Fluch und Segen des Fortschritts

Monsieur_Barso

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Bevor es hier zu Missverständnissen kommt: es geht weder um die Aspekte des technischen Fortschritts oder der Digitalisierung, nein: es geht um Fluch und Segen des eigenen musikalischen Fortschritts.

Ich spiele jetzt seit 4 1/2 Jahren Klavier, durchgängig mit Lehrer, der zu mir nach Hause kommt. Spiele seit zwanzig Jahren Schlagzeug und habe auch in früheren Jahren immer mal wieder sehr amateurhaft auf Keyboards herumgeklimpert. Kurzum: Musik hat für mich schon eine sehr wichtige Bedeutung im Leben, wenn nicht sogar die wichtigste.
Als ich mit dem Klavierunterricht begann, gab es drei Stücke aus dem Popbereich, die ich unbedingt spielen können wollte. Dank meines sehr guten, lockeren und für alles offenen Klavierlehrers hat das innerhalb des ersten Jahres auch hervorragend geklappt. Alle drei Stücke spiele ich auch heute noch mit voller Begeisterung. Mit den Jahren habe ich selbst (und Gott sei Dank auch mein Lehrer :005:) enorme Fortschritte bemerkt: sei es in der Spieltechnik, dem Ausdruck oder auch in Musiktheorie und im Notenlesen.
Genau so sollte es im Idealfall ja auch sein. Allerdings bemerke ich, dass ich mit steigenden Fähigkeiten und größerer Sicherheit auf der Klaviatur auch die unbedingte Konzentration auf ein Stück verliere. Während es in den ersten Monaten wirklich so war, dass ich mich neben rhythmischen Übungen ganz allein auf das Erlernen der oben erwähnten Stücke konzentrierte, bin ich dort auch entsprechend zügig vorangekommen und hatte viel weniger Ablenkung in Form anderer Stücke.

Mittlerweile fühle ich mich im Dur-, Moll- und 7er Akkordbereich sehr sicher, ich weiß, wie verminderte, halbverminterte oder sus Akkorde aufgebaut sind und funktionieren und habe auch keine Angst mehr vor Stücken mit mehr als zwei Vorzeichen. Auch dank meines AvantGrand, das ich mir letztes Jahr gegönnt habe, sitze ich unglaublich gerne am Instrument und beginne auch nach und nach zu improvisieren. Vor allem jetzt, wo der erste Heumann Band durch ist.

Was aber dazu führt, das ich mich kaum auf ein bestimmtes Übestück ähnlich intensiv konzentriere, wie noch in den ersten Jahren. Der Reiz und vor allem meine Neugier sind einfach zu groß. Vor allem, weil ich mittlerweile viel mehr Klavierliteratur besitze, als ich zeitlich spielen kann. Heute mal in ABBAs "SOS" reinschnuppern, morgen interessiert mich plötzlich "Somebody lo love" von Queen, und nach einem stressigen Arbeitstag muss es dann doch "Three little birds" von Bob Marley sein. Und bevor ich ins Kino gehe, gucke ich noch mal schnell auf youtube, wie eigentlich das James Bond Thema gespielt wird. Ach geil - Skyfall ist ja auch gar nicht mal so schwierig. Obwohl ich momentan eigentlich an einem ganz anderen Stück arbeite, an dem ich viel schneller vorankommen möchte. Und dann gibt es ja da noch die Herren Bach, Beethoven und Schubert, die nach Aufmerksamkeit schreien mit ihren unglaublich schönen und beeindruckenden Kompositionen.

Geht es Euch ähnlich? Wie findet Ihr die die richtige Balance?

Ich freue mich auf angeregten Austausch.
 
