Guten Morgen, Aleko!
Vielen Dank für Deine lange Antwort. Da Du sehr viel schreibst,
will ich das gewaltige Pensum, das Du mir vorgibst, portionsweise abarbeiten.
Zunächst eine Frage: Ist das von Dir zur Zeit verwendete Motto
The new music seems to come not from the heart but from the head.
Its composers think rather than feel. They .. think, analyze but they do not exult.
ein Rachmaninow-Zitat? Der Kontext, in dem Du es anführst, legt den Verdacht nahe.
Rachmaninow würde ich es noch am ehesten verzeihen. Gehässigkeit gehörte
zum guten Ton unter den Exil-Russen. Auch Strawinsky und Prokofieff haben sich
schwer gekabbelt. Hintergrund dieser Kabbeleien war nicht allein der Geltungsanspruch,
unter den emigrierten "Mode-Russen" die unangefochtene Nummer Eins zu sein,
sondern schlichte Existenznot: Keiner der drei konnte von seiner Musik leben, vorallem deshalb,
weil in dem für sie wichtigsten Markt, dem der raubritter-kapitalistischen USA,
das europäische Urheberrecht nicht anerkannt wurde. Ihren Lebensunterhalt mußten
die drei also mit Konzertieren und Dirigieren bestreiten, und selbst dabei wurden sie
von durchtriebenen Agenten und Managern manchmal um ihre Einnahmen geprellt.
Man kann darüber Haarsträubendes in ihren Auto- bzw. Biographien nachlesen.
Jetzt zum ernsthaften Hintergrund Deiner Arbeit und Deines Mottos:
Auch beim traditionell wirkenden, in vieler Hinscht aber modernen Rachmaninow
war das Herz bestenfalls als Sauerstofflieferant fürs Gehirn wichtig,
wie Du so treffend schreibst. Ansonsten hat er mit kühlem Verstand komponiert.
Sieh Dir nur an, wie er mit seiner "Lebensmelodie", dem gregorianischen
dies irae umgeht, wie er es zur versteckten Grundlage fast aller seiner Themen macht,
in der "Toteninsel", wo es programmatisch besonders gut paßt, aber auch im Kopfsatz
seiner ersten, im Scherzo seiner zweiten Symphonie, im letzten seiner "Symphonischen Tänze",
in der Vokalise, im cis-Moll-Prélude, um nur ein paar seiner Hauptwerke anzuführen:
Der Umgang damit ist geradezu
reihentechnisch.
Schon der kleinste Versuch, Töne horizontal und vertikal sinnvoll zueinander
in Beziehung zu setzen -, ist ein Akt der Konstruktion. Das gilt sogar für Dieter Bohlen,
erst recht aber für alles, was länger als ein Klingelton ist: In Musik, die zu ihrer Entfaltung
einen größeren Zeitraum benötigt, muß nicht nur jeder einzelne Ton,
sondern jeder Formteil in Bezug zum Ganzen richtig proportioniert sein.
Das ist eigentlich eine schlichte Weisheit, die für alle schöpferische Arbeit gilt,
ob man nun ein Menu zubereitet, einen Roman schreibt oder ein Haus baut.
Aus irgendeinem Grund wird diese schlichte Weisheit aber geleugnet, sobald es
um Musik geht - schlimmer noch, wer diese Einsicht ausspricht, wird als gefühlskalter
Intellektueller bezeichnet (wobei es in Deutschland auch im Jahre 66 nach ******
salonfähig ist, Intellektualismus als verdächtig erscheinen zu lassen).
Wie kommt es dazu? Lassen wir den "deutschen Sonderweg" beiseite - das Phänomen
begegnet einem ja auch anderorten - und widmen uns der Ursache des Mißverständnisses.
Wenn Musik nicht gerade funktionale Bedeutung hat, also z.B. dem Gotteslob dient,
ist es ihre sicherlich vornehmste Aufgabe, Empfindungen zu wecken.
Gegen die beim Spielen oder Hören von Musik auftretenden Empfindungen
kann sich niemand wehren, auch ich nicht. Aber es ist ein unter Laien beliebter Fehler,
die von der Musik in ihnen geweckten Gefühle mit der Musik
gleichzusetzen.
Zweites Mißverständnis: zu glauben, der Komponist müsse während seiner Arbeit
dieselben Empfindungen verspürt haben wie der Hörer beim Hören.
Mißverständnis Nr.3: Analytischer Umgang mit der Musik könne deren Gefühlsreichtum mindern
und ihre Faszination zerstören - wie bei einem Zaubertrick, nachdem er erklärt worden ist.
(Dazu als Randbemerkung: Das müssen aber ziemlich dürftige Gefühle sein,
die sich beim Analysieren eines Musikstücks sofort in Luft auflösen.)
Letztes Mißverständnis: Ein Komponist würde so arbeiten, wie der Musikwissenschaftler
ihm nachträglich unterstellt, sich also quasi hinsetzen und sagen:
Jetzt schreibe ich eine Überleitungsgruppe - und jetzt 'n doppelten Kontrapunkt etc.
Das ist natürlich grober Unfug. Ein Großteil der Dinge, um die Du Dich jetzt noch bemühst,
wird Dir später so selbstverständlich sein, daß Du Dir darüber gar keine Rechenschaft mehr ablegst.
Der große Unterschied zwischen Rachmaninow und seinen "Rivalen"
Strawinksy und Prokofieff besteht nicht in einem höheren oder minderen Grad
an Kontruktivität in seiner Musik, sondern in der
Hörbarkeit dieser Konstruktivität.
Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen (Spät-)Romantik und Moderne.
In der romantischen Musik wird die Aufeinanderfolge der Formteile gerne verschleiert,
die berühmt-berüchtigten Überleitungsgruppen werden durchmelodisiert oder zu
Separat-Durchführungen genutzt, Themen auseinander entwickelt, aufeinander bezogen
(die große Ausnahme: Bruckner). Die sogenannte Neue Musik liebt dagegen Kontraste,
schroffe Gegenüberstellungen - auch wenn das thematische Material
aus einem identischen Motivkern stammt. Vielleicht kommt von daher die Unterstellung,
moderne Musik sei rein zerebralen Ursprungs, weil sie ihre Konstruktivität
nicht verschleiert?
Sorry, ich muß abhauen, mein Bus ruft. Vielleicht heute abend mehr davon -
falls das hier nicht schon ausreicht.
HG, Gomez
.