Chopin: Polonaise-Fantaisie As-dur op. 61

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Felix

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Ich habe gesucht und glaube tatsächlich, daß es noch kein Thema zu Chopins Polonaise-Fantaisie gibt. Falls ich mich irre, dürft ihr schelten.

Dieses Stück, das ja durchaus Ruf genießt, ist mir als Hörer leider nie besonders aufgefallen. Als Spieler ist das jetzt überwältigend anders. Das Werk schäumt über vor Ideen. Die nachzuverfolgen, zu zerpflücken, zu begaffen und sie wieder zusammenzusetzen, ist eine Reise. Ein verstricktes Gespinst, subtil, dann ausbrechend, wieder zerfallend; für den zwei- oder dreimaligen Hörer, der eine fetzige Polonaise erwartet, deswegen bestimmt etwas sperrig. Op. 53 hatte ich vorher im Programm, das ist Feuerwerk, aber eben nur Feuerwerk, und wird doch nach einer Weile fad. Op. 61 finde ich viel schwerer, nicht technisch, sondern schwieriger zu gestalten, zu verstehen, zu prüfen und binden.

Ich bin kein guter Klavierspieler, anderen Spielern stellen sich hier sicher ganz andere Herausforderungen. Mich interessiert das alles, ich würde gerne erfahren, welche Erfahrungen ihr mit diesem Stück gemacht habt. Woran denkt ihr, was sind eure besonderen Stellen, wo liegen die Schwierigkeiten, was ist einfacher bzw. schwerer als auf den ersten Blick gedacht, gibt es Tipps, Hinweise, Anekdoten, Affekte, die das Üben und das Spielen noch farbenfroher machen, Geschichten, Vorstellungen, Erinnerungen?
Ihr merkt schon, es ist diese prickelnde Phase. Man guckt oft hin und hofft auf Augenkontakt. Vielleicht schaut sie mal zurück.
Hier ist der Notentext.


Eine konkrete Frage stelle ich auch, siehe Notenbeispiel:

1.jpg

Mein Klavierlehrer besteht darauf, daß die markierten Sechzehntel zeitgleich mit der letzten Triolenachtel zu spielen seien. Das klänge sonst nicht gut. Er hat schon recht, wäre ein rechtes Gefutzel, aber gibt es auch Interpreten, die streng nach Text gehen und sich entsprechend Mühe geben, diese Stellen sinnvoll herauszuarbeiten? Später tritt die Figur ja auch in höherem Tempo auf, da dürfte eine entsprechende Gestaltung noch weniger gelingen.
Wenn sie zeitgleich gespielt werden sollen, warum hat Chopin es dann so notiert? Um den unterliegenden Rhythmusgedanken fortzuschreiben?
 
Wenn sie zeitgleich gespielt werden sollen, warum hat Chopin es dann so notiert? Um den unterliegenden Rhythmusgedanken fortzuschreiben?
Die Schreibkonvention „punktiertes Achtel + 16tel“ anstelle von „Triolenviertel + Triolenachtel“ ist nicht zuletzt der leichteren Lesbarkeit geschuldet. Achteltriolen benötigen nicht zwingend eine Triolenklammer, da schon die Balkierung die triolische Ausführung nahelegt. Bei „Triolenviertel + Triolenachtel“ wäre eine Klammer unbedingt erforderlich, um das Triolenviertel von normalen Viertel unterscheiden zu können.

Im raschen Tempo gleichen sich Punktierung und Triole eh‘ sehr stark an. Da brauchst Du nur noch den Doppelgriff auf dem letzten Triolenachtel unsauber anzuschlagen, dann klappert es schon mehr, als Dir lieb ist. Das ist jedenfalls die Erfahrung von
cb
 
@Felix ...du stellst sehr viele Fragen zu Chopins op.61 - so viele, dass man das alles gar nicht ausführlich in einem Beitrag beantworten kann.

