Guten Abend, Klavieromi!
Zur Verwirrung trägt auf jeden Fall bei, daß die Musikwissenschaft - wie so oft -
Fachbegriffe aus Geschwisterdisziplinen übernimmt, um damit eine Stilepoche zu bezeichnen.
Mit "Renaissance" ist die Wiederentdeckung der Antike in Literatur und Bildender Kunst gemeint,
in Abgrenzung vom angeblich finsteren Mittelalter - was für sich genommen schon ein Schmarren ist,
weil die Antike im Oströmischen Reich nie richtig geendet und in auch West- und Mitteleuropa
weitergewirkt hat, in der Architektur, in Theologie und Philosophie (was die Rezeption aristotelischer
Schriften betrifft, teilweise durch Vermittlung der Araber).
Für die Musik jener Zeit ist die Bezeichnung "Renaissance" ganz irreführend:
Musikalisch wird keine Antike wiederbelebt, sondern die Vokalpolyphonie des Mittelalters
zur Vollendung geführt, ein Verdienst insbesondere der franko-flämischen Schule.
Der Versuch einer musikalischen Wiederbelebung der Antike setzt erst mit der
nachfolgenden Stilepoche ein, die "Generalbaßzeitalter" genannt und im Volksmund
als "barock" bezeichnet wird. Der wesentliche Unterschied besteht in der Satztechnik:
An die Stelle der Polyphonie gleichberechtigter (Vokal-)Stimmen auf modaler Basis tritt
die instrumental und akkordisch begleitete Monodie auf zunehmend funktionstonaler Basis.
Der ganze Vorgang verdankt sich einem Mißverständnis. Ein paar dilettierende Liebhaber
der griechischen Tragödie versuchten deren Aufführungsbedingungen zu rekonstruieren
und erfanden dabei aus Versehen eine neue Gattung: die Oper (--> Amici dell'Opera Italiana).
Es ist aber noch ein bischen komplizierter, denn die Monodie und auch die Hierarchisierung
von Akkordfolgen, aus denen sich die Kadenzharmonik entwickelt hat, haben Vorläufer
in der Vokalpolyphonie: Die "Noema" genannten Abschnitte in Messen und Motetten,
bei denen durch blockhafte Einschübe ein inhaltlich besonders wichtiger Begriff hervorgehoben wird,
liefern das Urbild für die homophone Setzweise, und der leider hochgradig überschätzte
Giovanni da Palestrina, der angebliche Gipfelpunkt vokaler Polyphonie, liefert
über weite Strecken brave und textverständliche tridentinische Konfektionsware.
Umgekehrt entwickelt der Barock neue Formen nunmehr verstärkt instrumentaler Kontrapunktik
(Ricercar, Fuge), in denen die Polyphonie dem neuen Tonartenbewußtsein angepaßt wird.
Du kannst aber sagen: Das Generalbaßzeitalter löst die Epoche der Vokalpolyphonie ab -
oder volkstümlich: Der Frühbarock ist der Renaissance ihr Tod.
HG, Gomez
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