Weihnachten mal anders

R

rappy

Dabei seit
7. Juli 2007
Beiträge
883
Reaktionen
141
Ist zwar schon vorbei, aber vielleicht interessiert's ja noch jemanden.



UA ist dann Weihnachten '16
 
Lieber Rappy,

ich staune - bist Du noch mit Dir identisch? Ist das eine einmalige Entgleisung oder hast Du der Panchromatik als Materialgrundlage abgeschworen? Letzteres ist ja nicht ehrenrührig. Ich hätte es von Dir nur nicht (so bald) erwartet. Ferner: Ist das Ganze ernstgemeint oder eine bewußte Veräppelung?

Deine "Weihnachtsreise" ist ein Potpurri bekannter Weihnachtlieder, für Bläser und Schlagzeug gesetzt. Nix gegen zu sagen. Ein Problem sehe ich nur in der gehäuften Wiederholung identischer Kunstgriffe - melodisch: Die Melodien werden nach dem immer gleichen Prinzip augmentiert und diminuiert, satztechnisch: durch den permanenten Gebrauch "falscher Noten". Das kann man so machen. Die Stilmittel nutzen sich allerdings schnell ab, wenn ihnen keine Kontrastpartien gegenüberstehen, in denen die Musik einmal nicht parodistisch, sondern wirklich lyrisch oder feierlich sein dürfte, ehe sie wieder ins Übermütige zurückkippt. Die langsamen Partien empfinde ich als zu lang und zu abwechslungsarm. Vielleicht wäre es gut, das Stück noch ein bißchen zu kürzen und den Satz kontrapunktisch anzureichern, so daß sich die falschen Noten aus dem Stimmenverlauf ergeben?

Herzliche Grüße
Gomez
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein von mir bewusst unkommentierter Anregungsmoment:



Nicht aus der Perspektive des Rheinländers, sondern im Nachvollziehen, wie jemand mit gezieltem Zugriff etwas schafft, das alles Klischeebehaftete ungeheuer stimmig ins Gegenteil verkehrt.

LG von Rheinkultur
 
Moin Gomez,

Lieber Rappy,
ich staune - bist Du noch mit Dir identisch? Ist das eine einmalige Entgleisung oder hast Du der Panchromatik als Materialgrundlage abgeschworen? Letzteres ist ja nicht ehrenrührig. Ich hätte es von Dir nur nicht (so bald) erwartet.

Keine Angst, überhaupt nicht. Mein zuletzt aufgeführtes Stück sieht so aus (Ausschnitt): http://bernardynet.de/werke/juurtua.pdf

Aber zwischendurch der ein oder andere Ausflug in tonale Gefilde, das hab ich ja schon immer gemacht. Und als ich noch einen Musikverein geleitet habe, hab ich sogar ab und zu mal noch viel einfachere Musik (z. B. eine Polka) für sie geschrieben – das ist natürlich alles mit eingeflossen.

Hintergrund war dieses mal die Anfrage vom Landespolizeiorchester für eine Weihnachts-CD, d. h. die Zielgruppe war der durchschnittliche Polizeibeamte. Den Zimmermann kenne ich natürlich, aber so etwas wäre da völlig fehl am Platz gewesen – das hätten sie gar nicht aufgenommen.
Insofern musste ich ein bisschen entgegenkommen, und so sind es wohl auch mehr Wiederholungen und weniger Kontrapunkt geworden. Aber eigentlich hätte ich mir das auch alles etwas schneller gewünscht, der letzte Teil drastisch, dann käme das vielleicht auch nicht so in die Länge gezogen vor...

Deine "Weihnachtsreise" ist ein Potpurri bekannter Weihnachtlieder, für Bläser und Schlagzeug gesetzt. Nix gegen zu sagen.

Eben genau das war die Herausforderung.

Ein Problem sehe ich nur in der gehäuften Wiederholung identischer Kunstgriffe - melodisch: Die Melodien werden nach dem immer gleichen Prinzip augmentiert und diminuiert, satztechnisch: durch den permanenten Gebrauch "falscher Noten".

Verstehe ich nicht ganz, unter augmentiert oder diminuiert verstehe ich glaube ich etwas anderes. Die Melodien sind doch weitgehend unversehrt, oder? Diminuiert nur bei den zwei Soli.

Die Stilmittel nutzen sich allerdings schnell ab, wenn ihnen keine Kontrastpartien gegenüberstehen, in denen die Musik einmal nicht parodistisch, sondern wirklich lyrisch oder feierlich sein dürfte, ehe sie wieder ins Übermütige zurückkippt.

