden.
  • Neu bedürfte keiner Erklärung; allerdings hat sich der Begriff Neue Musik zur Beschreibung einer Stilepoche eingebürgert - nämlich für die (abendländische) Kunstmusik seit etwa 1910. Das Neue in der Neuen Musik besteht nicht nur aus der vielerorts so gefürchteten Dissonanzenhäufung, sondern auch aus zunehmender Konstruktivität und Informationsdichte, dem Verzicht auf Sprachähnlichkeit und unmittelbare Gefühlskundgabe, in der allerneuesten Musik wiederum aus der Zurücknahme der Informationsdichte und dem teilweisen Verzicht auf den Verzicht.
  • Von Tonalität spricht man eigentlich nur bei der auf eine Grundtonart bezogenen Musik - samt Nebenstufen, Alterationen, harmonischer Ausweichungen, Modulationen. Alle harmonischen Phänomene stehen in Beziehung zueinander; sie sind durchhierarchisiert.
  • Bei Musik, die sich an den sogenannten Kirchentonarten oder anderen Skalen (Rimsky-Korsakow-Tonleiter etc.) orientiert und vorallem das notorische Kadenzieren vermeidet, spricht man von Modalität.
  • Als atonal (besser: atonikal) gilt Musik, die ein tonales Zentrum oder den Wechsel zwischen mehren tonalen Zentren (oder auch die Abhängigkeit von Zentraltönen oder Zentralklängen als Tonalitätsersatz) meidet. Gängigstes Mittel zur Tonalitätsvermeidung in der temperierten Skala ist das Arbeiten mit 'Sets' (skalenartige Auswahl von Tönen) oder die gleichberechtigte Behandlung der zwölf Halbtöne, deren reihentechnische Systematisierung also nur ein Sonderfall der Atonalität ist. Die atonikale Musik ist nicht hierarchiefrei, wie früher gern behauptet wurde. Im reinen atonalen Tonsatz sind Oktaven, Dreiklänge und Vierklänge wie der Donimantseptakkord - als geschichtlich belastetes Material - verpönt, weil sie tonale Hörerwartungen wecken, ohne sie erfüllen zu können.
  • Der Begriff Dissonanz kann überhaupt nur in einem bestimmten stilgeschichtlichen Kontext Verwendung finden. Zu Zeiten der frühen abendländischen Mehrstimmigkeit galt die Terz als dissonant. Ab dem Frühbarock, dem Beginn eines spezifisch harmonischen Denkens in der abendländischen Kunstmusik, gab es immer neue und meistens falsche, ziemlich praxisferne Versuche der Kodifizierung von Dissonanzen als in die Konsonanz auflösungsbedürftiger Klange - praxisfern insofern, als die Kodifizierung der kompositorischen Praxis hinterherzuhinken pflegte (der Mißklang oder die fehlerhafte Stimmführung von heute sind approbierte Technik bzw. das Tonmaterial von morgen), falsch insofern, als sich musikalische Schönheit gerade in den hinzugefügten Tönen und schmerzvollen Vorhalten offenbarte, in der immer kunstvoller hinausgezögerten Kadenz. "Das Kriterium für die Annahme oder Ablehnung der Dissonanzen ist nicht ihre Schönheit, sondern ausschließlich ihre Faßlichkeit" (Arnold Schönberg)
  • Aggressivität ist nur ein Wesensmerkmal der neuen Musik - und ein nicht zwingend notwendiges. Aggressivität richtet sich gegen das oberflächliche Amüsierbedürfnis; sie formuliert den künstlerischen Anspruch, ernstgenommen zu werden, sofern sie nicht - wie es in minderschweren Fällen geschieht (Filmmusik bei Verfolgungsjagden etc.) - ein wiederum leicht zu genießender Nervenkitzel ist
Aus alledem folgt: Musik kann dissonant und aggressiv, aber harmonisch eher schlicht sein (Bartók, "Allegro barbaro"), satztechnisch und harmonisch komplex, dissonant und zugleich sehr aggressiv (wie manches bei Schönberg, wobei sich Aggressivität und Schönheit nicht ausschließen), oder auf derselben Materialgrundlage sehr eingängig (wie in Bergs Violinkonzert), tonal und dissonanzenfreudig (wie vieles bei Reger, auf andere Weise bei Honegger und Prokofieff); die Gleichsetzung von modern, neu, dissonant, aggressiv und häßlich ist einfach grober Unfug.

