Zurück zum Beispiel: musikalische Regeln sollten also gar nirgends einprogrammiert werden - das wäre ein Rückfall in ältere Modelle der Künstlichen Intelligenz.
Bei der Versuchsanordnung, die Maschine wie einen Komponisten aus Fleisch und Blut komponieren zu lassen, wäre etwas Entscheidendes zu beachten: Kein auch nur halbwegs guter Komponist stellt Regeln auf und komponiert danach, vielmehr nimmt er sich die Freiheit, auch Intuition und besondere Ausdruckswerte zu berücksichtigen, was die Maschine nicht kann und auch niemals können wird. Deshalb sind ja die bekannten musiktheoretischen Lehrwerke erst entstanden, als die in den vermittelten Techniken erstellten Kompositionen längst existierten. Es fällt auf, dass der zeitliche Abstand zwischen Praxis (Entstehungszeit der Kompositionen) und Theorie (Entstehungszeit von Lehrwerken zu den dazu verwendeten Kompositionstechniken) immer kürzer wurde, bis im 20. Jahrhundert erstmals mit seriellen Kompositionstechniken theoretische Vorgabe und praktische Ausführung die beiden Zeitpunkte zusammenfielen. Die Werke, die aus jener Zeit dauerhaft überleben werden, dürften sich ganz sicher nicht auf ein formales Abarbeiten aufgestellter Regeln beschränken, sondern ein individuelles Gesicht präsentieren.
Vermutlich geht es bei dem Versuch, die Maschine komponieren zu lassen, gar nicht darum, den komponierenden Menschen überflüssig zu machen. Ich könnte mir lediglich vorstellen, dass in jenen Einsatzbereichen, in denen anspruchslosen Konsumenten "Musik aus der Dose" genügt, eine solche auch angeboten wird. Nicht mehr und nicht weniger.
Parallelbeispiel aus der Piano-Livemusik: Hintergrundbeschallung für Hotelfoyers und Einkaufszentren ist seit etlichen Jahren auch "aus der Dose" verfügbar, sogar am Instrument selbst: Datenträger starten und man erhält stundenlanges Liveklimpern, ohne dass man einen teuren Unterhaltungsprofi engagieren muss. Sogar die Tasten bewegen sich von selber. Dumm aber auch, dass ein flexibles Eingehen auf Stimmungen mit dem Feingefühl eines mit wachen Sinnen beobachtenden Musikers damit nicht möglich ist und das als anspruchslos eingeschätzte Publikum das durchaus registriert. Viele denken sich ihren Teil und machen sich zeitnah vom Acker - andere beschweren sich bei der Geschäftsleitung, man möge diese Klangtapete entweder durch einen sensiblen Menschen aus Fleisch und Blut ersetzen oder den Kasten endlich abstellen.
Es gibt doch heute schon den "automatischen Organisten" für Digitalorgeln - soweit ich weiß, "spielt" das System allerdings die in den Orgelbüchern vorhandenen Choralsätze, die in den meisten Fällen einigermaßen frei von Parallelen sein dürften.
Wenn der Pfarrer vorne am Altar das richtige Knöpfchen drückt, kann er sogar zwischen einer kurzen oder langen Intonation wählen. Das ist schon fast wie in Kagels Hörspielkomposition "Der Tribun": Der politische Redner unterbricht seine Phrasensammlung zu selbst gewählten Zeitpunkten durch Musikeinspielungen vom Tonband, das er selbst startet und stoppt. Musiker gibt es zwar, aber diese haben die strikte Anweisung, ihre Instrumente nicht zu benutzen. Die "Orgelmusik aus der Dose" hingegen existiert, weil man für den Dienst auf der Orgelbank niemanden finden konnte oder für dessen Einsatz angeblich kein Geld da ist. Lebendige Musikbeiträge zur Verkündigung von Gottes Wort sehen anders aus. Wenn man glaubt, den Kantor durch einen lebensecht aussehenden Musikroboter ersetzen zu können, wird dieser Irrglaube den Abwärtstrend im Haus der Kirche eher weiter verstärken. Dann würden Priester und Gemeindemitglieder irgendwann ebenso austauschbar und überflüssig.
Fazit? Man unterschätze nicht die individuelle Kraft menschlicher Phantasie und Kreativität. Das vermag die Maschine nicht zu leisten - hingegen in motorisch-reproduktiver Hinsicht hat sie auf jeden Fall ihre Daseinsberechtigung. Als jemand, der selbst Noten schreibt, sage ich: Wunderbar, dass der Computer mir ermöglicht, professionelles Notenmaterial und vieles mehr herzustellen. Höre und sehe ich aber den eingangs vorgestellten "Bach aus der Dose", dann sage ich nur: Wer so etwas mal als Spielerei durch eine Maschine erledigen lassen will und die Existenz dieses leblosen Zeugs hinnimmt, nur zu. Mein individuelles Bedürfnis nach schöpferischer Äußerung und das damit verbundene Denken lasse ich mir durch eine Maschine nicht abnehmen. Es interessiert mich schlicht und ergreifend nicht, ob sie die alten Meister mehr oder minder gut imitieren kann. Selbst wenn eine weiterentwickelte Software ohne Parallelen und mit sanglichen Stimmführungen funktioniert und bessere Ergebnisse ermöglicht - ja, und?
LG von Rheinkultur