Im Prinzip ist da gar nichts parodistisch gedacht, sondern lediglich unterhaltsam. Die langsamen Teile empfinde ich eigentlich als lyrisch und feierlich.

Wie gesagt: Eine höchst artifizielle à la Zimmermann wäre sicherlich eine grandiose Herausforderung (wobei man wohl heutzutage ganz andere Mittel verwenden müsste, um sich davon abzusetzen), aber in diesem Fall sollte es wirklich nur Unterhaltungsmusik sein, die sich aber dennoch nicht auf jedes Klischee einlässt – weswegen ich die einzelnen Lieder nicht so verarbeitet habe, wie sie schon zum 100. Mal gehört worden sind.

Trotzdem danke ich natürlich für eure persönlichen Eindrücke, weshalb ich das Stück ja hier rein gestellt habe!

LG
Ralph
 
Verstehe ich nicht ganz, unter augmentiert oder diminuiert verstehe ich glaube ich etwas anderes.
Dann habe ich mich ungenau ausgedrückt. Ich meine keine mathematisch exakte Augmentation, sondern die willkürliche Dehnung oder Verkürzung von Melodiesegmenten, häufig gegen Ende einer Phrase. Ich glaube, daß man auch dieses Mittel zur Verfremdung sparsamer gebrauchen müßte, damit es sich nicht seine Wirkung verliert.

Die Melodien sind doch weitgehend unversehrt, oder?
Man kann eine Melodie aber auch dadurch verletzen, daß man sie in einen ihr fremden harmonischen Kontext stellt, wie in Strawinskys (erfundenem) Choral aus der "Geschichte vom Soldaten". Eine tonale Melodie dissonant zu harmonisieren, ist ein beliebter Verfremdungseffekt, und das Ergebnis wirkt schnell parodistisch.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich weiß zwar, dass Strawinskys Neoklassizismus nicht sonderlich beliebt ist, aber was den virtuosen Umgang mit Parodie und Verfremdung angeht, finde ich Pulcinella klasse. Das taugt vielleicht auch als Vorbild für ein Weihnachtslieder-Potpourri. Aber wahrscheinlich würde es die Zielgruppe von @rappy schon in die Flucht schlagen.

LG, Mick
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber wahrscheinlich würde es die Zielgruppe von @rappy schon in die Flucht schlagen.

Würde es. Aber man muss ja auch nicht immer parodieren. Ich mag musikalischen Witz, und die ein- oder anderen Parodie-Assoziationen sind wohl bei diesen Liedern nicht zu vermeiden, wenn man sie nicht so einfach harmonisiert, wie sie bekannt sind.
Dieses Stück jedenfalls ist wirklich in erster Linie nicht als Parodie gedacht.

Ich bin übrigens ein großer Fan von Strawinskys Neoklassizismus, vor allem von den beiden ersten Klavierkonzerten und der Sinfonie in Es. Seine spätere neoklassizistische Phase, wo er weniger vordergründig parodiert, finde ich interessanter, als die Anfangswerke (Pulcinella, Ragtime usw.)
 
Ich weiß zwar, dass Strawinskys Neoklassizismus nicht sonderlich beliebt ist [...]
Du meinst, die akademischen Gemüter haben sich noch immer nicht beruhigt? Ich glaube, heute wird viel unaufgeregter über das Phänomen Neobarock/Neoklassizismus diskutiert, und den Werken wird mehr Gerechtigkeit zuteil.

Der Neoklassizismus speist sich aus unterschiedlichen Quellen: Busonis Ideal einer entsubjektivierten Musik, die nicht mehr unmittelbar Gefühle kundgibt, Strawinskys Rekurs auf den Formalismus, der ihn dazu verleitet, Stilelemente der abendländischen Kunstmusik so zu behandeln und zu verfremden wie vorher die russische Folklore, bei Hindemith ein Rückbezug auf Reger, bei den Franzosen das Anknüpfen an Tendenzen aus dem Spätimpressionismus (Faurés und Debussys Sonaten, Ravels "Tombeau de Couperin"), und zuletzt haben sie sich alle gegenseitig beeinflußt.

