Dynamik hat mit Kraft, Energie und Bewegung zu tun, mit Gestaltungskraft, Lebendigkeit, Schöpfergeist, Temperament und Schwung. Sie ist essentiell in unserem Leben, in unserer Arbeit, wie wir an Dinge herangehen und wie wir Dinge gestalten.
Wir alle haben spätestens in der Schule langweilige Redner/Lehrer erlebt, denen wir mit ihrem einschläfernden, farblosen Vortrag ohne jede Dynamik nach kürzester Zeit nicht mehr zuhören konnten.
Wir haben auch Redner erlebt, die selbst die einfachsten Sätze so spannend erzählten, dass wir mit glühenden Ohren lauschten!
Ein guter Redner weiß, was er erzählen will, was er sagen will und zu sagen hat. Er hat ein Anliegen und eine Leidenschaft für sein Thema. Er kennt sich ganz genau aus in dem, was er zu sagen hat und er fasst es in eine dem ihm so wichtigen Inhalt kongruente Form, die in der Rede, dem Klanglichen dem Inhalt entspricht.
Er wird dazu das ganze klangliche Repertoire seiner Stimme verwenden, er wird je nach Inhalt vielleicht flüstern, raunen, seine Stimme erheben, rufen, lachen u.v.a., er wird wichtige Wörter und Phrasen hervorheben, indem er sie leiser oder lauter als die Umgebung spricht. Er wird eine äußerst abwechslungsreiche Sprachmelodie wählen und seine Texte so gestalten, dass sie sich aus sich selbst heraus zwingend und schöpferisch entwickeln und große Linien gestalten. In den großen Linien werden viele kleine Untertöne die vielen Nuancen, die er inhaltlich sagen will, darlegen.
Das alles verwirklicht er mit dem Timing und Tempo seines Redeflusses, mit Pausen, mit seiner Artikulation der Gewichtung von Konsonanten und Vokalen, mit seiner Phrasierung und auch mit der Lautstärke seiner Stimme. Sie alle wirken zusammen und bestimmen die Qualität seiner Rede.
Sprache und Musik haben viele Ähnlichkeiten, gerade auch in der Gestaltung! Wie in der Sprache lässt sich die Dynamik nicht vom Inhalt dessen trennen, was ihr zugrunde liegt und mit der sie verbunden ist: mit der musikalischen Aussage des Werks.
Ohne zu wissen, was ich für eine Geschichte musikalisch erzählen will, ohne den Inhalt dessen, was ich musikalisch aussagen will, genau zu kennen, wird meine "Rede", mein Spiel farblos bleiben. Diese Kenntnisse entnehme ich dem Notentext, meinem Wissen um Stilepochen, Aufführungspraxis, dem Aufbau und den Strukturen von Musik und meinem inneren Ohr. Es setzt ein spannender und nie endender Dialog ein, in dem ich mich neugierig dem nähere, was der Komponist wohl zu sagen hat mit seinem Werk und wie ich mich mit meiner Persönlichkeit und meiner Art zu musizieren dieser Aussage nähere.
Die Gestaltungsmöglichkeiten, die ich habe, wie Timing, Artikulation, Tempo, Phrasierung, Agogik und Dynamik ergänzen und unterstützen sich dabei. Beim Erarbeiten eines Stücks lohnt es sich durchaus, die Aspekte auch für sich zu betrachten und so die Grenzen der jeweiligen Gestaltungsart kennen zu lernen, nebenbei auch seine eigenen. :D Das "Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit" beim Üben nach Gerhard Mantel, der den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit nur auf einen Aspekt des Übens richtet, kann also auch hier genutzt werden.
Wer das nun macht, begegnet in dem zu übenden Werk vielleicht einem forte. "Aha", denkt er, "na, dann spiele ich mal laut." Das ist dann so, als würden wir ein paar Worte in unserer Rede laut sprechen, nur weil jemand sagt, dass wir es tun sollen. Wer die Dynamik auf das begrenzt, was im Notentext an entsprechenden Vortragszeichen steht (forte, piano ....), wird eine sehr eindimensionalen und unzureichenden Wirkung auf sein Spiel feststellen.
