Die Tonart und ihre Auswirkung auf das Stück

Ist A-Dur jetzt grün (Skrjabin) oder blau (Messiaen)?
Betrachtet man die Farbcharakteristik einmal losgelöst vom musikalischen Hintergrund, so ergibt sich die direkte Verwandtschaft von grün und blau. Sie zählen bezüglich der Farbtemperatur beide zu den kalten Farben. Sie liegen im Farbkreis nebeneinander, d.h. ein Farbton, der dicht neben blau im Übergangsbereich liegt, ist dann als grün zu bezeichnen. Darüber hinaus ist von Interesse, dass 99% der Farbwirkungen auf unser Gehirn unbewusst ablaufen. Ein nicht auflösbarer Widerspruch wäre es gewesen, wenn einer der beiden A-Dur als rot oder gelb gesehen hätte. Letztlich sehe ich aber auf die Interpretation keinen Einfluss.
Die Thematik der Tonartwahl/charackteristik ist mithin diffus. Das macht sie aber nicht obsolet. Ob das einen Einfluss auf die Interpretation für einen selbst hat, kann man überprüfen, wenn man transponiert. Dabei muss man die Haptik irgendwie ausblenden.
Die Bedeutung der Tonartcharakteristk ist in ihrer Bedeutung ohnehin begrenz. Nimmt man z.B. die drei Romanzen op. 94 von Schumann. Die gibt es in Arrangements für die verschiedensten Instrumente. Den größten Einfluss auf den Klang hat natürlich das Instrument. Und wenn die geänderte Tonart das Stück in seiner Wirkung beeinflussen sollte - das ändert offensichtlich nichts an seiner Beliebtheit und ist eher nachrangig.
Was die Arie von Gluck betrifft, die Wirkung ist durch die suggestive Wirkung des Textes natürlich schon halb vorgegeben. Bei Donizettis L.d.Lammermoor sind die tragische Stellen auch - wenigstens meistes - in Dur. Wenn man den Text ausblendet, empfinde ich die Musik eher als weniger angemessen und eher langweilig (jetzt kriege ich einen shitstorm?). Die Wirkung muss also durch Text und schauspielerische Darstellung kommen, denn die Oper ist sehr populär (die von Gluck auch). Die Oper ist eher ein Gesamtkunstwerk.
 
Die letzten Werke Scriabins sind fast durchgängig düster, ohne positive Grundstimmung, wirken irgendwie desillusioniert. Sie sind aber atonal.
Naja, sie basieren überwiegend auf der Rimsky-Korsakow-Tonleiter, d.h. die Stücke sind modal (und das schließt noch nicht einmal funktionstonale Wirkungen aus). Positive Grundstimmung - was immer das heißen mag... Hört sich für mich wie ein Begriff aus Shdanows Zensur-Mottenkiste an. Desillusioniert? Das war Skrjabin nicht. Er ist in dieser Zeit schier zerplatzt vor Selbstbewußtsein und wollte mit seinem "Mysterium" die Menschheit auf eine höhere Bewußtseinsstufe katapultieren. Desillusionierend? Es wäre gefährlich, das zu verallgemeinern, falls seine letzten Werke auf Dich so wirken sollten. Nach Skrjabins Verständnis sind die Klaviersonaten Nr. 7-8 und 10 sehr freudige, lichtvolle Musik, und genauso wirken sie auf mich. Nr. 6 hat eine eher düstere Grundstimmung, besser gesagt: Sie wirkt grüblerisch. Aber deshalb raubt sie mir keine Illusionen, sondern schenkt mir welche: die Idee einer Verschönerung der Welt durch die Kunst. "Vers la flamme" ist geradezu ekstatisch - eine der Elementarvokabeln in Skrjabins Wortschatz.