Ja, ich kenne das auch. Ich bin ebenfalls in mehreren musikalischen Welten zu Hause. Allerdings bedeutet es für mich keinen Widerspruch, den ich aus deinem Beitrag herausgelesen zu haben meine. Ganz im Gegenteil: Die vielfältigen musikalischen Tätigkeiten (Literaturspiel, Auswendigspiel, Prima-Vista-Spiel, nach Gehör spielen, Improvisieren, Komponieren, Auseinandersetzung mit Musiktheorie, ...) begünstigen und ergänzen sich gegenseitig.

Ein Problem ist natürlich die Zeit: Wo soll man angesichts der Ziele, die man hat, Prioritäten setzen? Und da habe ich mittlerweile eine gewisse Gelassenheit entwickelt: Es ist einzig und allein die Ungeduld, die zu Zeitkonflikten führt. Wenn ich meine Priorität auf das Erarbeiten eines klassischen Klavierwerks lege, was ja sehr zeitintensiv sein kann, bleibt mein systematisches Üben an Jazz-Improvisationen eben eine Weile liegen, wird aber vom Unterbewusstsein weiter verarbeitet. Das Gleiche gilt natürlich auch umgekehrt. Wichtig ist natürlich eine Orientierung an Zielen. Und so vertraue ich darauf, dass mein Appetit mich schon leiten wird. Begeisterung ist ohnehin der wichtigste Antrieb beim Musikmachen (und nicht nur hier).

Nun bin ich allerdings auch ziemlich strukturiert. Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die sich verzetteln und alles Mögliche anfangen und wieder aus dem Blick verlieren, wie Treibholz. Um dem entgegenzuwirken, hilft es sicherlich, mit anderen zusammen Musik zu machen: Dann entstehen gemeinsame Ziele, die einem eine Struktur geben.
 
Nun bin ich allerdings auch ziemlich strukturiert. Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die sich verzetteln und alles Mögliche anfangen und wieder aus dem Blick verlieren, wie Treibholz. Um dem entgegenzuwirken, hilft es sicherlich, mit anderen zusammen Musik zu machen: Dann entstehen gemeinsame Ziele, die einem eine Struktur geben.

OK, schönen Dank schon mal für deine Antwort. Der entnehme ich, dass die Vielseitigkeit definitiv mehr Segen als Fluch ist.

Wie Du schon sagtest, ist es hauptsächlich die Zeit. Mit einer normalen 39 Stunden Woche und anderen Verpflichtungen kommt mas als passionierter Hobby-Pianist durchaus an seine Grenzen.

Damit ich nicht im Treibholz schwimme, lege ich z.B. diejenigen Stücke sofort wieder zur Seite, bei denen ich unmittelbar merke, dass das Niveau noch zu hoch ist. Das hilft mir zumindest schon mal etwas. Ich nehme mir auch immer vor, jeden Tag zumindest ein paar wennige Takte des eigentlichen Übungsstückes zu spielen bzw. zu üben, auch wenn ich in einer ganz anderen Stimmung für andere Stücke bin.

Als Schlagzeuger habe ich auch schon langjährige Banderfahrung, aber zu Hause am Klavier bin ich natürlich in erster Linie auf mich gestellt.
 
Genieße Deinen jetzigen Zustand! Genau das ist es doch, was das Hobby ausmacht: Mit Neugier neue Welten erkunden.
Irgendwann wird evtl. der Zeitpunkt kommen, wo Du Dich entscheiden willst (so war es bei mir...is auch nicht besser), aber bis dahin gibt es noch Vieles zu entdecken.
 
Genieße Deinen jetzigen Zustand! Genau das ist es doch, was das Hobby ausmacht: Mit Neugier neue Welten erkunden.
Irgendwann wird evtl. der Zeitpunkt kommen, wo Du Dich entscheiden willst (so war es bei mir...is auch nicht besser), aber bis dahin gibt es noch Vieles zu entdecken.
Ich und Entscheidungen treffen - eine Welt für sich! :)
 
: es geht um Fluch und Segen des eigenen musikalischen Fortschritts.
Da gibt es so einiges - früher mußt ich immer zum Stammtisch um mit wenig Leuten plaudern zu können - heut kann ich des mit der ganzen Welt, ohne meinen Arsch zu bewegen -Stammtisch war aber irgendwie gemütlicher.

