Skrjabins Spätwerk

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19. Juni 2013
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I

Vor bald 103 Jahren ist Alexander Skrjabin verstorben und ins Pantheon der Musikgeschichte eingewandert, ein russischer Spätromantiker, der schon an der Schwelle zur Moderne stand, wenn man sein Spätwerk hinzunimmt, vor allem: wenn man dieses (für manche Augen und Ohren doch recht spröde) Spätwerk ernstnimmt. Als Mensch und Künstler blieb Skrjabin bis über seinen Tod hinaus umstritten. Nicht nur das Amüsement oder die Verwunderung angesichts gewisser Skurrilitäten seiner Biographie haben sich erhalten, auch der Parteienstreit über seine Bedeutung als Komponist ist bis heute nicht verstummt. Inbegriff der Ratlosigkeit ist die letzte Schaffensphase Skrjabins (ab 1910), an der sich die Geister scheiden: für manche ein Verrat am Ideal spätromantischer Gefühlskundgabe, für andere der Beginn einer fast schon reihentechnisch strukturierten Neuen Musik. Skrjabin: einerseits der empfindsame, zärtlich präludierende Chopin-/Wagner-Epigone, andererseits ein von (Wasch-)Zwängen gebeutelter, dämonisch besessener Vorläufer der 50er-Jahre-Serialisten?

Neben gehässig-abwertenden Bemerkungen aus dem Kollegenkreis, die man als Ausdruck blanken Neids (wie bei Strawinsky) ignorieren kann, überrascht die heftige Kritik am Spätwerk aus dem Munde einiger bedeutender Pianisten (wie z.B. Heinrich Neuhaus), die zum Freundeskreis oder Umfeld Skrjabins gehörten und mit der authentischen Aufführungstradition seiner Werke vertraut waren. Fazit: Skrjabins Spätwerk sei kaum noch Musik – ergänzt durch Einschätzungen aus der Musikwissenschaft: Karl Laux über die „Prometheus“-Harmonik: „Dieser Akkord ist keine musikalische Erfindung. Er ist eine mathematische Konstruktion.“ Siegfried Schibli: „So sind denn die letzten Klavierstücke Skrjabins auch gezeichnet von einem Transzendierungswillen, dem mitunter etwas Verzweifeltes anhaftet. Die Skepsis eines Heinrich Neuhaus gegenüber dem Spätwerk war gewiß nicht nur in der kühnen Harmonik der nachprometheischen Phase begründet, sondern auch pianistisch: in der Einsicht eines Pianisten, daß dies eigentlich keine ,Klaviermusik' mehr sei.“ Niemand hat das Problem präziser benannt als der sowjetische Musikwissenschaftler Lev Vasirevic Danilevic: „Wir bewundern diejenigen Werke sehr, die Skrjabin in jener Periode schrieb, als er noch die Verbindung mit den großen Traditionen der realistischen Kunst aufrechterhielt. Später wich er von diesen Traditionen ab. Er geriet unter den Einfluß der reaktionären idealistischen Philosophie, unter den Einfluß der bürgerlichen Kultur in der Epoche des Imperialismus. Die idealistischen Theorien vergifteten das Bewußtsein des bedeutenden Künstlers und lenkten sein überragendes Talent auf einen falschen Weg, den Weg des Modernismus.“

In all dem keine billige Polemik, sondern eine Tatsachenfeststellung zu erkennen (daß Skrjabins Spätwerk keine Musik sei), und den reaktionären bürgerlich-imperialistischen Einfluß exakt zu quantifizieren, war ein Desiderat, eine wissenschaftliche Leerstelle, die nun durch die Arbeit des Kaliningrader Historikers Waleri Iwanowitsch Galzow endlich gefüllt worden ist, der in russischen und deutschen Militärarchiven eine sensationelle Entdeckung gemacht und sie zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Nadina Sokolowa in der jüngsten Ausgabe von „Russkaja musika“ (01/2018) veröffentlicht hat. Der Leser muß sich zwar durch einen Hirseberg geschichtlicher und musikanalytischer Daten hindurchfressen, ehe ihm die Belohnung eines geradezu kolportagehaften Thrillers zuteilwird – aber es lohnt sich.