Ich wäre vorsichtig mit Verallgemeinerungen (bis hin zur Synästhesie): Es gibt immer wieder hartnäckige Versuche, die Wahrnehmung künstlerischer Arbeit zu katalogisieren, zu systematisieren und anderen quasi als verbindlich vorzuschreiben. Das kann man machen, wird aber vom erstbesten falsifiziert, der A-Dur als rot oder gelb hört.
 
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Warum beteiligen sich auffällig keine Stimmer außer @Henry an der Diskussion? Weil sie wissen, wo ihre Leichen begraben liegen. :angst:
 
Einmal Op. 74/1-5 aufführen. Dann kommen entsprechende Rückmeldungen. Ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Hatte ich schon an anderer Stelle ausgeführt.
Wo? Würde ich gerne lesen. Auf die Gefahr hin, gerade ins off-topic abzugleiten: Aber sind denn irgendwelche dusseligen Publikumsrückmeldungen für Dich als Interpret relevant?

Als Spätwerk gilt bei Skrjabin alles ab der sechsten Klaviersonate. Viele Einzelstücke aus dieser Zeit, auch die Préludes op.74, waren gewissermaßen Single-Auskopplungen aus dem "Acte préalable" (der Vorstufe zum "Mysterium"), nur auf Verlegerwunsch und aufgrund von Skrjabins notorischer Geldnot als Einzelstücke für Klavier veröffentlicht.

Wie aus den Skizzen zum "Acte préalable" ersichtlich, steht op.74 im Kontext mit Skrjabins nietzscheanischen Menschheits-Beglückungsphantasien, und das Thema "Tonart und ihre Auswirkungen" kannst Du am wunderschönen, träumerischen op. 74-4 studieren, das geradezu programmatisch "lent, vague, indécis" mit einem A-Dur-/Moll-Dreiklang schließt, vor dem triumphalistischen Schlußstück, das nicht zufällig "fier, belliqueux" überschrieben ist - wenn Du mich fragst: musikalisch das exakte Gegenteil von "desillusioniert".
 
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Wir haben da offenkundig geteilte Auffassungen. Ich sprach nicht vom Spätwerk, sondern von seinen letzten Werken. Auch der Begriff Spätwerk ist ungünstig, da Scriabin vor seiner Zeit aus dem Leben geschieden ist. Dann müssten Stanchinskis letzte Werke auch sein Spätwerk sein. Besser ist der Begriff letzte oder - völlig korrekt - dritte Schaffensperiode.
 
Gerade im Orchester klingen die Tonarten schon recht unterschiedlich; das hängt vor allem mit den mitschwingenden leeren Saiten der Streicher zusammen. Bei A-Dur schwingt ständig etwas mit, bei As-Dur fast nichts. Das ändert den Charakter der Tonarten erheblich.

Genau deswegen stellt sich die schwierige Frage: was ist eigentlich eine Tonart? Ist A-Dur gekennzeichnet durch Kammerton a mit 440 Hz als Grundton, oder ist A-Dur gekennzeichnet durch die Stimmung einer (beispielsweise) Geige und die Griffe des Geigers?

Stimmt man die Geige (und das ganze Orchester) nämlich einen halben Ton tiefer (also nicht 440 Hz, sondern 415 Hz), dann "erklingt" das Stück für einen Außenstehenden mit absolutem Gehör in As-Dur, die Musiker "spielen" aber in A-Dur und (ganz wichtig!) die leeren Saiten der Streicher schwingen genauso mit, als hätten sie in 440 Hz gestimmt. Denn nicht die absolute Tonhöhe entscheidet über das Mitschwingen, sondern das Verhältnis der Frequenzen.

Würden die das ganze Stück in As-Dur greifen, aber die Instrumente in A 440 Hz stimmen, so würde es in gleicher Höhe erklingen, aber mit deutlich weniger Mitschwingen der leeren Saiten.

Was macht also As-Dur zu As-Dur? Die reine Tonhöhe, oder die Relationen der Saiten im Streichorchester? Das ist eine durchaus interessante Frage, denn das Mitschwingen der leeren Seite kann dann in der Tat als "Eigenschaft" einer Tonart gesehen werden, wenn diese Tonart nicht über die absolute Kammertonhöhe definiert wird, sondern als Eigenschaft der Griffe auf den Streichinstrumenten.