Eine erste Variante, auf deine vielen Fragen zu reagieren, wäre "abbügeln": guck´ halt in eine musikphilologisch solide Urtextausgabe und spiel´ gefälligst exakt das, was da in den Noten steht; die haben sich da ihre Gedanken gemacht (und benötigen keine mäkelnden mimimi-warum-ist-das-so-gedruckt-Fragen von Laien) und einen brauchbaren und verständlichen Notentext geliefert. ;-) ...dabei könnte man es bewenden lassen, denn es ist sicherlich nicht falsch!

...eine zweite Variante, auf deine vielen Fragen zu reagieren, wäre, dir ein paar Hinweise zu liefern: Hinweise zu Chopins Werken (Hintergründe), zu seinen Eigenarten in der Notation, zu praktischen Problemen (was ist schwierig zu spielen etc) - dazu mal ein paar Anregungen:
a) Hintergründe
Niederschlagung des Warschauer Aufstands /"noch ist Polen nicht verloren" / Polenbegeisterung in den 30er Jahren des 19.Jhs. / - der "Pole" Chopin kam als Untertan des russischen Zarenreichs zur Welt, denn Polen war aufgeteilt in einen russischen, einen preußischen und einen kuk-österreich. Teil; als er Anfang November 1830 zu seiner zweiten Konzert/Auslandsreise antrat, geschah dies auch, um der angespannten Situation in Warschau zu entgehen - von dieser 2. Reise sollte er nie wieder zurück nach Polen kommen. Die militärische Niederschlagung des Novemberaufstands musste Chopin aus der Ferne wahrnehmen (Stuttgarter Tagebuch) und sie wirkte durchaus traumatisch auf ihn. Für Chopin geriet der Themenkomplex Heimat-Polen-polnische/eigene-Kultur in einen imaginären Bereich: auf der Landkarte gab es kein Polen, sondern ein Drittel des polnischsprachigen Territoriums war russisch (oder wie Chopin schrieb: moskowitisch) An der Polenbegeisterung der europäischen Intellektuellen mochte er sich später in Paris nicht beteiligen, hielt die Pläne zur Aufstellung einer polnischen Befreiungsarmee der Emigranten für unsinnig und lächerlich und lehnte das Ansinnen des exilpolnischen Dichters https://de.wikipedia.org/wiki/Adam_Mickiewicz , eine polnische Nationaloper zu komponieren, ab, weshalb die beiden prominenten Pariser Exilpolen ernsthaft entzweit waren (nebenbei: sein Freund Heinrich Heine spottete über die "Polenbegeisterung" https://de.wikipedia.org/wiki/Polenschwärmerei ebenso wie er; erst Moniuszko sollte mit "Halka" 1848 die polnische Nationaloper komponieren) - - diese Lebensumstände haben sich im kompletten Werk von Chopin widergespiegelt, er "verarbeitete" sie künstlerisch, allerdings ohne dezidiert Programmmusik zu komponieren. Die beiden c-Moll Etüden, das c-Moll Prelude und das d-Moll Prelude (die russ. Kanonenschläge am Ende als Fall von Warschau) beziehen sich auf den Novemberaufstand; die vier Balladen stehen in Verbindung mit bzw sind angeregt von Mickiewicz; Polonaise & Mazurka & Krakowiak sind "polnische" Gattungen; im 1.Scherzo taucht ein polnisches Weihnachtslied auf; die c-Moll Polonaise symbolisiert die Trauer um das untergegangene Polen, die A-Dur Polonaise karikiert verzerrend-ironisch den lächerlichen Traum von einer Befreiungsarmee; die "festliche" Polonaise op.53 (Polonaise als polnisch-festlich, con grandezza vgl. Liszt!) spielt mit dem illusorischen Traum von der Befreiungsarmee (die Kavallerieepisode der l.H. Oktaven) die Fantasie op.49 zitiert eines der Kampflieder des Novemberaufstands von hier aus kannst du überlegen, warum in op.61 "die Polonaise" samt ihrem Rhythmus nur quasi fragmentiert, nur angedeutet auftaucht, aber dennoch im charakteristischen Titel enthalten ist
==> ich schreibe NICHT, dass das die einzig wahre "Chopindeutung" ist - es ist eine von mehreren gleichermaßen gültigen Deutungsebenen: in Chopins Werk sind mehrere solche Bedeutungsebenen immanent. "ich deute nur an, der Zuhörer muss es vollenden" (Chopin) die hier angedeutete (es ließen sich ganze Bücher darüber schreiben) biografische Deutungsebene liefert immerhin Anregungen zum Verständnis für Chopins eigenwilligen Umgang mit dezidiert "polnischen" Gattungen.

