Charakterstück

F

Franz

Guest
wie steht ihr eigentlich zum Begriff der programmatischen Idee? Es ist klar, dass z.B. Schumann keine Programmmusik geschrieben hat, aber könnte man in einigen Fällen von einer programmatischen Idee sprechen?

dtv-Atlas Musik S. 113:

"Das Charakterstück (lyrisches Stück, Genrestück) ist ein kurzes instrumentales (meist Klavier-) Stück, das in der Regel einen außermusikal. Titel trägt.

Die Form des Charakterstückes liegt nicht fest. Wegen der Kürze und der meist lyrischen Gehalte überwiegen Liedformen.

Das Charakterstück steht zwischen der absoluten und der Programmmusik.

...

Bei der Entstehung von Charakterstück und Titel gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeilen:
- Der Komponist schreibt aus musikal. Fantasie ein Stück mit stark ausgeprägtem Charakter und gibt ihm nach dem Kompositionsvorgang einen außermusikal. Titel, wie es z.B. Schumann von sich bezeugt, oder ein Titel wird erst später auf Verlegerwunsch hinzugesetzt;
- der Komponist geht von einem außermusikal. Vorwurf (Bild, Gedicht, Person, Landschaft usw.) aus und überträgt den Stimmungsgehalt in Musik.
Der zweite Weg entspricht der Kompositionsweise der Programmusik (vgl. S. 142), wobei sich Programmmusik und Charakterstück dadurch unterscheiden, dass Erstere mehr Handlungsablauf oder Bilderfolgen, Letzteres mehr Stimmungshaftes, Zuständliches schildert. Fasst man den Begriff des Charakterstückes weit, so lassen sich auch diejenigen Stücke dazurechnen, die einen einheitlichen und stark ausgeprägten Charakter zeigen, aber keinen außermusikal. Titel, sondern nur eine Gattungsbezeichnung tragen. In dem Maße, wie das Außermusikalische als kompositionsbestimmender Faktor zunimmt, nähert sich das Charakterstück der Programmmusik.

...

Tonmalerei im Charakterstück
wird als Mittel eingesetzt, um die Fantasie des Hörers in bestimmte Richtungen zu lenken. Bei der Wiedergabe von Außermusikal. ist die Grenze zwischen Zuständlichem (Charakterstück) und Ablauf (Programmmusik) oft nicht scharf zu ziehen. Auch das Zuständliche muss musikal. im Nacheinander gezeichnet werden, was die Möglichkeit programmatischen Ablaufs impliziert. Schumanns Stück Kind im Einschlummern malt Stimmungsgehalt und Vorgänge aus: Es beginnt mit wiegendem Schaukeln und endet mit dem raschen Versinken in die Ruhe des Schlafes (überraschende Harmonik, Stillstand im Akkord; Abb. B)."
 
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Ergänzt man hier noch, dass berechtigt erst für die Zeit ab ungefähr 1850 von Programm-Musik contra absoluter Musik gesprochen werden kann, einfach weil diese folgenreiche Gegenüberstellung erst ab da überhaupt vorlag, so ist diese Beschreibung des Oberbegriffs Charakterstück doch ganz ok.

Ich halte es für wenig zweckdienlich, Programm-Musik bzw. ihre musikalischen Techniken gleichsam rückdatierend vor 1850 in Charakterstücken und sei es partiell aufsuchen zu wollen. Der Grund ist: als Alternative zur Sinfonik (und nicht zu Kleinformen) hatten sich die Gattungen der Programm-Musik (sinfonische Dichtung, Programm-Sinfonie etc) verstanden und präsentiert.

Da aber der sehr allgemeine Oberbegriff des Charakterstücks eben auch manche größere Form einschließt, gibt es unter den Charakterstücken nach 1850 durchaus auch solche, die man eher der Programm-Musik zuordnen kann. Z.B. Liszts Mephistowalzer.