So spielt ein bekanntes niederländisches Ensemble beispielsweise die Werke von J.S.Bach sogar einen ganzen Ton tiefer als 440 Hz, ich habe neulich ein Konzert (in D-Dur, ich weiß nicht mehr, was das Soloinstrument war) gehört, das erklang in C-Dur, habe ich mit der geeichten Stimmgabel abgehört. Aber die spielen mit Sicherheit in D-Dur, haben nur die Instrumente tiefer gestimmt. Wenn es aber wirklich so ist, dass die leeren Saiten im Orchester einen hörbaren Einfluss auf das Gesamtwerk haben (was ich nicht beurteilen kann), dann wären klangliche Alleinstellungsmerkmale von sog. Tonarten zumindest vorstellbar. Ansonsten würde ich das nämlich auch abstreiten, gerade weil es erwiesen ist, dass der Kammerton A so vielen Schwankungen unterworfen war.

Für ein Klavier wiederum bedeutet das im Prinzip nichts, weil da alle Obertöne auch auf leeren Saiten vertreten sind. Die Streicher haben nur ein paar Saiten und deswegen eine eigene Charakteristik.
 
[...] sondern von seinen letzten Werken reden [...]
Das sind Spitzfindigkeiten. Bei Frühverstorbenen beginnt mit dem letzten, für uns wahrnehmbaren Stilwandel das jeweilige Spätwerk. Wie der Künstler im Überlebensfalle weitergearbeitet hätte, ist spekulativ, und wie er posthum weitermacht, entzieht sich vorläufig noch unsrer Kenntnis.

Laß uns nur über op. 74 reden. Es enthält im Kontrast zu drei sehr kraft- und schwungvollen Préludes zwei Stücke, die ganz entlegene Seelenbereiche aufsuchen - auskomponierte Weltferne. Die Musik zeigt Skrjabin auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Analyseansatz dazu siehe oben.

Wenn der Kopf gegen die Wand knallt, pflegt es der Kopf zu sein, der sich als desillusioniert empfindet.
 
Wo? Würde ich gerne lesen. Auf die Gefahr hin, gerade ins off-topic abzugleiten: Aber sind denn irgendwelche dusseligen Publikumsrückmeldungen für Dich als Interpret relevant?
Der letzte, der es sich leisten konnte, sein Publikum zu ignorieren, war wohl Benedetti Michelangeli. Der kam auf die Bühne, ohne einen Blick auf die Zuhörer zu vergeuden und spielte einfach los. Am Konzertende das gleich. Er stand einfach auf und ging. Auch den Applaus ignorierte er. Dabei war die Karte nicht gerade billig.
Mein erster Klavierlehrer erzählte mir einmal, wie Gieseking nach einem Konzert sich mit ihm - da war er noch Student - unterhalten hatte. Es geht also auch anders.
 

Wenn der Kopf gegen die Wand knallt und es hohl klingt, so muß das nicht an der Wand liegen, sagt der Volksmund.

Womit wir beim andern Thema wären: Ist Dein Wissen um den Wert eines Klavierstücks von der Publikumsreaktion abhängig? Ändert sich die musikalische Qualität eines Préludes durch mageren Applaus und negative Laienkommentare? Vielleicht hast Du op.74 auch nicht sehr überzeugend gespielt, und Dein fehlender Zugang zur Musik übertrug sich auf das Publikum?

