Veränderung der Hörwahrnehmung

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Marlene

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Vingt Regards sur l'Enfant Jésus, Le sacre du printemps, Alban Bergs op. 1, Skrjabins Vers la flamme...

Vor fünf Jahren hätte ich jeden für bekloppt gehalten, der mir gesagt hätte, dass ich mir diese Stücke irgendwann bis zum Ende anhören würde.

Ich nehme seine Sonate* nicht mehr - wie noch voriges Jahr, als ein Durcheinander von Tönen wahr, die wie Mikado-Stäbchen einfach so "hingeworfen" wurden.

* gemeint ist Alban Bergs op. 1

Christian hatte mir in Bezug auf dieses Werk schon vor Jahren prophezeit, dass ich die Sonate irgendwann mögen würde. Er hatte sich dann aber gewundert


Von meinen in den letzten Jahren veränderten o.g. Hörwahrnehmungen habe ich vor einigen Tagen jemandem erzählt und er hat gefragt: „Und was denken Sie, woran das liegt?

Seine Frage konnte ich nicht zufriedenstellend beantworten, ich habe nur global gesagt, dass sich meine Hörwahrnehmung geändert hätte und ich mich an Werke heranwage, die ich vor Jahren nicht gehört hätte. Derzeit z.B. beschäftige ich mich mit Klavierwerken von Stravinsky.

Dann hatte ich gestern ein beindruckendes Erlebnis. Bechstein hat zum Klavierabend eingeladen und ich habe mich auf Skrjabins 3. Sonate gefreut. Aber das Programm wurde leider von beiden Pianisten geändert. Togrul Huseynli hat nicht die angekündigte Sonate gespielt, dafür hat aber Kirill Korsunenko Skrjabins 10. Sonate ins Programm genommen.

Die zehnte habe ich meines Wissens nie gehört, denn nach der Sonate Nr. 7 op. 64 "Weiße Messe" habe ich vor einiger Zeit verwirrt aufgegeben. Zu dieser Musik hatte ich keinen Zugang gefunden.

Nach Haydns c-moll Sonate und zwei Etüden von Debussy hat der Pianist ein wenig über Skrjabin und seine 10. Sonate referiert. Er hat Skrjabin zu meinem Entsetzen mit Stockhausen in einem Atemzug genannt, was mir spontan die Backen gefüllt hat, gefolgt von einer vernehmlichen Missfallensbekundung durch heftiges Ausblasen der Luft durch die eng aufeinander liegenden Lippen. So wie er von Skrjabin gesprochen hat musste jeder Unwissende denken, dass Skrjabin immer atonal komponiert hat. Ich war ein wenig ungehalten über diese verbale Einschränkung von Skrjabins kompositorischen Leistungen.

Dann hat Korsunenko ein wenig über die 10. Sonate erzählt. Skrjabin habe sich vorgestellt im dunklen Wald zu sein und dass die Bäume miteinander kommuniziert hätten. Also habe ich die Augen geschlossen und mich gedanklich in einen dunklen Wald mit düsteren Bäumen versetzt. Aber der Wald war vor meinem inneren Auge beim Hören der Sonate alles andere als dunkel. Er war von „Fingern Gottes“ an vielen Stellen lichtdurchflutet, Schwärme von Schmetterlingen und kleinen Insekten flatterten und schwirrten in den Sonnenstrahlen, die durch die Baumwipfel gedrungen sind. Zwischen den Bäumen habe ich einen Teich „gesehen“, auf dem sich das Wasser glitzernd gespiegelt hat. Laut Korsunenko war der Wald dunkel, ich habe ihn mit Sonnenlicht geflutet gesehen.

Vorhin habe ich dann hier nachgelesen und war erstaunt:

Oft hört man den Beinamen „Trillersonate“, der Komponist selbst jedoch hat sie als „Insektensonate“ bezeichnet. Gegenüber Sabanejew charakterisierte er sie wie folgt: „Das ist der Wald. Klänge und Stimmungen des Waldes…Hat es das bei mir etwa früher gegeben? […] Sie wird ganz anders, diese Sonate. Sie wird licht und fröhlich, irdisch.“

Und

Die Trillerketten der Sonate sind also nichts weiter als ein Symbol des Lichts, wodurch die ganze Sonate heiter, voller Zuversicht und Fröhlichkeit erstrahlt.

