Drittes Kapitel: Drehen, Drücken, Schlagen
In den bisherigen Kapiteln habe ich das Erzielen eines intervallgestützten Referenztones beschrieben, sowie das Erzielen der Chorreinheit bei einem jeweiligen Ton. Das sind zwei der wichtigsten Eckpfeiler des Klavierstimmens.
Bevor ich nun weitere Intervallschritte beschreibe, wende ich mich hier dem dritten Eckpfeiler zu, und zwar der Bedienung des Stimmhammers.
Die Ausführung der richtigen Handbewegungen beim Klavierstimmen ist das mit Abstand Schwierigste bei der Tätigkeit. Im Wesentlichen hat das zwei Gründe, die ineinander greifen:
a) Die diesbezüglich verfügbaren Anleitungen sind häufig entweder unvollständig oder falsch. Wer sich penibel an sie hält, kann leicht zu frustrierenden Ergebnissen kommen.
b) Im Unterschied zu den akustischen Wegen und Besonderheiten beim Stimmen, sowie im Unterschied zu vielen handwerklichen Nebentätigkeiten, kann man die Bewegungen des Stimmhammers nur in einem sehr geringen Maße anhand von Anleitungen "nachmachen". Für das Akustische gibt es Referenzen, angefangen bei der Stimmgabel, bis hin zu raffinierten Tongenerier- und -messgeräten. Für vieles Mechanische gibt es optisch zweifelsfreie und mit Maßzahlen hinterlegte Bildvorlagen. Dagegen gehen die Bewegungen des Stimmhammers nahezu ausschließlich über das Fühlen. Und da kriegt man nichts vorgemacht, da muss man selbst stets nahezu bei Null anfangen.
Zu a: Typischerweise liest man in Anleitungen, man solle den Stimmwirbel mit feinen Bewegungen drehen, und zwar vorzugsweise bis der erwünschte Ton ganz minimal zu hoch ist, dann solle man ihn wieder (durch Drehen, versteht sich) auf die angestrebte Tonhöhe herunterlassen. Auf keinen Fall solle man den Wirbel in die richtige Tonhöhe drücken, weil dann die Stimmung nicht halte.
Diplomatisch kann man derartigen Anweisungen zugutehalten, dass wohl etwas Wahres dran ist. Streng genommen aber, im Sinne einer wirklichen Hilfe, sind diese Aussagen schlicht falsch.
Die Wahrheit ist viel komplexer:
Die Tonhöhe einer Saite erzielt man in allen Fällen grob durch Drehen auf die passende Höhe. Aber zusätzlich muss man ausloten, in welchem Maße sich die Elastizität des Wirbelsitzes, sowie die Reibungen an den Saitenumlenkungen bemerkbar machen. Und das geht nur durch Drücken und durch z. T. sehr starkes Tonanschlagen.
Wenn man nach dem Drehen den Wirbel aufwärts oder abwärts drückt und dabei den Ton anschlägt, dann sollte er höher oder tiefer werden und sich bei nur schwachem Federn des Wirbels in der richtigen Tonhöhe einfinden. Das ist der günstigste, aber nichts weniger als der häufigste Fall. Meistens muss man nach dem Aufwärts- und/oder Abwärtsdrücken nochmals nachdrehen und das Ganze mehrfach. Sehr häufig gibt es auch Instrumente, die auf Wirbeldrehen nur sehr zögerlich und auf Wirbeldruck kaum reagieren. In diesen Fällen sind die Saitenumlenkungen so stramm, dass das Erzielen einer zuverlässigen dauerhaften Tonhöhe allein durch Wirbeldrehen vollkommen aussichtslos ist. Dann muss stattdessen der Wirbel von einer zu niedrig angedrehten Tonhöhe aus hochgedrückt werden, unter mehrfachem starken Tonanschlagen. Gelangt er dabei auf die richtige Tonhöhe, ohne dass diese bei starkem Anschlag sofort absackt, dann gibt es Chancen auf erreichte Stimmstabilität. In wieder anderen Fällen muss der vorgedrehte Wirbel abwärts gedrückt und dabei der Ton stark angeschlagen werden, damit die Tonhöhe nachsackt und dann nochmals durch Drehen korrigiert werden kann.
Es gibt noch viel mehr und wieder ganz anders gelagerte Fälle. Sie alle zusammen bilden die Wahrheit über einen komplexen handwerklichen Vorgang, der beim Zuschauen zwar ziemlich einfach aussieht. Aber wer das Klavierstimmen lernen will, hat am ehesten Chancen, wenn er/sie sich von Anfang an die Komplexität der Vorgänge auf der Zunge zergehen lässt, statt simplen Faustregeln oder neunmalklug erhobenen Zeigefingern zu folgen.
Zu b: Selbst wer das soeben Gesagte beherzigt, kann sich den Lernstoff fürs Klavierstimmen locker innerhalb eines Tages aneignen. Das Erlernen, rein mental, ist ziemlich einfach. Es wirklich zu können, dauert hingegen Jahre. Das ist eine Binsenweisheit, die die Spatzen von den Dächern pfeifen (aber wenigstens kein Ammenmärchen, im Unterschied zu den Simplifizierungen der notwendigen Handbewegungen). Hier möchte ich nun sagen, warum das so ist.
Computer können sehr viel, wenn man sie mit den entsprechenden Programmen bestückt. Menschen funktionieren in manchen Hinsichten ähnlich wie Computer, aber man kann sie nicht mit Programmen bestücken. Was Menschen können, beruht auf dem Erwerben von Lebenserfahrung. Vieles von diesem Erwerben lässt sich im Wege des Lehrens und Lernens deutlich abkürzen und beschleunigen. Und genau das geht beim Klavierstimmen definitv nicht. Das versierte Können eines/r guten Klavierstimmers/in lässt sich nicht im Wege des Unterrichts oder Vormachens auf andere Personen übertragen. Das Gehirn jedes/r Klavierstimmers/in muss von Anfang an im Laufe langer Zeit ein Programm "schreiben", das bei den zu bearbeitenden Instrumenten die jeweils notwendigen Handgriffe im jeweils erforderlichen Sinn und Ausmaß jederzeit flink abrufbar macht, damit sie von der Person ausgeführt werden können.
Und das dauert tatsächlich viele Monate bis hin zu mehreren Jahren. Weil nämlich, was deutlich erschwerend hinzukommt, es unzählige völlig unterschiedlich beim Stimmen reagierende Pianos gibt. Und weil deshalb eine zuverlässige Stimmroutine erst dann gegeben ist, wenn die jeweilige Person ein großes Spektrum unterschiedlicher eigener (!) Erfahrungen hat, und demgemäß das "geschriebene Programm" sich bereits bei den ersten Handgriffen auf das jeweilige Gegenüber einstellt.
Also: Wenn du nach dem jetzt Gesagten noch Lust hast, bei deinem Flügel oder Klavier Hand anzulegen, dann hast du bei angemessenem handwerklich-akustischen Geschick durchaus Aussicht auf Erfolg. Sofern du, wie bereits in den ersten beiden Kapiteln erwähnt, ein leidlich gutmütig reagierendes Instrument vor dir hast. Allerdings darfst du damit rechnen, dass du für das Erzielen eines im günstigen Fall akzeptablen Ergebnisses leicht zehn bis fünfzehn Mal so lange brauchen könntest, wie eine erfahrene Fachperson für ein gutes Ergebnis.
-- Fortsetzung folgt --
Gruß
Martin
PianoCandle
... Klang dauert