Was man mit dem Begriff Neoklassizismus etikettiert, war ein Versuch, etwas von der vertrauten tonalen Idiomatik zu retten, indem man sie in einen harmonisch und satztechnisch ungewöhnlichen Kontext stellt. Und was diesen Kontext betrifft: Es war der Versuch, die Ausdrucksmöglichkeiten der erweiterten Tonalität bis an ihr Ende zu verfolgen, und das war musikgeschichtlich so notwendig wie eine Generation später die Verwirklichung der Idee, ein Werk total durchzuorganisieren.

Ferner war es ein Versuch, der Musik etwas zurückzugeben, was ihr in der deutschen (Spät-)Romantik abhandengekommen ist: nämlich für sich zu bestehen, abstraktes Formenspiel zu sein: Musique pour faire plaisir. Auch Schönbergs und Weberns Nachkriegsarbeiten verzichten auf die unbedingte Selbstaussprache. Schönbergs merkwürdige Suiten op.25 und op.29, das Bläserquintett und die Orchestervariationen sind Spielmusiken, genauso Weberns Konzert op.24, die Variationen op.27 und das Saxophonquartett. Selbstzurücknahme ist nicht dasselbe wie Gefühlskälte, sowenig wie bei den Pariser Komponisten jener Zeit. Die besten neoklassizistischen Arbeiten, wie auch Rappy schreibt, bewegen sich in einem Niemandsland, irrlichtern zwischen Parodie und Ernsthaftigkeit, zwischen Ruppigkeit und versteckter Gefühlskundgabe hin und her.

Die technischen Mittel waren: Re-Diatonisierung der Melodik vor dem Hintergrund dissonanter (auch durchaus chromatischer) Begleitstimmen, harmonisch: Polyfunktionalität, Bi- oder Polytonalität neben plakativ einfacher Kadenzharmonik; Polystilistik: Vermengung höherer und niederer Stilbenen, Andante religioso neben Barmusik; ein zitathafter Umgang mit objets trouvés, Vermischung der Stilepochen. Das Wegbrechen der musiksprachlichen Einheitlichkeit ist übrigens schon ein Phänomen der spätromantischen Tonalität: ihr Nebeneinander von Chromatik, Diatonik und Modalität, Ganztonfeldern und Skalen wie der Rimsky-Korsakow-Tonleiter (=Messiaens Modus 2) - und verweist zurück auf das Urbild der kompositorischen Moderne, den "Parsifal".

In die Dekadenzphase trat der Neoklassizismus, als ein Großteil seiner (ursprünglich antiromantischen) Vertreter ein Bedürfnis nach Monumentalität entwickelte und sogar die künstlerische Selbstaussprache nicht mehr scheute (!), die beschriebenen Stilmittel dafür aber nur bedingt tauglich waren. Viele orientierten sich nun ganz schamlos an romantischen Stilmodellen. Auch da sollte man nicht beckmessern. Wir schleppen alle irgendwelche Ambivalenzen mit uns herum. In dieser Dekadenzphase sind höchst widersprüchliche und doch anrührende Werke entstanden wie z.B. Poulencs "Dialogues des Carmélites".

Nachtrag: Mit dem Sammelbegriff Neoklassizismus wird oft die gesamte nichtfundamentalistische Moderne bedacht, was zu einiger Verwirrung führt, denn es gibt Komponisten, die zwar vereinzelt neoklassizistische Werke geschrieben, aber die verfremdende Stilkopie gescheut haben und sogar Ausdrucksmusiker gewesen sind wie z.B. Honegger und Schostakowitsch als Symphoniker, Britten als Opernkomponist, Bartók und Schostakowitsch in den Streichquartetten.
.
 
Zuletzt bearbeitet:
.
Keine Angst, überhaupt nicht. Mein zuletzt aufgeführtes Stück sieht so aus (Ausschnitt): http://bernardynet.de/werke/juurtua.pdf
Erst mal vielen Dank, lieber Rappy, für diesen Einblick in Deine Werkstatt. Im Folgenden rede ich nicht von der Qualität Deines Stücks, das mir - nach ausgiebiger Lektüre - sehr interessant zu sein scheint.

Aber mir kommen dazu ein paar Fragen, die den Unterschied zwischen alt und neu relativieren. Du weißt, die Neue Musik (die mit dem großen N !) ist meine geistige Heimat. Gerade deswegen spüre ich ein zunehmendes Unbehagen. Wir haben schon seit ein paar Jahrzehnten einen ganz spezifischen Avantgarde-Traditionalismus, dem auch "Juurtua" treu bleibt: Vom verrätselten Titel (kommt mir finnisch vor) über die ungewöhnliche Besetzung bis zum typisch "zerrissenen Klangbild" - alle Ingredienzien sind schon da. Ausnahme: kleine tonale Inseln in Deinem Stück, die vielleicht unbeabsichtigt sind und beim Hören kaum auffallen.

