Hallöchen,
ich stecke zwar noch mitten in meinen Studien, aber ich kann mal von meiner "Vorgehensweise" und meinen Erfahrungen berichten:
1.) Allgemeine Musiklehre von Wolf
Hier standen recht viele Dinge drin, von denen ich eigentlich gedacht hätte, sie zu wissen und verstanden zu haben, aber dies stimmte dann doch nicht. Ich habe dieses Buch in den letzten Weihnachtsferien ordentlich durchgearbeitet
2.) "Harmonielehre" von de la Motte - 1. Kapitel (Renaissance)
Mir gefällt die Musik der Renaissance sehr gut, aus diesem Grund hatte ich auch kein Problem damit, dieses Kapitel gewissenhaft durchzuarbeiten. Anschließend und währenddessen habe ich homophone Sätze von Palestrina analysiert und eingehend betrachtet. Außerdem mehrere vierstimmige Sätze ausgesetzt (m.E. ist selbstschreiben unabdingbar, um zu verstehen wie die Musik funktioniert). Höhepunkt hierbei war bisher ein vierstimmiger Satz mit selbst ausgedachtem Cantus Firmus im Tenor und Umspielung der anderen Stimmen.
3.) "Kontrapunkt I - Die Musik der Renaissance" von Johannes Menke
Dieses Buch hat mir sehr viel gegeben, ich bin allerdings noch nicht ganz durch (Ich habe ca. die erste Hälfte durchgelesen und das erste Drittel durchgearbeitet, außerdem noch einiges im zweiten Teil gelesen). Es hat mir sehr dabei geholfen zu verstehen, wie Komponisten in der Musik der Renaissance gedacht haben. Außerdem hat es mir noch viel, viel mehr Erkenntnisse verschafft, die teilweise wirklich sehr überraschend waren (über die ich vielleicht in einem anderen Faden gesondert berichten kann, ich hatte eh vor, mal von meinen gesammelten Erfahrungen zu berichten, wenn ich dann mal einen einigermaßen befriedigenden Punkt erreicht habe). Auch hier lohnt es sich Madrigale, Motetten, etc. zu analysieren, und auch vierstimmige polyphone, kontrapunktische Sätze selbst zu schreiben. Letzteres habe ich an dieser Stelle allerdings noch nicht gemacht, da mir die "Harmonielehre" der Renaissance, verglichen mit der barocken "Harmonielehre" um einiges komplexer erscheint, und ich bisher noch nicht die Muße fand, dies zu tun.
4.) Wieder de la Motte, diesmal 2. Kapitel (Barock)
Das Kapitel habe ich mittlerweile komplett durchgelesen und ca. zur Hälfte durchgearbeitet. Hierbei habe ich versucht all meine Erkenntnisse sofort am Klavier zu verwenden (z.B. habe ich ja die franz. Ouvertüre von Bach im Repetoire, so habe ich versucht direkt beim spielen eine harmonische Analyse zu machen) und auch versucht hiermit zu improvisieren (das ist natürlich alles andere als einfach zu Beginn und recht frustrierend noch dazu. Aber da ich theoretische Physik mache, bin ich Frustration ja gewohnt). Anschließend habe ich mithilfe eines befreundeten Musiktheoretikers eine Bach Courante analysiert, um mal zu verstehen, wie genau harmonische Analyse eigentlich aussehen kann (und dabei endgültig verstanden: Sie ist viel mehr als nur Buchstaben unter Noten schreiben!). Außerdem habe ich ein kleines "Capriccio" mit doppeltem Kontrapunkt geschrieben und schreibe aktuell eine kleine Courante. Wichtig ist hier (zumindest für mich) ein allmähliches "steigern": Man lernt viele schöne Dinge durch das Studium der Harmonielehre und durch die Analyse von Werken kennen, und kann dann nach und nach immer mehr in seine Stücke einbauen (z.B. Quintfallsequenzen, Quintstiegsequenzen, Terzfall, die Wirkung verschiedener Akkordstellungen einsetzen, charakteristische Dissonanzen gekonnter einsetzen, verminderte Septakkorde, und noch viel mehr Dinge die ich noch nicht kenne :D)
5.) Wieder de la Motte, diesmal aber das Kontrapunktbuch
Da ich zu diesem Zeitpunkt von der Renaissance etwas die Schnauze voll hatte, habe ich direkt im Bach-Kapitel angefangen. Wichtig um Kontrapunkt zu verstehen ist meines Erachtens, dass ein ausreichendes Wissen an Harmonielehre vorhanden ist, und vor allem auch, dass man bereits einfache kontrapunktisch gesetzte Musik selbst geschrieben hat, um zu verstehen, wie die Komposition eines solchen Stückes vonstatten gehen kann. So, und hier stehe ich aktuell.