Licht und Zuversicht – genauso habe ich die Sonate empfunden.

Kurz zu einer anderen Begebenheit, die auch mit meiner Hörwahrnehmung zu tun hat. Jemand hat mir vor einigen Monaten etwas aus Respighis „Sechs Klavierstücke P. 44“ vorgespielt und ich hatte bei der Nr. 1 an unbeschwert spielende Kinder gedacht.

Was hat es auf sich mit meiner Klang-/Hörwahrnehmung? Wurde sie durch meinen Klavierlehrer verändert? Wurde sie durch viel Hören von Klavier- und klassischer Musik beeinflusst? Warum habe ich während der letzten Jahre immer mehr Vorlieben für dissonante Klaviermusik entwickelt?

Könnt Ihr die o.g. Frage beantworten, nämlich:


Es würde mich freuen, von Euch Denkanstöße zu bekommen.

Wer weiß, vielleicht höre ich mir in fünf Jahren Stockhausens Klavierstücke bis zum Ende an.

edit: falscher Fingersatz
 
Zuletzt bearbeitet:
Könnt Ihr die o.g. Frage beantworten, nämlich:
@Marlene Thomas Mann hat die perfekte Antwort auf deine Frage schon in seinem ersten Roman (Buddenbrooks) geliefert:
Zitat von Thomas Mann:
(Hanno Buddenbrooks erzkonservativer Klavierlehrer wurde auf diese Weise davon überzeugt, dass Wagner nicht nur musikalische Blasphemie komponiert hatte) ;-):drink:
 
Wenn das so wäre, dann hörte ich gerne Schumann, denn von ihm habe ich 17 Stücke aufs Notenpult gestellt bekommen. An seine Musik müsste ich demnach gewöhnt sein. Aber ich mag nur sehr wenig von Schumann und habe nur zwei seiner Stücke im Repertoir (Mignon und das fis-moll Albumblatt aus op. 99).
 
Warum habe ich während der letzten Jahre immer mehr Vorlieben für dissonante Klaviermusik entwickelt?

Das liegt daran, dass Dreiklang hier nicht mehr schreibt und dir einflüstert, dass nur "schöne Musik" (was immer das sei) eine Daseinsberechtigung hat. ;-)

Ich freue mich jedenfalls, dass du dich immer weiter ins 20. Jahrhundert vorwagst und kann nicht verstehen, dass viele das aus Prinzip ablehnen. Hier sind noch ein paar Stücke zwischen Skrjabin und Stockhausen, die ich sehr gerne mag - vielleicht gefällt dir ja was davon:


View: https://www.youtube.com/watch?v=XCUj0_vqRmA



View: https://www.youtube.com/watch?v=dv0fwOeIQkU&t=14s



View: https://www.youtube.com/watch?v=ccSSsth2rCE



View: https://www.youtube.com/watch?v=i1-vIw_M-Qg



View: https://www.youtube.com/watch?v=ldvZ1EVUYxA
 
Bei mir begann die Entdeckung des 20. Jahrhunderts ungefähr vor 35 Jahren (obwohl ich auf ein musisches Gymnasium ging, hat man mir vor 50 Jahren sowas nicht nahegebacht, ich hatte zuvor auch im Bekanntenkreis niemanden, der sowas gehört hätte). Türöffner waren bei mir: Strawinski "sacre ..." und Bartok "Musik für Saiteninstrumente ...".
Bald folgten Berg "Wozzek" und Schönberg "Pierrot lunaire".
Auf Ligeti stieß ich im Film "2001 Odyssee ...".
Dass es von dem für mich spielbare (und begeisterungsfähige) Klavierstücke gibt, hab ich erst die letzten Jahre entdeckt.

Grüße
Manfred
 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn das so wäre, dann hörte ich gerne Schumann, denn von ihm habe ich 17 Stücke aufs Notenpult gestellt bekommen. An seine Musik müsste ich demnach gewöhnt sein. Aber ich mag nur sehr wenig von Schumann und habe nur zwei seiner Stücke im Repertoir (Mignon und das fis-moll Albumblatt aus op. 99).

Um das zu ändern ist das Wochenende in Zwickau ja ideal:idee::super:;-).
 