Um Skrjabins Zerrissenheit zu verstehen, ist ein Blick auf seine Biographie notwendig, und um ihre schrillsten Details zu belegen, zitiert man am besten den Meister selbst: „Ich bin ein Nichts“ pflegte Skrjabin in hellsichtigen Momenten zu sagen, und in einer Spielanweisung am Schluß der 1.Klaviersonate f-Moll op.6 hat er das ganze Wesen seiner Musik prophetisch zusammengefaßt: Quasi niente. Das andere Extrem: „Ich bin Gott“ – dies ernsthaft von sich zu behaupten, ermöglichte Skrjabin der andere Teil seiner gespaltenen Persönlichkeit. Auch ohne die fehlende Klarstellung von berufener Seite (vergl. dazu Helmut Thielicke: „Das Schweigen Gottes“) liegt die Wahrheit – wie so oft – nicht in der Mitte. Bis zur sensationellen Enthüllung durch das Autorengespann Sokolowa/Galzow hätte man Skrjabin wohl im Nichts verortet. Das hat sich jetzt aus guten Gründen geändert.

Lassen wir die Fakten sprechen: Alexander Skrjabin (1872-1915, alle Daten nach dem gregorianischen Kalender) wuchs praktisch elternlos auf. Die Mutter war früh verstorben, der Vater absolvierte eine diplomatische Ausbildung, so daß der Halbwaise bei zwei Großmüttern und einer Tante aufwuchs, die ihn verzärtelten, mit Süßigkeiten vollstopften und ihm zu Manikürezwecken buchstäblich das Händchen hielten („avec une douceur de plus en plus caressante et empoisonnée“). Das vaterlose Kind – auf sich zurückgeworfen – entwickelte schon früh eine Neigung, mangelnde Virilität durch irrwitzige Größenphantasien zu kompensieren. Immerhin: Die Tante gab ihm ersten Klavierunterricht, und da zeigte sich Skrjabins große musikalische Begabung. Im halbabgedunkelten Wohnzimmer lernte er das rubato-gesättigte schmachtende Dahindämmern am Klavier; es führte ihn in jenes Wunderreich der immergleichen dauermüden Empfindsamkeit, die zu Skrjabins Markenzeichen wurde. Der erstickenden Fürsorge durch Großmütter und Tanten wußte sich das Kind zu entziehen, erst (freiwillig!) als Kadett an der Moskauer Militärakademie und dann als Klavier- und Kompositionsschüler am Moskauer Konservatorium (1888 bis 1892), in den Meisterklassen von Wassili Safonow und Anton Arensky, wobei letzteres für ihn nur bedingt erfolgreich war: In der Klavierklasse räumte Sergei Rachmaninow, sein ewiger Rivale, den ersten Preis ab, und das Komponistendiplom wurde Skrjabin gleich ganz verweigert. Ein trotziger Versuch, sich als freier Künstler zu etablieren, führte prompt zum ersten Absturz: Mit der Modediagnose ,Neurasthenie' versehen, mußte sich Skrjabin schon als Teenager in nervenärztliche Behandlung begeben, vom pavor nocturnus gebeutelt wie Hanno Buddenbrook. Aus derselben Zeit datiert auch Skrjabins erster Versuch einer Selbsttherapie mit dem von Dimitri Mendelejew in seiner Heilswirkung wesentlich verbesserten Smirnow-Wodka.

