Chopin-Wettbewerb 2025

Habe ja nicht systematisch alles verfolgt, aber für mich ein berührender Höhepunkt war op 56 von Khrikuli (gleich zu Beginn seines Vortrags der dritten Runde).
 

Schon erstaunlich, welche Länder mit welchen Anteilen vertreten waren und woher die Preisträger kommen. Wäre noch zu eruieren, wo sie ihre Ausbildung erhalten haben - in ihrem Heimatland, in Europa oder den USA. Bei aller Hochachtung vor der Leistungsbereitschaft dieser jungen Menschen stellt sich mir dann doch die Frage: Was läuft in Europa (und nicht nur hierzulande) falsch? Und warum tun wir nichts dagegen? Sind wir zu bequem, zu satt oder einfach nur ignorant?
 
Was läuft in Europa (und nicht nur hierzulande) falsch?
Ich würde es nicht als „falsch“ bezeichnen, sondern als „anders“. Es gibt in Deutschland eine sehr ausgeprägte musizierende Jugend, aber diese konzentriert sich hauptsächlich nicht auf die Reproduktion klassischer Kunstmusik, sondern legt Wert auf die Produktion eigener Musik, v.a. um ihrer Subjektivität Ausdruck zu verleihen.
Ich war vor kurzem auf der zweitägigen Veranstaltung „Operation Ton“ in Hamburg. Dort fand künstlerischer Input durch wirklich professionelle Koryphäen (Masterclasses) statt, es ging um künstlerischen Austausch, um die Schnittstelle von Kunst und Vermarktung und um das Vernetzen mit anderen Musikern.
Ich war vollkommen überrascht von der riesigen Menge an kreativen jungen Menschen, die musikalisch etwas zu sagen haben - im Bereich der Popularmusik, abseits vom Mainstream und Plastik-Pop, mit einer großen Neugier und Entdeckerfreude, mit einer riesigen Lust am Experimentieren und am Einreißen von konventionellen Grenzen. Deren Musik lernt man gemeinhin aber nicht ohne Weiteres kennen, man muss schon aktiv danach suchen oder sie zufällig kennenlernen.

Fazit: Der künstlerische subjektive, unverwechselbare musikalische Ausdruck steht für die meisten jungen Musikerinnen und Musiker zumindest in Deutschland im Fokus des Interesses. Und da ist die Produktion eigener Musik für viele attraktiver als die Reproduktion nicht eigener Musik.
 

Vermutung: Vielleicht werden in anderen Ländern, vor allem in Asien und in osteuropäischen Ländern, Kinder in musikalischer Hinsicht deutlich stärker gefördert (= auf Staatskosten unterrichtet) als in D?
 
Was läuft in Europa (und nicht nur hierzulande) falsch? Und warum tun wir nichts dagegen? Sind wir zu bequem, zu satt oder einfach nur ignorant?
Ich denke, dass die, die im Kindes- und Jugendalter auf einem beachtlichen Niveau landen, es gar nicht in Betracht ziehen, eine musikalische Laufbahn in Angriff zu nehmen. Die Aussichten auf eine (Solo)Karriere am Flügel oder auf einen Posten an einer Musikhochschule sind denkbar gering.
Folglich bleiben die, die in ein Lehramt gehen. Die wird man jedoch nicht auf Wettbewerben finden.
 
Ich denke, dass die, die im Kindes- und Jugendalter auf einem beachtlichen Niveau landen, es gar nicht in Betracht ziehen, eine musikalische Laufbahn in Angriff zu nehmen.
Oder sie wechseln eben zur Popularmusik. Die Pop-Akademie in Mannheim etwa hat seit ein paar Jahren einen sehr stark gestiegenen Zulauf an Bewerbungen.
 
Vielleicht haben die Europäer auch einfach keine Lust mehr auf einen in Tradition verhafteten Wettbewerb, um es neutral auszudrücken.
 
Mir gingen so viele Sätze durch den Kopf, aber so gut wie @Stilblüte hätte ich es nicht ausdrücken können.
 
