Wenn mit der Frage gemeint sollte, ob man nur virtuos spielen kann, wenn man das betreffende Stück auswendig spielt, dann ist die Antwort "nein".
Wenn umgekehrt gemeint sein sollte, dass man Virtuosität lernt, indem man auswendig spielt, ist die Antwort leider auch "nein".
Mir ist sehr wichtig, dass ich auswendig spiele, weil ich dann nicht auf irgendwelche Noten starren muss, sondern mich ganz dem Hören und Fühlen samt "ab und zu auf die Tasten schauen" widmen kann. Ich fühle mich mehr mit dem Instrument und dem Stück verbunden und da stören mich die Noten.
Auf der anderen Seite gibt es auch Kammermusik mit virtuosem Klavierpart: die Cesar-Franck-Sonate für Geige und Klavier z.B.. Da hat man in der Regel die Noten vor der Nase und kann trotzdem spielen, hören, verstehen und virtuose Passagen spielen. :) Auch wenn man manche Teile vielleicht auswendig spielt bzw. auf die Tasten schaut. Literatur an zwei Klavieren ist oft auch sehr virtuos und wird ebenso oft mit Noten gespielt.
Beim Auswendig spielen von Sololiteratur muss man sich evtl. mehr absichern und Zeit dafür aufbringen. Aimard sagte mal, dass bei nicht auswendigem Spiel mehr Kapazitäten für andere, wichtige Inhalte vorhanden wären, obwohl gerade er auch ein Verfechter der frühen mentalen Erarbeitung ist.
Den musikalischen Inhalt verstehen und entsprechend zu üben sollte sowieso nicht von auswendigem Spiel abhängen, sondern ist Voraussetzung, um überhaupt ein Stück anhörbar zu interpretieren! Auch technische Schwierigkeiten lassen sich nicht durch auswendiges Spiel lösen, es ist nur hilfreich, weil man dann die Augen nutzen kann, um auf die Tasten zu schauen oder sie zu schließen ("blind" üben).
Sehr lustig fand ich neulich, als Tzimon Barto "La campanella" hervorragend im Konzert spielte und dabei fast die ganze Zeit auf die Noten schaute!

Er spielt ja sowieso immer mit Umblätterer. Wie auch Igor Levit bei der 1. Sonate von Schostakowitsch.
Liebe Grüße
chiarina