Vor 1850 aber gibt es durchaus sehr interessante Charakterstücke, die schon allein aufgrund ihrer Gattungsbezeichnungen spannende Fragen stellen:
Die Ballade ist primär eine literarische Gattung. Freilich wurden literarische Balladen auch vertont (Loewe, Zelter, Schubert u.a.). Neuartig aber war diese Gattungsbezeichnung Ballade für großformatige, ausschließlich aber dem Soloklavier zugedachte Charakterstücke von Frederic Chopin.
Über die Chopinschen Balladen als erzählende Instrumentalmusik hatte Adorno sehr erhellendes gschrieben, u.a. dass sie gegenüber den bis dahin gebräuchlichen musikalischen Formen eben auch im Verlauf, in der Dramatik des musikal. Geschehen neue Verfahrensweisen einführten. Z.B. finden sich die Hauptthemen gleich der ersten Ballade g-Moll von Chopin in derart unterschiedlichen charakterlichen Formen, dass sie recht weit von der Themenverarbeitung der Sonaten bis dahin unterschieden sind. Hier deutet sich durchaus eine Art Vorläufer der späteren Thementransformation (Liszt) an.
Freilich regte der Titel, die Gattungsbezeichnung, natürlich auch die Frage nach dem Bezug zu literarischen Balladen an - hier kann, u.a. durch Schumann bezeugt, lediglich darauf verwiesen werden, dass die Balladen Chopins stimmungsmäßig und partiell assoziativ irgendwie mit den Balladen Konrad Wallenrod, Switez & Switezanka von Adam Mickiewicz zu tun haben. Aber nicht auf illustrierende, nacherzählende, inszenierende Art und Weise - eher mittels einzelner "Stimmungsbilder": z.B. Ballade F-Dur das Ritornell im Barkarolenrhythmus kann den Reigen der Nixen, das Presto con fuoco kann den die Stadt verschlingender Sturm stimmungsmäßig assoziieren - aber wir finden in Chopins Balladen weder den verschachtelten Verlauf der Balladen von Mickiewicz nachgezeichnet, noch finden wir bei Chopin die Ironie von Mickiewicz, auch den patriotischen und dezidiert anti-russischen Anklagetonfall Mickiewiczs finden wir nicht - bestenfalls im Bereich der romantischen Naturmagie liegen stimmungsmäßige Berührungen. (übrigens empfehle ich wärmstens, Mickiewicz zu lesen - den hat man nicht umsonst den polnischen Goethe und Byron genannt). Die wenn man so will inneren, stimmungsmäßigen Verbindungen von Chopin zu Mickiewicz machen die Balladen noch nicht zu Programm-Musik.

Im 19. Jh. war das ehemalige Königreich Polen (lange Zeit waren übrigens die sächsichen Kurfürsten zugleich die Könige von Polen, z.B. August der Starke) aufgeteilt in drei Herrschaftsbereiche: einen russischen, einen preussischen und einen österreichischen, (Chopin kam im russischen zur Welt) dieser Zustand blieb bis zum Ende de Ersten Weltkriegs. - - nun war, nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Winter 1830, eine große Exilwelle eines der vehement diskutierten Themen im damaligen Europa: besonders in der "Hauptstadt des 19. Jh." Paris versammelte sich die Prominenz (Adel und Künstler) der Exilpolen - hier war der Kreis um Adam Mickiewicz die politisch tätigste Kraft.
Da stellt sich nun eine ganz andere "programmatische" Frage (lange vor und anders als Liszt & Wagner): die über 50 (!!!) Mazurken (polnische Tänze) und die großen Polonaisen (die Polen ja schon im Namen enthalten) - sind sie am Ende vielleicht auch politisch zu verstehen?
Mickiewicz geriet mit Chopin in Streit, weil dieser der Aufforderung, eine polnische Nationaloper zu komponieren, nicht folgen wollte (das tat erst Stanislaw Moniuzko mit seiner "Halka", 1. Fassung 1847, 2. Fassung 1857).

In diesem Kontext erhalten also die "nationalen Schulen" des 19. Jh. auch in der Klaviermusik eine zusätzliche Dimension.

Gruß, Rolf

Gruß, Rolf
 
Hallo Franz,

wie schön, dass du wieder da bist :) !