Ferner: Niemand wird gezwungen, irgendetwas zu mögen. Man sollte nur wertende Äußerungen über das vermeiden, was sich einem nicht unmittelbar erschließt (und mit Tomaten auf den Ohren kann man auch ein Leben lang an etwas vorbeihören!). Ein Minimum an Verständnisbereitschaft gehört jedenfalls dazu, um dem Phänomen "Neue Musik" gerecht zu werden. Ein Wesensmerkmal der künstlerischen Moderne (von gewissen lebensreformerischen Ideen der 20er Jahre abgesehen) ist - quer durch alle Disziplinen - die Idee der Hermetik. Als die bürgerlichen Mäzene in Gestalt des Konzertsaalpublikums anfingen, den Komponisten gleichsam auf eine ihnen zugängliche Verfahrensweise und einen gewissen Materialstand festzulegen (Fixierung auf einprägsame, undurchbrochene Oberstimmenmelodik, mit klaren, durch Kadenzharmonik bekräftigten Zäsuren), rebellierten die Künstler dagegen mit einer Zunahme der satztechnischen und harmonischen Komplexität, modern ausgedrückt: mit einer Zunahme der Informationsdichte (ungewöhnliche thematische Charaktere, Polyphonisierung der Mittelstimmen, harmonische Ausweichungen, Hinauszögern der Kadenz). Dieser Prozeß beginnt schon beim späten Beethoven, in den letzten Streichquartetten und Klaviersonaten. Adorno sieht die Musik seit Schumann "auf der Flucht vor dem Warencharakter der Banalität". Was dabei verlorenging, war nach einer Periode zunehmender satztechnischer und harmonischer Differenzierung die Tonalität selbst, ungefähr gleichzeitig bei Ives, im Schönberg-Kreis und bei Skrjabin und dessen Umfeld. Auch Bartók, Strawinsky u.v.a. haben in dieser Zeit zumindest die Funktionstonalität aufgegeben. Der zweite große Modernisierungsschub setzte um 1950 mit Cage und Messiaen, Boulez und Stockhausen ein: völliger Verzicht auf die Sprachähnlichkeit von Musik, auf die unmittelbare Gefühlskundgabe, Selbstzurücknahme des Künstlers als Subjekt.

Die zunehmende Selbstisolierung der Komponisten spezifisch Neuer Musik, die Tatsache, daß das Massenpublikum den Komponisten nicht mehr folgen mochte, belegt überhaupt nichts und ist meistens sogar ein Scheinargument, das Ressentiments überdecken soll. Zum einen war das Massenpublikum noch nie von seinen komponierenden Zeitgenossen angetan. Das Gros der Deutschen um 1870 hat weder Wagner-Opern noch Bruckner-Symphonien gehört, sondern Diederich-Heßling-artig, mit dem Bierhumpen in der Hand, zu den Klängen deftiger Blasmusik herumgegrölt. Zum andern: In einer ausdifferenzierten Gesellschaft hat doch jedes Subsystem, das irgendwo sein bescheidenes Nischendasein führt, eine Daseinsberechtigung - warum nicht auch die Neue Musik samt ihrer überschaubaren Fangemeinde? Ein Problem sehe ich höchstens in der Tatsache, daß viele gußeiserne Avantgardisten ihre Marginalität nicht erkennen, geschweige denn reflektieren, ferner daß die von ihnen proklamierte Moderne längst in Modernismus umgeschlagen ist, sprich: ihre eigenen Madrigalismen entwickelt hat, was dem künstlerischen Selbstverständnis dieser Komponisten zuwiderlaufen müßte, und auch diesen Sachverhalt erkennen und reflektieren sie nicht.