Spürst Du diesen Verdruß nicht auch - daß man sich im Erfüllen gewisser Bedingungen, die ein Werk avantgarde-tauglich machen, auf ausgelatschtem Terrain befindet? Daß so zu schreiben, seriell oder post-seriell, spektralistisch, neokomplex (oder irgendwo dazwischen) genauso historistisch ist wie eine Übung im Palestrina-Kontrapunkt? Das Vermeiden bestimmter Konventionen bedeutet, andere Konventionen zu erfüllen. In dieser Hinsicht ist "Juurtua" nicht weniger traditionalistisch als Deine fröhlich-dissonante, aber tonalitätsnahe Weihnachtsmusik. Sie steht nur in einer anderen Tradition; wirklich neu sind beide nicht. Die Rettung besteht vielleicht darin, daß man das Originalitätsideal von der Neomanie abkoppelt, von der die abendländische Musik ein Jahrtausend lang beseelt wurde.

Ich kann diese Fragen nur stellen. Ich weiß keine Antwort.

HG
Gomez
 

Moin Gomez,

große Frage wirfst du auf. Auch ich bin noch weit entfernt davon, die Antwort für mich gefunden zu haben.
Die einzigen, die ich aus dem durch die von dir aufgelisteten Kriterien definierten "Avantgarde-Traditionalismus" ausbrechen, sind soweit ich sehe die so genannten Neuen Konzeptualisten, die überhaupt keine Musik im eigentlichen Sinne mehr schreiben und damit aber auch nur eine Sackgasse beschreiten, in der man sich bereits in den 60er Jahren verloren hat.

Ich meinerseits versuche immer, mit dem Material, für das ich mich jedes Mal aufs Neue aus irgendwelchen Gründen entscheide (Tageslaune, Auftrag, etc.), gute Musik zu machen.
Dabei liegt ja alles wie in einem Supermarkt vor einem. Man hat die Qual der Wahl, und das ist vielleicht die größte Herausforderung heutzutage. Irgendwelche Konventionen wird man immer erfüllen, aber das war auch früher schon so.
Interessant wäre es vielleicht zu versuchen zu verbalisieren, wie man sich denn persönlich eine "frische" Neue oder neue Musik vorstellt.

P.S.: Die tonalen Allusionen sind übrigens durchaus beabsichtigt. Eigentlich gibt es das ganze Stück über eine hintergründige tonale Schicht, die mal mehr, mal weniger sinnlich erfahrbar wird. Damit wollte ich gerade nicht das Klischee der atonal-hyperchromatischen Avantgarde-Harmonik bedienen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Interessant wäre es vielleicht zu versuchen zu verbalisieren, wie man sich denn persönlich eine "frische" Neue oder neue Musik vorstellt.

Was mir vorschwebt: Auf jeden Fall eine Reduktion im Satztechnischen, ein Verzicht auf die Überdifferenzierung im rhythmischen Bereich, ferner der Verzicht auf die ungeheure Informationsdichte. Man könnte experimentieren, was dabei herauskommt, wenn man auf jeweils ein spezisches Merkmal verzichtet (weite Intervalle/Punktualismus, Panchromatik, Stimmenfülle, inquiétude rhythmique) und den Rest beibehält.

Natürlich gibt es - dank Scelsi und Pärt - schon eine ehrwürdigen Tradition im Bereich der reduktiven Musik. Aber der Bereich ist noch nicht ausgeschöpft. Den bewußten Verzicht, das Innehalten hat es schon zweimal gegeben: beim Übergang von der prima zur seconda prattica, von der Kontrapunktik zur begleiteten Monodie bei Jacopo Peri, Giulio Caccini et al., und in der Frühklassik die simple Dreiklangsmelodik und rein homophone Begleitung bei den Bach-Söhnen plus Umfeld. Satztechnisch sind diese Sachen oft zum Kopfschütteln, vor allem wenn man sich die Komplexion in der unmittelbar vorausgehenden Musik vor Augen führt. Aber für andere, Monteverdi bzw. Haydn, war diese Einfachheit ein Sprungbrett - rein in die neue Komplexität.

.
 
Zuletzt bearbeitet:

Zurück
Top Bottom