Nunja, wenn man dann schon etwas Ahnung hat, weiß man dann auch, was noch zu tun ist! Mir ging es zu Beginn meiner Studien so wie dir: Ich sah einen gewaltigen Berg an unstrukturiertem Wissen vor mir. Aber wenn man dann mal angefangen hat (und vor allem ein paar Dinge selbst geschrieben hat, das ist wirklich sehr sehr sehr wichtig!) läuft es irgendwie fast von selbst. Man erkennt wo seine Defizite sind, sieht was man noch nicht verstanden hat, einem fallen in Stücken Dinge auf die man gerne verstehen würde, etc. etc.
Für mich habe ich jedenfalls den Eindruck, dass eine historisch orientierte Vorgehensweise gewinnbringend ist. (Edit: Auch um die Entwicklung vom gregorianischen Choral zur Funktionsharmonik zu verstehen, die kommt mir nämlich sehr konsequent und logisch vor).
Aber noch eine Sache: Das es einfach ist wäre gelogen. Vor allem muss man sich, damit es gewinnbringend funktioniert, wirklich tief in die Konzepte hineindenken. Ich hab teilweise einen gesamten Tag im Kopf Sätze harmonisiert, insgesamt 6 Versionen meines Capriccios geschrieben, etc. Aber für mich lohnt es sich. Vor allem aus zwei Gründen: Erstens ist es einfach eine unglaubliche Freude, selbstgeschriebene Musik erklingen zu lassen, auch wenn meine Möglichkeiten natürlich noch sehr beschränkt sind. Und zweitens, ist es wirklich ein schönes Gefühl, wenn man sich Musik anhört, und an einigen Stellen denkt "ja, das verstehe ich, das hätte ich auch so gemacht", und einen der Komponist an anderen Stellen dafür völlig überrascht, und man sich denkt "darauf wäre ich nie gekommen". Letzteres ist eine ganz andere Art der Wertschätzung des Komponisten, die in dieser Art neu für mich ist, auf der einen Seite den Komponisten etwas entmystifiziert, aber auf der anderen Seite auch einen besser verstehen lässt, was seine Genialität wirklich ausmacht.
Liebe Grüße,
Daniel
Edit: Außerdem habe ich das Gefühl, dass Musiktheorie eine Art "Logik der Ästhetik" ist, was mich auch sehr fasziniert.
Editedit: Und es macht einfach Spaß!
Editeditedit: Zur Harmonielehre noch eine Sache: Ich habe bisher in mehrere Bücher hineingeschaut, und ich empfinde den de la Motte als das mit Abstand beste Buch, da er zeigt, was (nach meiner Meinung) Musiktheorie ausmacht: Das Ableiten von Regeln aus Musikstücken, das Aufzeigen der Grenzen dieser Regeln, und das Verinnerlichen einer "allgemeineren Vorgehensweise" der Abstraktion von Musik. Der einzige Nachteil , der mir bisher aufgefallen ist, ist, dass es doch sehr stark funktionstheoretisch geprägt ist, was, nach meiner Einschätzung, im Barock nur mäßig sinnvoll ist.