Bei mir begann die Entdeckung des 20. Jahrhunderts ungefähr vor 35 Jahren (obwohl ich auf ein musisches Gymnasium ging, hat man mir vor 50 Jahren sowas nicht nahegebacht, ich hatte zuvor auch im Bekanntenkreis niemanden, der sowas gehört hätte).

Mein Klavierlehrer kam halt irgendwann mit Bartoks 'Mikrokosmos' an, Band I bis Band IV. Dazu später etwas Debussy und zwei Hindemith-Sonaten.

Aber noch beeindruckender fand ich den Musikunterricht in der Schule, so mitte bis ende 70er: u.a. Alban Berg 'Wozzek', Penderecki 'Hiroshima', Schönberg "Ein Überlebender aus Warschau", Béla Bartók "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta". Das hat mich beeindruckt und beeinflusst.

Und nein, das war kein musisches Gymnasium, aber ein sehr guter und engagierter Musiklehrer.

Grüße
Roland
 
Das liegt daran, dass Dreiklang hier nicht mehr schreibt und dir einflüstert, dass nur "schöne Musik" (was immer das sei) eine Daseinsberechtigung hat.

:-D :lol:

Als schön würde ich die folgenden Werke nicht unbedingt bezeichnen, aber ich finde sie trotzdem unglaublich beeindruckend (wenn auch nicht den Klang vom Stravinsky). Mit dem Finnen habe ich Dreiklang vermutlich in die Flucht geschlagen:
:-D


View: https://www.youtube.com/watch?v=JFIGoB7rK70



View: https://www.youtube.com/watch?v=87t7VRa54Ag


Hier sind noch ein paar Stücke zwischen Skrjabin und Stockhausen, die ich sehr gerne mag - vielleicht gefällt dir ja was davon:

Mein Gedanke beim ersten Link: „Oha, Kammermusik, Streicher und *....“

Kammermusik mag ich eigentlich weniger was hauptsächlich daran liegt, dass meine Ohren Geigen im Orchester tolerieren, aber nicht als Soloinstrument. Aber die Violinen habe ich bei dem Quartett nicht als unangenehm empfunden (im Gegensatz zu den beiden Werken von Berg)

„.... und *Webern!“.

Webern gehörte auch zu den Komponisten bei denen ich schnell Reißaus genommen habe. Vielleicht ist es mir mit ihm ebenso ergangen wie im Winter 2011 mit Skrjabin, als ich bei YT aus Unwissenheit nur seine Spätwerke erwischt habe und dann eine mehrjährige „Skrjabinabstinenz“ hinter mich gebracht habe. Troubadix und seinem „op. 11-Projekt“ sowie Christian, der die Nr. 9 bei mir aufgenommen hat, habe ich meine Liebe zu Skrjabins Musik zu verdanken.
:kuscheln: :-):herz:

Aber als ich das Video von Weberns Quartett gestartet habe bekam ich große Augen und Ohren. Ich habe es sofort ein zweites Mal angehört.
:-)

Danke, @mick, für die Links.


Um das zu ändern ist das Wochenende in Zwickau ja ideal .

Stimmt!

Es gibt übrigens noch ein Werk Schumanns das ich mag, besonders den Anfang:


View: https://www.youtube.com/watch?v=VzDRwYzIbBo
 
Schumanns - Introduction & Allegro appassionato

Hätte die Introduction ein Clavio-User komponiert und hier zur Begutachtung gestellt ..... ich höre schon die Kommentare ....
die ständige Muster-Wiederholungen und das endlose Geplätscher der Läufe .... TEY lässt grüssen .... auf sowas hat die Welt nicht gewartet ..... höchstens als kitschige "love story" Filmmusik zu gebrauchen .... etc. etc. etc. ;-)
 
Zuletzt bearbeitet:

Dann hat Korsunenko ein wenig über die 10. Sonate erzählt. Skrjabin habe sich vorgestellt im dunklen Wald zu sein und dass die Bäume miteinander kommuniziert hätten.