Du selber klingst mir nicht sehr überzeugt von dieser Musik, so wie Du bis jetzt über sie gesprochen hast. Man bekommt den Eindruck, Du empfindest die Verkettungen unaufgelöster scharfer Dissonanzen in op.74 als düster und bedrückend. Aber nichts wäre falscher. Dissonanzen in der frühen Neuen Musik müssen nicht unbedingt Leid ausdrücken. Sie können auch der Ausdruck schierer Lebensfreude sein, wie in zwei vergleichbaren Schlüsselwerke der frühen Neuen Musik, Schönbergs "Drei Klavierstücken op.11" (die Skrjabin wohl kannte) und Ives' "Concord Piano Sonata".
 
enn der Kopf gegen die Wand knallt und es hohl klingt, so muß das nicht an der Wand liegen, sagt der Volksmund.

Womit wir beim andern Thema wären: Ist Dein Wissen um den Wert eines Klavierstücks von der Publikumsreaktion abhängig? Ändert sich die musikalische Qualität eines Préludes durch mageren Applaus und negative Laienkommentare? Vielleicht hast Du op.74 auch nicht sehr überzeugend gespielt, und Dein fehlender Zugang zur Musik übertrug sich auf das Publikum?

Du selber klingst mir nicht sehr überzeugt von dieser Musik, so wie Du bis jetzt über sie gesprochen hast. Man bekommt den Eindruck, Du empfindest die Verkettungen unaufgelöster scharfer Dissonanzen in op.74 als düster und bedrückend. Aber nichts wäre falscher. Dissonanzen in der frühen Neuen Musik müssen nicht unbedingt Leid ausdrücken. Sie können auch der Ausdruck schierer Lebensfreude sein, wie in zwei vergleichbaren Schlüsselwerke der frühen Neuen Musik, Schönbergs "Drei Klavierstücken op.11" (die Skrjabin wohl kannte) und Ives' "Concord Piano Sonata".
Du hast dir meine Statements offensichtlich nicht richtig durchgelesen. Anders ist das nicht zu erklären.
 
Du hast dir meine Statements offensichtlich nicht richtig durchgelesen. Anders ist das nicht zu erklären.
Das ist keine Art zu argumentieren. Das ist Flucht.
Ich habe ein bestimmtes "Statement" von Dir gelesen und kommentiert:
Die letzten Werke Scriabins sind fast durchgängig düster, ohne positive Grundstimmung, wirken irgendwie desillusioniert. Sie sind aber atonal.
mit den Worten, sie seien weder atonal, noch entbehrten sie der "positiven Grundstimmung" (wobei dieser fürchterliche, historisch belastete Begriff an den sozialistischen Realismus und Goebbels-Durchhalte-Filme denken läßt).
Du führtest daraufhin Publikumsreaktionen als Begründung an:
Einmal Op. 74/1-5 aufführen. Dann kommen entsprechende Rückmeldungen. Ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Hatte ich schon an anderer Stelle ausgeführt.
Und auf meinen Hinweis, dergleichen zu ignorieren:
Der letzte, der es sich leisten konnte, sein Publikum zu ignorieren, war wohl Benedetti Michelangeli. [...] Mein erster Klavierlehrer erzählte mir einmal, wie Gieseking nach einem Konzert sich mit ihm - da war er noch Student - unterhalten hatte. Es geht also auch anders.
Ist das ein Appell, sich das Repertoire und vor allem dessen Bewertung vom Publikum vorschreiben zu lassen? Op. 74 sinkt also in seiner Qualität, weil es zuwenig likes bekommt?
 
Auch mal genau lesen. Und andere Meinungen akzeptieren.
 
Ich habe Dich genauer gelesen, als Dir lieb ist, und Dich sogar häppchenweise zitiert.

Wo bleibt Deine genaue Lektüre? Und die präzise Antwort? Nur Ausflüchte (...hat das Publikum so gesagt... kein Spätwerk, da zu früh verstorben...), aber keine Bezugnahme auf meine Einwände, z.B. die Kurzbeschreibung von op.74/4+5. Und da geht es - mit Verlaub - nicht um Meinungen

sondern um verifizierbare Details in einem Notentext.
 
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Offenkundig hast noch nicht alles gelesen. Auch mal alles genau lesen. Da kann man was fürs Leben mitnehmen.
 

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