Vielleicht haben die Europäer auch einfach keine Lust mehr auf einen in Tradition verhafteten Wettbewerb, um es neutral auszudrücken.
Vielleicht ist das Niveau des Wettbewerbs einfach zu hoch. Und wenn dem Fuchs die Trauben zu hoch hängen, begnügt er sich halt mit der Ausrede, sie seien zu sauer …

Und die These von @Demian : „Der künstlerische subjektive, unverwechselbare musikalische Ausdruck steht für die meisten jungen Musikerinnen und Musiker zumindest in Deutschland im Fokus des Interesses“ klingt für mich eher wie eine euphemistische Umschreibung für „ist bequemer und mit weniger Anstrengung verbunden.“ einreißen lassen sich die „Grenzen des Konventionellen“ nur, wenn man sich an diese Grenzen auch begibt. Aber dazu müßte man sich aus seiner „Wohlfühlzone“ erst einmal herausbewegen.
 
Vielleicht ist das Niveau des Wettbewerbs einfach zu hoch.
Die Antwort könnte stimmen - allerdings nicht so, wie du sie gemeint hast. Das Niveau ist nicht so hoch, dass es keine Europäer mehr gäbe, die es bedienen können. Sprich: Es gibt welche, die's könnten. Ich persönlich wäre sicher nicht "gut" genug im Wettbewerbssinne - ich bin nicht der Typ dafür, mehrere Chopin-Etüden fehlerfrei runterzubrettern (als ich jung genug war, das zu üben, war ich noch nicht gut genug, und jetzt, wo ich es vielleicht könnte, habe ich weder Zeit noch Lust dazu - aber vermutlich kann ichs gar nicht :004: ).

Das Niveau ist zu hoch, um es noch einen sinnvollen Wettbewerb zu nennen. Um die Idee ad absurdum zu treiben stelle ich mir immer vor, man hätte Argerich, Rubinstein, Horowitz etc. einen Wettbewerb austragen lassen, und einer hätte gewinnen müssen. Was für ein Quatsch - alle spielen toll, aber eben ganz verschieden. Bei den Spitzenwettbewerben sind alle Finalisten normalreweise absolute Top-Pianisten. Sie spielen alle schön und sauber und könnten alle gewinnen.

Was durch diesen internationalen Vergleich allerdings inzwischen zumeist verloren geht, sind Individualisten (so jemand wie Pogorelich, der es ja schon damals schwer hatte). Niemand darf sich mehr angreifbar machen, denn sobald man polarisiert, ist man raus. Egal, wie interessant die Ideen vielleicht sind. Und vermutlich haben auch einfach nicht alle Topleute Lust, mehrere Stunden aalglatten Chopin zu üben und tausende von Euro auszugeben für einen Wettbewerb, bei dem sie vermutlich sowieso nicht gewinnen.
 
Ja, asiatische Arbeitsethik, Familienehre, gesellschaftliche Distinktion etc pp, stimmt alles. Aber darüberhinaus gibt es mittlerweile brillante Pianisten wie Sand am Meer. Wenn man nicht gerade genial und/oder hochattraktiv ist, wird es schwierig mit dem Geldverdienen, wenn man auf der konservativen zB Chopin-Schiene ist und versucht, die allerpolnischste Mazurka aller Zeiten hinzuzwirbeln. Das lockt in Westeuropa keinen Hund hinterm Ofen hervor. Die Vorbereitung auf diesen Wettbewerb kostet irre viel Zeit, die man nutzen könnte, um interessante und originelle Programme/ Projekte zu entwickeln, mit denen man sich eine lukrative Marktposition erarbeiten kann.
 
Vielleicht haben die Europäer auch einfach keine Lust mehr auf einen in Tradition verhafteten Wettbewerb, um es neutral auszudrücken.

Vielleicht haben "die Europäer" inzwischen einfach weniger Interesse an ihrer "klassische Musik"?

Selbst auf Plattformen wie "MusikersuchtMusiker" sind nur sehr wenige an "E"-Musik interessiert
Und die wohnen dann meist weit weg. Macht wenig Sinn, doppelt so lange zu reisen wie zu proben.
 
Vielleicht haben "die Europäer" inzwischen einfach weniger Interesse an ihrer "klassische Musik"?
Das scheint mir auch so zu sein. Einen der möglichen Gründe hab ich oben ja erläutert.

Und noch ein weiterer Grund fällt mir ein: In vielen Ländern außerhalb Europas gilt das Beherrschen der europäischen und europäisch geprägten Kunstmusik als Statussymbol, bis hin zu besseren Chancen auf dem Heiratsmarkt. Diese extrinsische Motivation fällt in Europa wohl größtenteils weg.
 

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