Hab einen Bekannten in Berlin (so mein Alter) , der schreibt mir beständig Briefe....ja, wenn der keine E-Mail hat, kann ich ihn auch ned antworten!

Blasmusik ist in Dolby Surround der Hammer, man hört sie von allen Seiten.

Auf den Volksfesten hört man sie nur von einer Seite, aber die Stimmung ist größer.

Da gibt es so vieles was aufzu zählen wäre.
 
Dank meines sehr guten, lockeren und für alles offenen Klavierlehrers hat das innerhalb des ersten Jahres auch hervorragend geklappt. (…) Mit den Jahren habe ich selbst (und Gott sei Dank auch mein Lehrer) enorme Fortschritte bemerkt: sei es in der Spieltechnik, dem Ausdruck oder auch in Musiktheorie und im Notenlesen.

Das freut mich für Dich, schön, so etwas zu lesen. :-)

Ich spiele jetzt seit 4 1/2 Jahren Klavier, durchgängig mit Lehrer, der zu mir nach Hause kommt.

Puh, da hast Du ja Glück gehabt, dass Du bei ihm schon so viel gelernt hast, denn:

Ein Lehrer, der ins Haus kommt, ist in der Regel schlecht.

Ein vernünftiger Lehrer hat a) ein gutes Instrument bei sich zu Hause, auf dem er auch gut unterrichten kann und b) wird er einen Deubel tun und seine wertvolle Zeit damit verplempern, zu Schülern nach Hause zu fahren. Da müsste man ihn schon dementsprechend fürstlich entlohnen.

Ich habe auch schon eine Ausnahme dieser „Regel“ erlebt, allerdings war dies – leider - kein regelmäßiger Unterricht (weil die KL nicht in Deutschland lebt).

Heute mal in ABBAs "SOS" reinschnuppern, morgen interessiert mich plötzlich "Somebody lo love" von Queen, und nach einem stressigen Arbeitstag muss es dann doch "Three little birds" von Bob Marley sein. Und bevor ich ins Kino gehe, gucke ich noch mal schnell auf youtube, wie eigentlich das James Bond Thema gespielt wird.

Ui, wenn das @hasenbein liest…
;-)
 
Da gibt es so einiges - früher mußt ich immer zum Stammtisch um mit wenig Leuten plaudern zu können - heut kann ich des mit der ganzen Welt, ohne meinen Arsch zu bewegen -Stammtisch war aber irgendwie gemütlicher.

Hab einen Bekannten in Berlin (so mein Alter) , der schreibt mir beständig Briefe....ja, wenn der keine E-Mail hat, kann ich ihn auch ned antworten!

Blasmusik ist in Dolby Surround der Hammer, man hört sie von allen Seiten.

Auf den Volksfesten hört man sie nur von einer Seite, aber die Stimmung ist größer.

Da gibt es so vieles was aufzu zählen wäre.
Bei all der Aufregung dürfen wir aber nicht vergessen, dass Al Bundy 1966 in einem einzigen Spiel vier Touchdowns erzielte und damit die Stadtmeisterschaft für die Polk High School gewonnen hat.
 
Ich habe auch schon eine Ausnahme dieser „Regel“ erlebt, allerdings war dies – leider - kein regelmäßiger Unterricht (weil die KL nicht in Deutschland lebt).

Er arbeitet halb freiberuflich und halb für eine mobile Musikschule. Wir sind mittlerweile sogar eng befreundet, weil wir doch sehr auf einer Wellenlänge schwimmen. Macht auf jeden Fall sehr viel Spaß mit ihm.