Ja, einfach ist das nicht mit der Zuordnung von Programmmusik, absoluter Musik bzgl. des Charakterstücks.

Der Begriff "Charakterstück" ist ja erst im 20. Jhd. aufgekommen. Schumann sprach, glaube ich, von Genrestücken.
In meiner Examensarbeit damals habe ich schon festgestellt, wie viele Widersprüche es in der Musikwissenschaft bei diesem Thema gab und vielleicht immer noch gibt.

Hier mal ein paar Zitate Schumanns (ich beschränke mich mal gerade auf Schumann, weil der ein so bedeutender Vertreter des Charakterstücks ist):

Freilich ist's wahr: Fehlt die Idee, so sucht man die Form und Gestalt der Teile interessant zu machen; ist aber der Gedanke da, so bedarf es des harmonischen Putzes nicht, der so oft schadet."

"Schlage man zufällige Eindrücke nicht zu gering an, unbewußt neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohre das Auge."

"ich will nicht leugnen, dass mir beim Komponieren einige Kinderköpfe vorschwebten"
(kein genaues Zitat, da aus dem Kopf zitiert) - zu den "Kinderszenen"

Anscheinend wurde auch früher mal noch zwischen Programmmusik, charakteristischer und absoluter Musik unterschieden. Aber da können die Musikwissenschaftler etc. hier sicher mehr zu sagen. Außerdem scheinen einige Musikwissenschafler die ausschließliche Unterscheidung in absolute und Programmmusik zu einseitig zu finden. Dieser Meinung kann ich mich nur anschließen, was das Charakterstück betrifft.

Zum Schluß noch einen Beitrag hierzu aus dem MGG, der zeigt, zu welchen Widersprüchen eine Definition herausfordern kann:

Von der Programmusik wird seit der Dissertation von Martha
Vidor (1924 ) das Charakterstück abgegrenzt. Sie unterscheidet beide
u.a. im Hinblick auf das Sujet: ≫Das Verhältnis zwischen aussermusikalischer Vorlage und Musik ist ein von der Programmusik wesentlich verschiedenes: es handelt sich nicht um die Darstellung eines Gegenstandes, vielmehr um die lyrische Schilderung des Gesamteindruckes, den der Gegenstand beim Komponisten auslöst. Die Haupteigenschaften des Charakterstuckes sind das Fehlen jeder Entwickelung
und Bewegung im programmatischen Sinne, und infolgedessen Unbeweglichkeit, Bildhaftigkeit und Einheit der Stimmung≪ (S. 37).

Gegenüber derartigen Eingrenzungen ist Vorsicht geboten, weil sie von einem verkürzten Begriff der Programmusik ausgehen.

Dennoch hat sich die Unterscheidung eingeburgert: In E. Bodkys Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Sammlung ""(Bln. 1933, Wfbl. 21960) wird das Charakterstück als ≫eine Etappe, eine wichtige Übergangs- und Zwischenstufe auf dem Wege von der absoluten Musik zur Programm-Musik≪ eingeordnet. Diese Mittlerstellung des Charakterstücks zwischen absoluter und Programmusik wurde dann von W. Kahl in seinem 1952
erschienenen Artikel "Charakterstück" (in MGG) historisch weiter untermauert.
Erst W. Wiora leitete mit seinem Aufsatz "Zwischen absoluter und
Programmusik " 1963 eine Neubewertung ein, deren letzte Konsequenz
nach den ergänzenden Beiträgen von L. Finscher (1979 ) und A.
Newcomb (1984 ) J. de Ruiter in seiner Studie über die verwickelte
Geschichte des Charakterbegriffs in der Musik (1989) zieht.

Viele Grüße

chiarina
 
Hallo.

ähm, im Mgg steht natürlich nicht "Viele Grüße, chiarina" :D.