Aber dann, für zehn Jahre, von 1894 bis 1904, trat fast so etwas wie Glück in sein Leben. Zumindest war es ein längerer Zustand von Normalität, und zwar in Gestalt der langersehnten Vaterfigur: Mitrofan Beljajew (1836-1904), als Holzhändler zu Geld gekommen, russischer Verleger und Mäzen, nahm sich des überspannten Jünglings an und versuchte, ihm die Kompositionstechnik zu vermitteln. Mit scharfsinnigem Blick erkannte Beljajew, daß sein Schützling nur mit der kleinen Form zurechtkam. Es kostete ihn viel Mühe, Skrjabin vor dem Scheitern an großdimensionierten Projekten zu bewahren. So entstanden die Symphonien Nr.1 E-Dur op.26 (mit Chorfinale) und Nr.2 c-Moll op.29 gegen den Willen ihres Verlegers; immerhin konnte Beljajew bei der zweiten Symphonie einen Chor-Eröffnungssatz verhindern. Stattdessen förderte der Mäzen bereitwillig (und nicht ohne kommerzielle Hintergedanken) Skrjabins gewaltigen Ausstoß an Poèmes und Préludes, Walzern, Reverien und Mazurken, gefühlige Salonpiècen, zu erwerben und zu spielen von den zarten Händen adeliger und großbürgerlicher Damen, deren begrenzte Auffassungsgabe von Musik mit der Skrjabinschen aufs Schönste korrelierte. Äußerlich orientierte sich der Komponist inzwischen an dem – für westeuropäische Verhältnisse überlebten – Modell eines blasierten Dandys, der sein taedium vitae mit nietzscheanischen Allmachtsphantasien zu kurieren versuchte. Auch privat gab es Veränderungen, 1897 heiratete er die Konzertpianistin Wera Iwanowna Issakowitsch, deren Repertoire vornehmlich aus seiner Musik bestand. Vier Kinder gingen aus dieser Ehe hevor, was Skrjabin in die Rolle eines Ernährers zwang, der sogar als Klavierprofessor am Moskauer Konservatorium arbeiten mußte (1898 bis 1903).

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II

Es ist aber kein Zufall, daß Skrjabin erst biographisch und dann auch künstlerisch völlig aus der Bahn flog, nachdem sein Mentor Beljajew verstorben war. Nun begann die Zeit der Rastlosigkeit, Skrjabins Wanderjahre quer durch Süd- und Westeuropa: Italien, die Schweiz, Frankreich, Belgien, gesponsort von Margarita Kirillowna Morosowa, seiner neuen Mentorin (einer Millionärswitwe), geliebt von Tatjana de Schloezer, seiner neuen Lebenspartnerin, die ihm drei weitere Kinder schenkte, verfolgt vom Bannfluch Weras, seiner Ehefrau, die ihm das Plazet für die Scheidung verweigerte. In einem letzten Kraftakt schrieb er die 3.Symphonie C-Dur op.43, ein Schauspiel abstoßender Selbstbeweihräucherung. Unter dem Einfluß Tatjana de Schloezers hatte sich Skrjabin mit theosophischem Gedankengut beschäftigt, das sein durch Wagner- und Nietzsche-Lektüre schon bedenklich aufgeblähtes Ich vollends zerplatzen ließ. Kunst als Ersatzreligion, der Künstler ein sinnstiftender Hohepriester fürs neureiche bürgerliche Publikum – das reichte ihm nicht mehr. Priester, Heilsmittler zu sein, bedeutete ja immer noch, in jemandes Dienst zu stehen. Skrjabin wollte Heilsinhalt sein: ein Übermensch, der Messias redivivus, und die 3.Symphonie war das klingende Abbild dieser Selbstapotheose. Leider konnte die Musik dem gedanklichen Höhenflug nicht folgen, was auch für das nachfolgende Stück gilt: „Le problème de l'extase“ op.54, ganz zu schweigen von „Prométhée“ op.60, der Begleitmusik zu einem Technicolor-Zeichentrickfilm. Skrjabins Musik hatte sich im Gebrauch der immergleichen satztechnischen und harmonischen Tricks erschöpft. Eine Weiterentwicklung war nur noch im Bereich der französischen Spielanweisungen spürbar („avec une volupté de plus en plus extatique“). Es ist gespenstisch, wie Skrjabin sich als komponierendes Subjekt aus seiner letzten, der 5.Klaviersonate Fis-Dur op.53 verabschiedet: Das Stück endet im Nichts, und Skrjabin war kurz davor, seiner Musik in dieses Nichts zu folgen, künstlerisch und materiell aus- bzw. abgebrannt. 1908 stellte Frau Morosowa ihre Zahlungen ein. Sieben Kinder wollten ernährt werden. Wera, die Ehefrau, brauchte dringend Schutz vor einer textilen Unterversorgung; glücklicherweise fanden sich in Paris und Mailand Couturiers, die ihr mit (zumindest saisonal) passender Bekleidung helfen konnten – wohingegen Tatjana auf dem Weg zur inneren Selbstbefreiung alle materiellen Bedürfnisse abstieß, immer im Vertrauen auf ihre sich rapide vergrößernde Sammlung kostbarer (Heil-)Steine. Skrjabin mußte schier übermenschliche Kräfte aufbringen, um sich für die Entgrenzungsphantasien noch etwas Smirnow-Wodka zu sichern.