Er sagte mir allerdings, dass ich mir definitiv einen anderen Lehrer suchen müsse, wenn ich mich auf Klassik fokussieren möchte. Er ist nämlich sehr Pop- und Jazz basiert, was mich als fortgeschrittener Anfänger zur Zeit immer noch am meisten begeistert. Also klar, Präludium, Elise und Mondscheinsonate würden wir natürlich noch hinbekommen. Aber bei anspruchsvolleren Chopin Stücken wäre Schluss.

Finde ich jedenfalls sehr gut, dass er das so offen ausspricht.
 

Nein, das tue ich auf keinen Fall. Ist vielleicht etwas missverständlich rübergekommen.

Bachs Präludium kann ich jetzt seit ca. anderthalb Jahren fehlerfrei spielen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht doch bei jedem Mal Spielen Verbesserungspotential entdecke. Mal abgesehen von den abgewandelten und vereinfachten Heumann-Übungen, war es mein erstes vollständiges klassisches Stück, das ich spielen kann. Ein gewissermaßen erhabenes Gefühl.

Je tiefer ich in die Materie eintauche, desto mehr klassische Stücke entdecke ich, die ich spielen können möchte. Bei Elise wie beim ersten Satz der Monscheinsonate habe ich mir die ersten Takte in Eigenstudium erarbeitet, wobei mich die Mondscheinsonate aus persönlichen Gründen weitaus mehr reizt. Aber ich will mir die nötige Zeit und Muße dafür nehmen. Und momentan habe ich noch andere Baustellen, die ich erst mal beenden möchte.

Ich habe in meinem Beitrag bewusst auch diese Stücke genannt, weil sie in einem anderen thread ("Welche Lieder könnt Ihr als Klavierlehrer nicht mehr hören?") schon teilweise als eine Art TYE-Klassik bezeichnet wurden.

Mir hingegen ist das ziemlich schnuppe, weil ich auch deswegen Klavier lerne, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen oder mich bestimmten Stimmungen hinzugeben. Ich hab auch Spaß daran, Clydermann zu spielen und festzustellen, dass er auch nur mit Wasser kocht. Solange einem selber das Wasser schmeckt, ist doch alles gut.
 
Zuletzt bearbeitet:
Priorisieren ist eine Kunst für sich. Bei Arbeit oder sonstigen Aufgaben trennt man 'unwichtig/wichtig' sowie 'hat Zeit/eilt' und versucht, Hektik und Verschwendung zu vermeiden, indem man sich früh auf das Wichtige konzentriert.

Fürs Klavierspielen habe ich dies für mich so heruntergebrochen, dass ich sowohl belanglosen Kram als auch Profistücke ganz herausgenommen habe: Zeit für Ersteres aufzuwenden wäre Verschwendung, für Letzteres Hybris.

Die gewonnene Zeit stecke ich in die Bereiche, die mir wichtig sind: besser zu werden und die für mich wichtigen Stücke wirklich zu können. Wenn ein zunächst als 'eigentlich zu schwer' eingestuftes Stück nach ein paar Wochen doch anfängt, leicht von der Hand zu gehen, hat sich die Zeit gelohnt.

Und manches unwichtige Zeug, für das man Zeit verschwendet hätte, bekommt man, weil man besser geworden ist, fast schon aus dem Handgelenk hin.

Cee
 
was war die längste Zeit, die du für ein Stück aufgebracht hast? Ich meine ohne, dass du parallel andere Stücke geübt hast.
 
Ich finde folgende Strategie die einzig sinnvolle - wurde schon oft gesagt, nur nicht von mir: Spielen und Üben trennen ! Man wird nie alles astrein spielen können was man toll findet. Also: einige wenige, oder auch nur ein einziges Stück so weit bringen, wie es beim momentanen Stand möglich ist. Daneben aber in allem möglichen rumspielen, nicht üben, nur kennenlernen und Spaß haben . Vielleicht den Sonntag dafür reservieren.
 

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