Ach ja!

dito

chiarina
 
Moin Rolf

aber wir finden in Chopins Balladen weder den verschachtelten Verlauf der Balladen von Mickiewicz nachgezeichnet, noch finden wir bei Chopin die Ironie von Mickiewicz, auch den patriotischen und dezidiert anti-russischen Anklagetonfall Mickiewiczs finden wir nicht[/B] - bestenfalls im Bereich der romantischen Naturmagie liegen stimmungsmäßige Berührungen.


Ich bin mir da nicht absolut sicher - zumindest was die Konstruktion angeht:

Die Ballade g-moll umfaßt 264 = 4 x 66 Takte, und genau in Takt 66
schreibt Chopin seine nackten Initialen.

Wenn Gott den Russen den Sieg zugestanden hat - bin ich dann
vielleicht der Teufel?


Nimms als esoterische Ausschweifung....

Herzliche Grüße

stephan


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Ich bin mir da nicht absolut sicher - zumindest was die Konstruktion angeht:

Die Ballade g-moll umfaßt 264 = 4 x 66 Takte, und genau in Takt 66
schreibt Chopin seine nackten Initialen.

hallo,

aber was sagt das über die meiner Ansicht nach eher lose Verbindung zwischen der g-Moll Ballade und dem Konrad Wallenrod von Mickiewicz?

ansonsten Chopin und Mickiewicz:
ziemlich genau durchgeforstet hatte ich das mal bzgl. Ballade F-Dur und Switez - aber vermutlich schweifen wir jetzt schon zu weit von diesem Faden hier ab...

Gruß, Rolf
 
Hai Rolf

aber was sagt das über die meiner Ansicht nach eher lose Verbindung zwischen der g-Moll Ballade und dem Konrad Wallenrod von Mickiewicz?

was weiß ich.

Nochmal:


noch finden wir bei Chopin die Ironie von Mickiewicz​

Darauf bezog sich meine Einlassung.
Ich glaube, eine sehr abgründige Ironie bei Chopin lesen zu können.

Wir zwo beide wollen doch hier nicht etwa auch noch so
weitermachen, wies uns hier andauernd vorgemacht wird, oder?

gruß

stephan


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Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Darauf bezog sich meine Einlassung.
Ich glaube, eine sehr abgründige Ironie bei Chopin lesen zu können.

ok - das leuchtet mir ein, seh ich auch so.

Das hatte auch Schumann erspürt (bzgl. Scherzo b-Moll). Und das hat Chopin schon recht früh, z.B. in der ersten Handvoll Mazurken, auch in den La ci darem la mano Variationen. Ob er das so früh schon Anregungen von Mickiewicz verdankt, weiß ich nicht, wird man wohl auch kaum herausbekommen. Da fällt mir ein, dass er sehr ironische bis zynische Bemerkungen schon in seinen Jugendbriefen geäußert hatte!...

herzliche Grüße, Rolf
 
Ergänzt man hier noch, dass berechtigt erst für die Zeit ab ungefähr 1850 von Programm-Musik contra absoluter Musik gesprochen werden kann, einfach weil diese folgenreiche Gegenüberstellung erst ab da überhaupt vorlag, so ist diese Beschreibung des Oberbegriffs Charakterstück doch ganz ok.

Ich halte es für wenig zweckdienlich, Programm-Musik bzw. ihre musikalischen Techniken gleichsam rückdatierend vor 1850 in Charakterstücken und sei es partiell aufsuchen zu wollen.

Im Prinzip sehe ich das genau so.
Allerdings würde ich sagen, die Programm-Musik war nicht ungefähr 1850 plötzlich da, es gibt eine Entwicklung dahin und da spielt das Charakterstück, die "kleine Form" eben auch eine Rolle.

Auf tonmalerische Mittel, sofern sie vorhanden sind, hinzuweisen, wie es am Beispiel Kind im Einschlummern beschrieben ist, halte ich aus pädagogischer Sicht für durchaus zweckdienlich.

Für wirklich wenig zweckdienlich halte ich die strikte "schwarz/weiß" Betrachtung der Begriffe Programm-Musik/absolute Musik, gerade in der Romantik finden sich da zuviele Grauzonen.
 