b) Eigenheiten in der Notation
...gibt es bei Chopin sehr viele...
Ein Blick in die vorhandenen Manuskripte/Autographen macht ratlos, denn was man zu sehen bekommt, will gar nicht zum "Chopinbild" passen:
- der beliebte Romantiker hatte gänzlich unromantisch in seinen Manuskripten zeilen-, ja seitenweise nur Zahlen (!) und Buchstaben (!) aufs Notenpapier geschrieben...
- der beliebte Romantiker hatte oft genug fürchterlich gekritzelt, fürchterlich viel übermalt/ausgestrichen,
- der beliebte Romantiker war zeitweise zu faul beim notieren: schrieb erst die linke Hand mehrtaktig auf und entdeckte dann - verflucht aber auch - dass diese Takte nicht genug Platz bieten, um die rechte Hand dazu zu schreiben
- der beliebte Romantiker änderte ständig, war nie zufrieden, änderte auch oft genug nach dem Erstdruck
- der beliebte Romantiker war oft unentschieden in der Notation, schrieb ein und dasselbe mal so mal so (dazu weiter unten)
- manchmal notierte er akribisch ordentlich, überwiegend aber krakelig ungenau (von der kalligrafischen Akkuratesse der Wagnerhandschriften war er weit entfernt)
Manuskripte/Autographen: das ist, wenn vorhanden, zusammen mit Erstdrucken (ggf mit handschriftl. Korrekturen) und Abschriften die verbindliche Vorlage für Urtextausgaben. Im Fall Chopins haben die Verlage ihre liebe Not mit der Herstellung des gedruckten Notentextes:
Chopin Autograph 1 Prelude E-Dur.png
(Autograph Prelude E-Dur)
hier haben wir Achteltriolen in der Begleitung, wobei auf das erste und auf das dritte Triolenachtel jeweils eine Melodienote fällt - Kruzifix, der Frederic verwendet VIER verschiedene Schreibweisen in einer einzigen Zeile!!
Achtel + Achtel
punkt. Achtel + 16tel
Achtel + 16tel
doppelt punkt. Achtel + 32stel
(vermutlich ein Schreibfehler im 2.Takt)
(genau hinschauen und sich nicht irritieren lassen von dem durchschimmernden Gekrakel auf der Rückseite)
==> wegen des langsamen Tempos (largo) ist das Prelude für die Notation interessant, denn sie wirkt keinesfalls wie eine Konvention, sondern sie wirkt ziemlich unentschieden...
==> wir finden ebenso im Nocturne c-Moll op.48 differierende Schreibweisen für Töne, die auf Triolen fallen
in op.61 sieht das so aus:
Chopin Autograph 2.png
Chopin Autograph 3.png
offensichtlich notiert Chopin hier "normale" Achtel und Triolenachtel korrekt als 3 zu 2 - die Noten, die auf das 1. und 3.Triolenachtel fallen sind als punkt. Achtel & 16tel notiert: wobei hier ein beschleunigtes Tempo vorliegt (!) - - später in der Coda taucht noch eine weitere Schreibweise auf: Achtel - 16telpause - 16tel:
Chopin Autograph 4.png
offensichtlich wird der "Marschrhythmus" in schnellem Tempo hier den Triolen angeglichen - aber:
- wo kein begleitendes Triolenband vorliegt wie in Takt 13ff und 26ff sollte das nicht triolisch gespielt werden
- wo in ruhigerem Tempo die Rhythmen kollidieren (also das Motiv von Takt 13 mit Triolen unterlegt ist) ist man freier, sowie aber zu viele Nebennoten hinzukommen und das Tempo anzieht, sollte man wie Chopin notiert angleichen.
Das wäre eine Überlegung zu Notation