In dieser ausweglosen Situation trat der militärische Nachrichtendienst der preußischen Armee an ihn heran. Geheimdienst-Arbeit steckte damals noch in den Kinderschuhen. Sie beschränkte sich aufs Anwerben einzelner, möglichst hochrangiger Geheimnisträger aus dem gegnerischen Lager. Es war ein ganz neuer Gedanke, mit einem Netz von Informations-Zuträgern zu arbeiten, aus deren spezifischem Detailwissen sich ein komplexes gefahrenanalytisches Gesamtbild erstellen ließ. Entsprechend unterentwickelt war auch die Abteilung III b des preußischen militärischen Nachrichtendienstes, bevor sie durch Walter Nicolai (1873-1947) professionalisiert wurde. Nicolai, von 1901 bis 1904 Student der Berliner Kriegsakademie, ehrgeizig und begabt, strebte eine Karriere in der Obersten Heeresleitung an, was ihm 1906 mit der Berufung zum Chef des Nachrichtendienstes gelang – ein herausragender Agentenführer und ein Meister der Spionageabwehr (auch für befreundete Dienste – mit piefkischer Genauigkeit hatte er Oberst Redl als Spion in zaristischen Diensten enttarnt und gab den Wiener Kollegen sachdienliche Hinweise, worauf die schlamperten Austriaken aber nur mit einem landesüblichen „Justament nöt“ antworteten, ehe sie wieder in Büroschlaf versanken...). Von Königsberg aus baute Nicolai, der fließend Russisch sprach, ein Agentennetz in Rußland auf, bestehend aus hochrangigen zaristischen Offizieren, chronisch unterfinanziert, weshalb ihnen für die wichtigsten Projekte, Glücksspiel und Smirnow-Wodka, die Mittel fehlten. Nicolai half mit guter deutscher Mark, wobei ihn die Effizienz seines Agentennetzes sogleich vor neue Probleme stellte.

Nicht nur die Nachrichtenbeschaffung, auch die zur Nachrichtenübermittlung notwendige Codierung steckte noch in den Kinderschuhen. Kryptologisch befanden sich die Deutschen in der Steinzeit, genauer gesagt: in der Antike. Über viel mehr als die Caesar-Verschlüsselung, ein Verfahren der monoalphabetischen Substitution, waren sie nicht hinausgekommen (bis zum kryptologischen Quantensprung durch die „Enigma“ sollte es noch über zwanzig Jahre dauern). Nicolai war sich dieses Problems bewußt und wollte verhindern, daß seine Codes durch Häufigkeitsanalyse geknackt wurden. Was nun sein Team entwickelte, war keine Revolution im Bereich der Codierung, wohl aber in deren Tarnung, und es hat immerhin über hundert Jahre gedauert, bis die Tarnung aufgeflogen ist. Sie bestand aus einer schlichten Idee: der Umsetzung von Buchstaben in Notenschrift – ein multikulturelles Projekt: Die Notennamen kamen aus Deutschland, das Muster zu ihrer Umsetzung aus Frankreich (Beispiel: Ravels Menuett über den Namen H-A-Y-D-N), ihr systematischer Gebrauch aus Rußland, wobei Nicolai auf einer in sich stimmigen Notenausgabe bestand. Nicht daß ein gebildeter Zensor bzw. musikkundiger Zollbeamter den Titel eines ihm vertrauten Werkes sah (Mondscheinsonate), die Noten aufschlug und dann nur Katzenmusik vorfand! Das Ganze mußte den Anschein sinnvoller Musik haben, und an dieser Stelle kam Alexander Skrjabin ins Spiel.