Im Prinzip sehe ich das genau so.
Allerdings würde ich sagen, die Programm-Musik war nicht ungefähr 1850 plötzlich da, es gibt eine Entwicklung dahin und da spielt das Charakterstück, die "kleine Form" eben auch eine Rolle.

erstens:
aber diese Entwicklung eindeutig auszumachen, nachzuzeichnen, ist nahezu unmöglich - das ist ein spezielles Gebiet, in welchem innerhalb der Musikwissenschaft einige Kontroversen toben (vgl. sinfonie en programme etc). Insofern ist es eher ungeschickt, wenn man sich in diesen Hexenkessel wagt, und eindeutige Bezüge zur Programm-Musik quasi "vordatiert".

zweitens:
ihren "Ankick" erhielt die Programm-Musik durch Berlioz Werke: fantastische Sinfonie, Harold in Italien usw. - das sind sehr großformatige, sinfonische Sachen. Die Programm-Musik ab grob 1850 interessiert sich eher für die großformatigen Angelegenheiten (sinfonische Dichtungen, Programmsinfonien etc.) - - Charakterstücke freilich umfassen allerlei von großformatigen bis zu winzigen Instrumentalstücken. Sicher stimmst Du mir zu, dass sich in einer Miniatur kaum ein umfangreiches Programm verbergen kann :)

drittens:
die Definition der "reinen Instrumental-Musik", der "absoluten Musik" (letztere eben nicht negativ konnotiert, wie Wagner diesen Begriff geprägt hatte [Oper und Drama]) ist integrativ und zugleich Tradition(en) konstituierend, denn sie ist eben auch rückwärts gewandt und schließt ausdrücklich (Hanslick) die Instrumentalmusik der 1. Hälfte des 19. Jh. und die Musik des 18. Jh. mit ein.
also in diesem Sinne kann sehr wohl jegliches Charakterstück vor 1850 in den Oberbegriff "absolute Musik" miteinbezogen werden - umgekehrt weit problematischer ist es, Vorläufer von Programmen dingfest zu machen. Und da stören "poetische Anregungen & Titel" in keiner Weise: ein Charakterstück kann klangmalerisch sein, kann "der Vogel als Prophet" heissen - es ist dennoch in der "Schublade" Instrumentalmusik ohne Programm-Musik zu sein ganz gut untergebracht.

Gruß, Rolf
 

Bitte um Vergebung, wenn ich mich in diese Diskussion mit einer Frage einschalte:

Ich möchte demnächst gerne anfangen, mir die einfacheren Stücke aus den "Bildern einer Ausstellung" zu erarbeiten und versuche zunächst einmal, ein bißchen mehr Verständnis für die Stücke zu gewinnen. Und hier stellt mich der in diesem Faden eingeführte Unterschied "Charakterstück : Programmusik" gleich (wenn ich richtig verstanden habe) "lyrisch : narrativ" vor die Frage, in welche Kategorie M.s "Bilder" gehören.

Bei der Lektüre von Beschreibungen des "Bydlo" ist mir öfters die Verwendung des Begriffs "Erzählung / erzählen" aufgefallen. Nun, ist das Stück wirklich "narrativ" oder nicht doch "lyrisch"? Natürlich, es "geschieht" da etwas in drei Phasen (gleich drei Varianten der Melodie): Der Wagen kommt fortissimo daher, passiert "con tutta forza" den Standpunkt des Betrachters, um sich danach "perdendosi" am Horizont zu "verlieren". Aber könnte man das Stück nicht auch als lyrische "Mimesis" (ich verwende das Wort mangels Kenntnis musiktheoretischer Begriffs zur Abgrenzung von der analytischen "Bildbeschreibung") einer einzigen, globalen Situation verstehen, die Vorbeifahrt eines rumpelnden Vehikels eben?