c) praktische Probleme
der komplette vollgriffige "Konzertschluß" ab Takt 242 ist anstrengend und richtig schwierig! Ob es einem hilft, dass man op.53 spielen kann? Ich fürchte, dass das speziell hierfür nicht besonders viel hilft (die Oktavgänge links sind ganz anders, die Akkordballungen rechts haben ebenfalls nichts mit op.53 zu tun) - - Chopin macht es einem da nicht leicht, im erforderlichen Tempo mit der nötigen Lautstärke alles darzustellen.
(ansonsten, also vorher, ist op.61 glücklicherweise nicht so arg fordernd in spieltechnischer Hinsicht)

Interessant zu lesen: Prof. Breig "Chopin und Wagner", Essay über die Harmonik in op.61 und Lohengrin

Ich finde op.61 enorm spannend, immerhin neben der Cellosonate und der Barcarolle op.60 Chopins letztes großformatiges Werk, wobei die Sonate und Barkarole nichts explizit "polnisches" einarbeiten. Eine Besonderheit ist der allerletzte Klang! Tolles Stück.
 
Zuletzt bearbeitet:
Lieber Rolf,

vielen, vielen Dank. Eine Antwort in der Art hatte ich mir erhofft, aber daß du dir derartige Mühe machst, ist wirklich großartig.

Du lieferst so viele Anregungen und Hintergrundinformationen, daß die mich lange beschäftigen werden. Ich kann damit auf eine ganz andere Art an das Stück herangehen, tiefer eintauchen, ein konkretere Klangvorstellung bilden. Danke für die "paar Hinweise".
Die Notenbeispiele mit der wechselhaften Schreibweise sind verblüffend. Bevor ich mich mit meinem Lehrer unterhalten hatte, war ich davon ausgegangen, daß sich die Werte, auf ein Viertel gezählt, wie folgt aufteilten: Triolen [4/12, 4/12, 4/12] zu punktierter Achtel mit Sechzehntel [9/12, 3/12]. Ganz mathematisch also, und die Sechzehntel hätte stets streng nach der dritten Triole kommen müssen.
Die Musik des beliebten Romantikers ist aber offenbar nicht mathematisch, du hast mir jetzt die Begründung dazu gegeben.

Dein Text ist mit Herzblut geschrieben, das freut mich. Tolles Stück, in der Tat.
 
Op. 53 hatte ich vorher im Programm, das ist Feuerwerk, aber eben nur Feuerwerk, und wird doch nach einer Weile fad.
Ich halte nichts davon 2 geniale Meisterwerke zu vergleichen!
Op. 53 schafft das Schwierigste: Jubel ohne Banalitäten!!
Ich spiele das Stück mit wenigen Unterbrechungen seit fast 50 Jahren und es ist noch immer NICHT langweilig.
Op. 61 ist in seiner problematischen, ja erratischen Komplexität bis hin zum Happyend mit Fragezeichen einer komplett anderen kompositorischen und ästhetischen Aufgabenstellung verpflichtet und daher unvergleichlich anders. Ich liebe beide Stücke und Chopin, weil er so vielfältig ist!
 
Ich spiele das Stück mit wenigen Unterbrechungen seit fast 50 Jahren und es ist noch immer NICHT langweilig.
Du hast recht, das war zu flapsig und vergreift sich an op. 53. Ich wollte pointiert ausdrücken, wie unterschiedlich ich die beiden Werke empfinde.
Dein Beitrag stellt das mit besseren Worten viel besser heraus, ich freue mich, meinen eigenen Eindruck so ausformuliert zu sehen.
 
Ein schönes Beispiel ist auch die wunderschöne Nocturne op. 15 Nr. 2 in Fis-Dur von Frédéric Chopin. Hier ist im "Doppio movimento - Teil" ähnliche Notierung, nur in Quintolen- Punktierung.
 

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