Besser wäre es, wir verstünden, WARUM wir denn jetzt forte sprechen oder spielen sollten und welches forte überhaupt gemeint ist. Ich kann laut schreien, brüllen, rufen, fluchen, mahnen, einen Witz reißen - meine laute Stimme kann drohend, lustig, lockend, lachend u.a. verstanden werden. Welche Emotion, welcher musikalische Gedanke verbirgt sich hinter dem forte? Woher kommt es? Ist es plötzlich da und erschreckt mich, weil vorher geflüstert wurde (starke dynamische Kontraste gibt es z.B. bei Beethoven)? Ist es die Folge einer langen allmählichen Entwicklung, die zu einer mächtigen Triebkraft heranwächst und uns sprachlos den Atem verschlägt mit ihrer Kraft? Ist es eine kleinere Entwicklung in einer größeren, die in die Zukunft weist und uns ahnen lässt, was vielleicht noch kommen wird?
Wie soll dann also dieses forte klingen? Welche Bewegungen brauche ich, um diesen von mir gewünschten Klang umzusetzen? Scharf und bissig oder voll und weich? Groß und gewaltig oder perlend und frech wie eine Reihe blitzender Hagelkörner? Vielleicht weiß ich auch noch nicht, wie ich die Entwicklung gestalten will - viel ausprobieren hilft viel! Und ja, auch mal übertreiben!
Dann ist Dynamik eine sehr relative Sache. Laut kann es schon klingen, wenn ich vorher sehr leise war. Der musikalische Kontext ist sehr wichtig, wie laut oder leise denn eine Stelle klingt und wirkt.
Oft stehen in einem Stück mehrere forte. Hm, soll ich denn jedes forte genau gleich spielen? Nein, jedes forte hat eine unterschiedliche Qualität, so wie auch die Strukturen der forte-Stellen unterschiedlich sind (Akkorde, dicht gewebte polyphone Stimmführung .....). Ich vergleiche ein Stück gern mit einer Kathedrale: in so einem Bauwerk hat jeder Stein seinen Sinn so wie in der Musik jede Note. Es gibt in der Kathedrale eine Kuppel, verschiedene Höhepunkte und Entwicklungen, es gibt Ruhepunkte, es gibt "leise" und "laute" Stellen und jede Menge dazwischen.
Die Aufgabe eines Interpreten besteht darin, zwischen all diesen Dingen eine sinnvolle Verbindung zu gestalten und dazu gehört ein kluger Aufbau der Dynamik. Wo ist die leiseste Stelle im Stück, wo die lauteste? Welche Qualität und Emotion bringen diese und andere Stellen/Phrasen/Entwicklungen mit und wie stehen sie im Zusammenhang? Und immer wieder: was will ich sagen und was, denke ich, meint der Komponist mit seinen Angaben und Vortragszeichen? Was will er sagen?
Viel ausprobieren, hören, lauschen, sich Gedanken machen. Daneben sich klar werden, dass Dynamik sich sowohl auf die horizontalen, als auch auf die vertikalen musikalischen Vorgänge bezieht. Die horizontale Klangdifferenzierung, also die dynamische Binnendifferenzierung zwischen den Klangschichten und Stimmen (Melodie am lautesten, Bass leiser, Begleitakkorde pp ...) wie auch die vertikale klangliche Differenzierung von Akkorden und zusammenklingenden Tönen (die beide natürlich zusammenhängen), erlauben ein sehr differenziertes dynamisches Spiel, das im Einklang mit den weiteren Gestaltungsmöglichkeiten einfach nur fesselt und frei macht.
So, ihr merkt schon, dass mich bei dem Thema die Leidenschaft packt. :D Die braucht man aber auch dazu!

Liebe Grüße
chiarina