Diese Sonate hat nichts Dunkles und nichts Böses. Es gibt zwar ein chromatisches Leitmotiv, das einen dunklen Kontrast gibt und an die Dunklen Flammen (op.73 Nr.2) erinnert und mit "tiefer und verhüllter Glut" überschrieben ist...

upload_2015-4-27_22-9-3-png.8134


...ansonsten ist diese Sonate aber ein strahlendes Werk voller Zuversicht. Man kann sich auch mal ansehen, was Skrjabin alles in die Noten geschrieben hat, "vibrierendes Leuchten", "mit freudiger Begeisterung" etc. Ein Grund, warum Skrjabin so viel in die Noten geschrieben hat war eben, dass Skrjabin explizit die Deutung des Werkes nicht der Nachwelt überlassen wollte.

Das erste Stück, dass ich jemals bewusst von Chopin gehört habe, war seine Etüde op.25 Nr.11. Ich fand die Etüde furchtbar, verrückt, unverständlich, chaotisch. Mir ging es damals so wie vielen anderen, die sich ein spätes Skrjabin-Stück anhören. Mit der Zeit und der zunehmenden Beschäftigung mit der Materie ändert sich das eben, da sich nicht nur die Wahrnehmung, sondern eben auch die Hörgewohnheit und das Verständnis ändert (siehe Rolfs Zitat). In jedem Fall kannst du dich darüber freuen, denn so kannst du nun Hörerfahrungen machen, die dir anders verborgen geblieben wären.

Noch ein paar Tipps zum Anhören...

Schostakowitsch: Trio Nr.2, Sonate Nr.1
Prokofiev: Sonate Nr.8
Szymanowski: seine 2.Sonate und alles ab op.23

Viele Grüße!
 
Schostakowitsch: Trio Nr. 2, Sonate Nr. 1

Es ist zwar ein Cello, aber meine Ohren haben es leider nur wenige Sekunden ausgehalten.

Kammermusik mag ich eigentlich weniger was hauptsächlich daran liegt, dass meine Ohren Geigen im Orchester tolerieren, aber nicht als Soloinstrument.

Prokovevs Sonate Nr. 8 hat mich beeindruckt, sie werde ich mir ganz bestimmt noch öfter anhören.

Szymanowskis 2. Sonate habe ich schon öfter gehört; auch diese habe ich noch vor zwei Jahren wieder weggeklickt.

In jedem Fall kannst du dich darüber freuen, denn so kannst du nun Hörerfahrungen machen, die dir anders verborgen geblieben wären.

Darüber freue ich mich in der Tat, denn ich erweitere immer gerne meinen Horizont und finde, dass man nie zu alt ist um noch irgendetwas zu lernen. Nicht nur durch die Clavionisten und verlinkte Videos lerne ich etwas hinzu, sondern auch durch YouTube mit seinem „Zufallsgenerator“. Aber was heute früh passiert ist, war vermutlich kein Zufall:

Ich habe mir die vorgeschlagenen Videos angeschaut, viele davon hatte ich in den letzten Tagen gehört. Mir war bisher nicht bekannt, dass YT sich mehr merken kann. Denn nachdem ich gestern u.a. Skrjabins Sonaten sechs bis zehn und Stravinskys Klaviersonate in fis-moll mehrmals gehört habe, befanden sich in den musikalischen Vorschlägen ebenfalls atonale Werke und Neue Musik, z.B. das (habe ich komplett gehört ;)):


View: https://www.youtube.com/watch?v=F89fz09pbHs
 
Nachdem ich mir vor elf Monaten letztmalig Alban Bergs op. 1 angehört habe, wollte ich die Sonate heute erneut hören. Ich habe das Video von Pollini gestartet und nach einigen Minuten habe ich erstaunt nachgesehen, ob ich irrtümlich ein anderes Video angeklickt habe oder YT mich veräppelt hat. Denn was ich gehört habe klang so anders als die Erinnerung an das, was ich vor fast einem Jahr gehört habe. Erstaunlich, die Sonate klingt – um es mit Dreiklangs Worten zu sagen - schöner als vor elf Monaten. Ich war so beeindruckt von dem für mich neuen Klangerlebnis, dass ich sie mir dann noch von Grimaud und Hamelin angehört habe.
:-)

Danach habe ich mich mutig an einige Werke Schönbergs herangewagt, aber für seine Musik brauche ich noch mehr Gewöhnung und Zureden.

;-) :-)
 

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