Ein Fall für sich ist die Antimoderne - das bis jetzt meines Wissens noch am wenigsten erforschte Subsystem im labyrinthischen Gebäudekomplex der Moderne (es gibt noch nicht einmal einen Wikipedia-Artikel dazu, @Dreiklang, übernehmen Sie!), entstanden aus einem polemischen Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der entgrenzten Vor(-erste-Welt-)kriegsmoderne, eine Rückkehr zu traditionellen Formen (z.B. Strawinskys "Mawra" als Nummernoper, Picassos Rückbezug auf ältere Stilvorbilder, Cocteau: "Le rappel à l'ordre"), die proklamierte Abkehr von Subjektivismus und Gefühlskundgabe, der verfremdende Rückbezug auf ältere Stilelemente. Neobarock und Neoklassizismus haben in dieser Antimoderne ihren Ursprung. Das Vertrackte: Minus mal Minus ergibt nicht Plus, der Feind meines Feindes ist nicht mein Freund, d.h. die Antimoderne fällt nicht auf den Stand der Vormoderne zurück; sie restituiert zwar die Tonalität, erfreut aber keine "tonalitätslüsternen Ohren" (Reger), sondern bleibt ein kratzbürstiger Teil der Moderne, der sie zugehört und als deren Gegnerin sie sich zugleich versteht - eine Frühform des Punk, mit dem sie die Technik der subversiven Affirmation gemeinsam hat.

Dieses Abgrenzungsspiel wiederholt sich - ohne polemische Vorzeichen - bei fast allem, was man ab den 60er Jahren als Alternative zum Darmstadt-Avantgardismus unter dem Begriff Minimalismus zusammengefaßt hat: eine Rückkehr zur Modalität und satztechnischen Einfachheit bei oft größter rhythmischer Komplexität (Steve Reich) oder Rückkehr zur Modalität und satztechnischen Einfachheit unter Beibehaltung der Konstruktivität (Arvo Pärt); also der weitgehende Verzicht auf die Vermeidungsstrategien der alteuropäischen Moderne, aber - wie man sieht - immer unter Beibehaltung eines Wesensmerkmals der Moderne. Wer den konventionellen Tonsatz liebt, landet heute wie von selbst im Bereich der Filmmusik (Einaudi et al.), was nicht bedeutet, daß man in diesem Subsystem nicht auch - wie John Williams - originell komponieren könnte.
 
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(...alles exzellent!...)
die Gleichsetzung von modern, neu, dissonant, aggressiv und häßlich ist einfach grober Unfug.

Ferner: Niemand wird gezwungen, irgendetwas zu mögen. Man sollte nur wertende Äußerungen über das vermeiden, was sich einem nicht unmittelbar erschließt (und mit Tomaten auf den Ohren kann man auch ein Leben lang an etwas vorbeihören!). Ein Minimum an Verständnisbereitschaft gehört jedenfalls dazu, um dem Phänomen "Neue Musik" gerecht zu werden.
(...alles exzellent!...)
@Gomez de Riquet danke für diesen exzellenten Beitrag!!
 
Ich verlinke mal diesen Beitrag hier rein, weil er zum Thema paßt:
Der neueren Musik ist die Idee, Alltagslärm,
Arbeits- oder Maschinengeräusche musikalisch abzubilden, nicht fremd
(Honegger: Pacifik 231, Mossolow: Die Eisengießerei ), und hat seine Anfänge
in der frühen Moderne, die die Erfahrung des großstädtischen Menschen,
mehreren akustischen Quellen gleichzeitig ausgesetzt zu sein, in Musik umsetzt:
bei Mahler, Debussy und Ives als Polyphonie mehrerer Klangblöcke, die sich nicht
nur satztechnisch, sondern auch rhythmisch und tonartlich voneinander abheben.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die von den Futuristen erträumte Idee einer
Geräuschmusik verwirklicht, bei den Franzosen mit der "Musique concrète" ,
deren Erzeugnisse heute etwas dürftig anmuten, bei John Cage, in dessen erweitertem
Musikbegriff jede Art von Frequenz willkommen war, bis hin zu Steve Reich und
ungezählten Soundbastlern, deren Musik von gesampleten Geräuschen strukturiert wird.
 

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