Was ich mit der "globalen Situation" meine, kann ich leider nur durch einen Seitenblick auf die Literatur erläutern, nämlich auf die erste belegte "Bildbeschreibung" der abendländlischen Literatur, den Schild des Achill bei Homer. Dort werden allerlei Szenen mit aufeinanderfolgenden Ereignissen geschildert, z.B. eine Stadt wird belagert, die Leute wehren sich, ein Teil von ihnen macht einen heimlichen Gegenangriff usw. Nun hat das Griechische ein Aspektsystem, unterscheidet also, ob eine Situation als abgeschlossen oder nicht-abgeschlossen aufgefaßt wird; ersteres tut es mit dem sog. "Aorist", letzteres mit dem "Imperfekt". Interessanterweise stehen die homerischen Szenen selber alle im Imperfekt - es wird als Ausdrucksmittel dafür verwendet, daß hier nicht sukzessive Ereignisse *erzählt*, sondern eine Gesamtsituation *beschrieben* wird. Nur zwischen den Bildern (eigentlich: den Bildgruppen) wechselt der Autor in den "Aorist" (sagt z.B. "und dann machte der Künstler zwei Städte...") und der Hörer weiß, jetzt "geht es weiter".


Meine Frage wäre also: gibt es irgendwelche Kriterien, den Bydlo (oder andere "Bilder" - bei den zwei Juden stellt sich die Frage möglicherweise verschärft) als narrativ oder als lyrisch (oder etwas Drittes) anzusehen? Und welche Konsequenzen hätte die Entscheidung für die musikalische Interpretation?

Friedrich
 
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Bilder einer Ausstellung

hallo Friedrich,

nach meiner Ansicht kann man Mussorgskis Zyklus aus mehreren Gründen zur Programm-Musik zählen:

1. auf der narrativen Ebene ist das Programm der Besuch einer Gedächtnisausstellung (die Bilder sind die Exponate, die Promenaden sind der subjektive Betrachter) - und tatsächlich gab es diese Ausstellung, ein paar Exponate sind sogar überliefert; und dieses narrative "Programm" wird von Mussorgski, Stassow, Rimsky-Korsakow bestätigt.

2. auf einer weiteren Ebene verfolgt dieser zielorientiert strukturierte Zyklus, eine Art "panslawisches-russisches Realismusprogramm" nahezulegen: die Sympathie des fiktiven musikalischen Betrachters (Promenade) gilt den sozialkritischen (Gnom, Bydlo, Goldenberg 6 Schmuyle) und realistischen (Tuileries, Limoges) Bildern, das romantische Genrebild (vecchio Castello) wird abgelehnt, und am Ende werden das heidnische (Baba Yaga) und das orthodox-christianisierte (Heldentor mit Osterprozession und Glockengeläut, thematisch abgeleitet aus der Promenade!!!) Altrussland als ideale Vergangenheit und Orientierung glorifiziert.

3. eher zur bestimmt und bewußt außermusikalisch orientierten Programm-Musik zählt der geglückte Versuch eines quasi Realismus mit musikalischen Mitteln (damit dem späteren italienischen Verismo der Oper nicht unähnlich)

Für das Spielen aber sind zunächst ganz praktisch die innermusikalischen Angelegenheiten relevant - hier gilt es, Mussorgskis ebenso ungewöhnliche wie faszinierende Notation zu realisieren. Z.B. der Bydlo kann gar nicht genug rumpelnd und schwer beladen und "sozialkritisch traurig" klingen - da wuchten sich mühsam die großen Räder des Ochsenkarrens durch den Matsch, so ganz und gar kein fröhlicher Landmann ist das - - - schau Dir mal Ilja Repins Wolgatreidler an!

Auch hilfreich ist, im Vergleich zu anderer (spät)romantischer Musik zu hören, wie anders Mussorgskis Klangrede ist.

Als bewußt orientierter Zyklus von thematisch miteinander verflochtenen (die Promenade ist in jedem "Bild" gegenwärtig, man muss nur in den Noten etwas suchen -- das hat er von der Konstruktion der Kinderszenen übernommen: Mussogski war ein Schumann-Fan) "irgendwie Genrebildern / Charakterstücken" ist das Programm-Musik - - und wie ich finde: eine der schönsten!

herzliche Grüße, Rolf

ach ja: natürlich ist da vieles doppelbödig, mehrdeutig: die "Bilder" stehen eigentlich nicht für sich da, wir "sehen/hören" sie perspektivisch aus der Position des mal begeisterten, mal gerührten, mal ablehnenden musikalischen Ich-Erzählers - und der ist Mussorgski selbst.
 
