Lieber Nils,
die Phrasierung ist ein sehr wichtiges Gestaltungsmittel und ich freue mich über dieses Fadenthema. Aus meiner Sicht ist die hohe pianistische Qualität von z.B. Sokolov und Kissin u.a. darin begründet, dass sie die Phrasen in ihrem Aufbau ungeheuer zwingend und intensiv gestalten - es gibt eine Klarheit in der Struktur, dass man nur staunend zuhören kann.
Musik und Sprache sind in vielem ähnlich und so kann man, wenn man sich mit Phrasierung beschäftigen möchte, als Erstes damit beginnen, wahrzunehmen, wie unsere Sprachmelodie funktioniert und klingt. Wir nehmen diese Sprachmelodie oft nicht wahr, weil sie als Muttersprache "automatisiert" ist, aber wenn man sie sich schon bei einem ganz einfachen Satz bewusst macht, wird einiges klarer.
Wir nehmen mal den Satz "ich spiele Klavier". Wir stellen fest, dass wir keineswegs mit unserer Stimme auf einer Tonhöhe bleiben (das kann man als Kontrast durchaus mal machen, indem man mit einer Art Roboterstimme auf einer Tonhöhe "leiert"), sondern ein Auf und Ab von höheren und tieferen, von leiseren und lauteren Tönen sprechen (Sprachmelodie). Wir haben auch ein Ziel, einen Höhepunkt, nach dem sich die anderen Töne in seinem Umfeld richten - ich kann je nach dem, was ich sagen will (Inhalt/Bedeutung) betonen:
ich spiele Klavier (nicht du)
ich spiele Klavier (nicht Geige)
ich spiele Klavier (etwas weniger gut, aber auch noch möglich).
Bestimmte Silben können also betont werden, es gibt nicht nur eine Möglichkeit, je nachdem was ich inhaltlich sagen will. Nicht möglich, weil sinnentstellend, wäre:
ich spiele Klavier
ich spiele Klavier.
Es gibt also auch in der Phrasierung "No-Go's".
Ganz ähnlich funktioniert auch die Phrasierung in der Musik. Dabei ist es sehr sinnvoll, so zu üben, dass man nicht am Ende der Erarbeitung eines Stücks mit der Phrasierung anfängt, sondern die musikalischen Gestaltungsmittel, nicht nur die Phrasierung, nach und nach in die Arbeit und den Übeprozess integriert. Man könnte z.B. eine Melodie eines Stücks erarbeiten und sich (das Erarbeiten der Noten und des Rhythmus' dieser einen Stimme dauert meistens nicht allzu lang) sich dann schon um die Phrasierung Gedanken machen. Nebenbei: deshalb bin ich der Meinung, dass bei mehrstimmigen Stücken im Regelfall direktes und ausschließliches Zusammenspielen der Hände sehr ungünstig ist, da man die horizontalen Stimmverläufe so nicht hört, herausarbeitet, und oft unmusikalisches Spiel die Folge ist. Stimmenweises Üben hilft da sehr, denn dann kann man sich auf die Phrasierung u.v.a.m. konzentrieren (horizontale Ebenen). Ähnlich einem Orchester, bei dem die einzelnen Stimmen/Instrumente individuell horizontal verlaufen und dabei natürlich (vertikal) zusammenklingen, wobei diese Zusammenklänge/Harmonien wiederum auch einem horizontalen Prozess/Linien folgen.
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Die Phrasierung selbst ist von mehreren Faktoren abhängig. Ein Charakteristikum einer Melodie ist ihr Verlauf in einer bestimmten Zeit. Das heißt, dass Rhythmus und Metrum sich immer in einem Verhältnis zueinander befinden, was auch Auswirkungen auf die Phrasierung hat. Je nach Komplexität und Stilepoche werden Höhepunkte in einem 4/4-Takt bei einer einfachen Melodie eher weniger auf den unbetonten Taktzeiten zu finden sein, wobei ich mit solchen Aussagen vorsichtig bin, denn sie arten leicht in Schematisierungen aus. Aber das Verhältnis einer Phrase zum Metrum ist einer der Aspekte, die man untersuchen sollte.
Der zweite ist der Melodieverlauf selbst, also die Anordnungen und Räume der Intervalle und Tonhöhen. Aufwärts strebende Linien werden eher cresc., abwärts fallende eher decresc. gespielt (bitte auch hier Schemata vermeiden!). Große, nach oben strebende Intervalle enthalten mehr Spannung als nach unten schreitende Sekunden.
Das dritte ist das Vehältnis der Melodietöne zu der ihr zugrundeliegenden Harmonik. Hierbei wird also auch die vertikale Ebene gehört und wahrgenommen. Wo gibt es Dissonanzen (Spannung), wo Konsonanzen (Entspannung)? Welche Melodietöne sind Bestandteil einer Dominante (Spannung), welche lösen sich in die Tonika auf (Entspannung) u.v.a.m.? Spannungen werden in der Regel lauter gespielt, die folgende Entspannung leiser. In dem Zusammenhang ist auch das Ende einer Phrase genau zu betrachten: schließt sie, wird also abphrasiert, also in einem decresc. leiser gespielt (sehr oft hört man den letzten Ton einer Phrase leider viel zu laut gespielt, weil die Phrase nicht "zu Ende" gehört, sondern schon an den nächsten Takt gedacht wird!) oder endet sie als Frage, offen etc.?
Und zum vierten ist diese einzelne Phrase ein Baustein des ganzen Stücks und tritt mit allen anderen Phrasen in eine Beziehung. Die Form, der Aufbau und die Bedeutung dieser einzelnen Phrase in diesem Aufbau muss klar sein. Ein und der gleiche Satz kann in unserer Sprache je nach Kontext eine andere Bedeutung haben. Es entsteht so ein architektonisches Klanggebäude, das im besten Fall in sich ganz schlüssig und von großer musikalischer, emotionaler und lebendiger Aussagekraft ist.
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Man übt also so, dass man die verschiedenen musikalischen Parameter mit allen Sinnen hörend, wahrnehmend und reflektierend erfasst. Wer jetzt denkt "oh Gott, ist das kompliziert", kann ganz beruhigt sein. Denn man hört zu, beobachtet, denkt nach, probiert aus, experimentiert. Dabei lernt man das Stück kennen. Und dann trifft man Entscheidungen, denn es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Und man wächst mit seinen Aufgaben und wird Phrasierung nicht gleich an komplexen Werken erlernen und erfahren. Das Wichtigste ist, sich zuzuhören und dafür braucht man Ruhe und muss so üben, dass die Aufmerksamkeit nicht gänzlich von manuellen Dingen beherrscht wird, sondern noch jede Menge Kapazität zum Hören und zur Reflexion vorhanden ist. Ein Schauspieler muss auch überlegen, wie er seinen Text spricht und phrasiert und das richtet sich nach dem, was er vermitteln will.
Eine spannende Aufgabe, die die Wahrnehmung schärft und das eigene Spiel wesentlich verbessert!
Liebe Grüße
chiarina