Es ist nicht ganz klar, wann Skrjabin von Nicolai (dem neuen Ersatzvater) angeworben wurde. Es muß in der Zeit seines Brüssel-Aufenthalts geschehen sein, jedenfalls vor 1909, dem Jahr der Rückkehr Skrjabins in die russische Heimat. Offenbar hatte der Komponist nicht die geringsten Skrupel, sein Vaterland zu verraten. Er war nicht russophil veranlagt, der übertriebene Patriotismus des „mächtigen Häufleins“ war ihm fremd. Kompositorisch von Chopin und Wagner geprägt, philosophisch von Nietzsche angehaucht, also eindeutig im Lager der Feinde zu verorten, war Skrjabin der wasserreinste Kosmopolit. Als Theosoph interessierte ihn das Geisterreich, und als Gott gehörte ihm ohnehin der ganze Erdball – wozu sich mit Kleinkram wie dem Zarenreich identifizieren? Übrigens: Muß man groß erklären, daß Skrjabin zwar ein deutscher Agent, aber kein Spion gewesen ist? Wie sollte er auch? Sohn eines Diplomaten und Absolvent der Moskauer Kadettenschule – er hätte wohl qua Herkunft und Ausbildung die richtigen Kontakte gehabt. Aber man stelle sich das vor – ein effeminierter und parfümierter Dandy zwischen lauter Kommißköppen, ein larmoyanter Ästhet, unauffällig in Militärkreisen, die er ausschnüffeln sollte? Nein, Skrjabin war Codierer – er hat nichts anderes getan als einen ihm unverständlichen, in lateinischer Schrift notierten, (Caesar-)verschlüsselten Text mit Hilfe der Notenschrift nochmals zu verschlüsseln.

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III

Es ist aber bewundernswert, wie der erfahrene Komponist die Vorgaben seines Arbeitgebers (Informationsweitergabe per Notenschrift ohne Verletzung gängiger Tonsatzregeln) in die Tat umsetzte. Skrjabin entsann sich eines Details aus seiner Schülerzeit: der Rimsky-Korsakow-Tonleiter, die er bei Arensky im Unterricht kennengelernt hatte, und nutzte sie als Grundlage für seine „Kompositionen“. Diese Idee kann man nicht anders als genial bezeichnen. Die Rimsky-Korsakow-Tonleiter, dem Modus II bei Messiaen entsprechend, heute als oktatonische Skala bezeichnet, besteht aus dem periodischen Wechsel von Ganz- und Halbtonschritten. Die auf ihrer Grundlage komponierte Musik bewegt sich im Niemandsland zwischen Chromatik und Diatonik, je nach Gebrauch mild oder scharf dissonierend, aber viel milder als Schönbergs freie Atonalität. Der Witz bei der Sache ist: Die Skala ermöglicht – wie von selbst – tristanesk anmutende Stimmfortschreitungen, ineinander übergehende Vorhaltsakkorde, eine um sixte-ajoutée-Klänge erweierte Tonalität ohne tonale Festlegung. Vor den Augen und Ohren eines musikkundigen zaristischen Beamten hätte sie Gnade gefunden: als das Werk eines zweifellos überspannten Neutöners. Mit Hilfe der Oktatonik konnte Skrjabin die idiotischsten Texte in Notenschrift umsetzen, ohne Verdacht zu erregen. Auch die Häufigkeitsanalyse stieß hier an ihre Grenzen; ein gehäuft auftretender Ton galt dann einfach als Zentralton.