Lieber Rolf,

vielen Dank für Deine aufschlußreichen Hinweise. Die (partielle)
Parallele zur homerischen Schildbeschreibung habe ich schon in meinen
Lehrunterlagen "versenkt", und hoffe, daß sie bei passender
Gelegenheit den wenigen musikinteressierten Studies, die wir haben,
Freude machen wird.

Darf ich noch eine Frage nachschieben, die nichts mit dem Thema dieses
Fadens zu tun hat (bitte alle Mitleser um Entschuldigung - ich werde
es auch bei ihr bewenden lassen):

das romantische Genrebild (vecchio Castello) wird abgelehnt

Worauf stützt sich diese Aussage? Und steht vielleicht das eigenartige
Faktum mit ihr im Zusammenhang, daß dieses Stück als einziges einen
italienischen Titel trägt?

Als bewußt orientierter Zyklus von thematisch miteinander
verflochtenen [...] "irgendwie Genrebildern / Charakterstücken" ist
das Programm-Musik - - und wie ich finde: eine der schönsten!

Das finde ich auch! Ich war schon als Schüler fasziniert von dieser
Mischung aus archaischen und modernen Tönen und bin es jetzt wieder -
die Drehleiher aus dem Alten Schloß summt schon die ganze Zeit in meinem
Kopf ...


Dank und Gruß,

Friedrich
 
Darf ich noch eine Frage nachschieben, die nichts mit dem Thema dieses
Fadens zu tun hat (bitte alle Mitleser um Entschuldigung - ich werde
es auch bei ihr bewenden lassen):



Worauf stützt sich diese Aussage? Und steht vielleicht das eigenartige
Faktum mit ihr im Zusammenhang, daß dieses Stück als einziges einen
italienischen Titel trägt?

hallo Friedrich,

das alte Schloß ist unter den "Bildern" - mal tatsächlich als Bild betrachtet - das einzige, welches eine quasi künstliche oder gekünstelte Szenerie darstellt: in alten, verklärten Zeiten, längst vorbei, ein Troubadour, sinnigerweise vor den Ruinen eines Castells - mit wütender Ablehnung reagiert die Promenade forte pesante auf den verdämmernden Schluß: eine brüske Reaktion, wie sie sich sonst nicht findet. Undnatürlich wendet sich die Promenade (der Erzähler) sofort einem Bild zu, das ihm "wahrer" erscheint: die spielenden Kinder.

es liegt also an der wütenden, in C-Dur notierten, aber in H-Dur harmonisierten Promende nach dem vecchio Castello (man kann auch zusätzlich so lesen. gis-Moll war "falsch", H-Dur ist "richtig")

Gruß, Rolf
 
hallo Friedrich,

noch ein wenig Geduld, dann maile ich Dir die Kopien vom Autograph und ein paar Texte. Und dieser Faden muss nicht zum "Bilder"-Faden gemacht werden.

In jedem der 10 Bilder ist eines der beiden Promenaden-Themen eingeflochten, egal wie sehr verbogen und verborgen - der narrativ-musikalische Blick auf die "Bildinhalte" ist also bewußt, absichtlich und kunstvoll perspektivisch. Die Bilder sind damit eben nicht neutral, sondern es wird uns alles durch diese wertende Perspektive überhaupt mitgeteilt - und darin steckt das innere Programm, das Anliegen dieses Zyklus.

Genau diese sehr radikale Subjektivität, die sich durchaus auch in der ungewöhnlichen Notation, Harmonik und Klangsprache niederschlägt, macht diesen Zyklus zu einem singulären Kunstwerk.

Man merkt das beim ersten Hören nicht sogleich - und das ist Absicht: Mussorgski überrumpelt uns und macht uns staunen!

Gruß, Rolf

p.s. für mich zählen die Bilder zum Besten der gesamten Klavierliteratur!
 

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