Normale Regel war die 1:1-Umsetzung dieser Texte, akkurat mit Feder und schwarzer Tusche auf Notenpapier, Akkorde von unten nach oben zu lesen. Der Kurier brachte das Material und holte es ein paar Tage später wieder ab, bereichert um Skrjabins Notenversion. Nur für den Fall einer schnellen Nachrichtenübermittlung war der Gebrauch von Morsezeichen vereinbart: Skrjabin morste am Klavier, ein Kurier saß im Konzertsaal und schrieb mit. Ein typisches Beispiel für die Verwendung von Morsezeichen ist das Klavierstück „Vers la flamme“ op.72 (ein autobiographisches Stück, ursprünglich sollte es „Vers la femme“ heißen). An dieser Stelle müßte der geschätze Leser übrigens hellhörig werden und fragen: Was heißt hier op.72? Wie jedem Agenten war es Skrjabin streng untersagt, (Beweis-)Material aufzuheben, ganz zu schweigen davon, daß so etwas nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Aber Skrjabin, inzwischen komplett wahnsinnig, träumte von einem in Indien zu erbauenden Tempel als Aufführungsort für sein „Mysterium“, einem aus den Notaten der letzten Jahre zusammengebastelten Gesamtkunstwerk, das zu hören die gesamte Menschheit auf eine höhere Bewußtseinsstufe katapultieren sollte. Daß Skrjabin ab 1911 begann, aus dem musikalisch höchst konfusen Material fünf neue Klaviersonaten zu extrahieren, plus weitere Préludes, Albumblätter etc., war ein glatter Vertragsbruch, den sein deutscher Agentenführer aber nur schwer ahnden konnte, ohne der ganzen Sache zu schaden. Dennoch steigerte sich die deutsche Nervosität, und letztlich führte die Wahnsinnstat dazu, daß Skrjabin noch vor dem Kriegsausbruch 1914 als „Quelle abgeschaltet“ wurde, wie Nadina Sokolowa schreibt. Korrekterweise müßte man sagen: Das Arbeitsverhältnis wurde beendet, Skrjabin nochmals zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet, mit einer hohen Summe abgefunden und bekam sogar einen Orden verliehen, mit einer von Kriegsminister Erich von Falkenhayn persönlich unterzeichneten Urkunde (beides fand sich in Kaliningrad; es waren diese Unterlagen, die Waleri Iwanowitsch Galzow überhaupt erst auf die richtige Spur brachten).

Was bleibt jetzt, nach dieser für manche Skrjabinisten zweifellos desillusionierenden Enthüllung, von Skrjabins Spätwerk? Es ist ein schlechter Witz – so Nadina Sokolowa –, in den späten Klaviersonaten Formproportionen, Symmetrien, Analogien etc. zu bewundern; dergleichen ergibt sich aus der Monotonie der Texte, die von Truppenstärken, Waffentypen und Mobilmachungsplänen berichten. Viel interessanter wäre die Frage, ob die Blutvergiftung, 1914 während des letzten Londonaufenthaltes aufgetreten, an der Skrjabin ein Jahr später in Moskau verstarb, auf ein vom deutschen Geheimdienst verübtes Attentat zurückgeführt werden kann? Aber das ist völlig unbewiesen und hört sich eher wie eine vordatierte James-Bond-Geschichte an...

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Das deutsche Militär pflegte selbst den Wetterbericht verschlüsselt zu versenden. Angesichts der von @Gomez de Riquet angeführten Tatsachen erscheint mein Eindruck, in der Klaviersonate Nr. 6 bei ca. 4'30'' "Schneefall in St. Petersburg" zu hören, unter neuem Licht.
Könnte mal jemand mit Kenntnis der Noten und des Codes diese Stelle überprüfen?
 
Ja – und in derselben Sonate der "appel mystérieux"? Das klingt doch schon sehr nach Kasernenhof.
 
"und zu spielen von den zarten Händen adeliger und großbürgerlicher Damen, deren begrenzte Auffassungsgabe von Musik mit der Skrjabinschen aufs Schönste korrelierte."

Da hat dann mein Bullshit-Detektor einen Amoklauf inszeniert.

Grandios!

Moi aussi, je suis Scriabinist.
 
Lieber @Gomez de Riquet auf daß wir es hier nicht vergessen: vielen Dank für deine amüsanten Erzählungen, in denen du uns hinterhältig große Zusammenhänge von Komponisten und Kompositionen mit allerhand außer-musikalischen Gegebenheiten nahebringst.
Mögest du alsbald wieder mehr Zeit und Muse finden, solch erheiternde Werke geprägt von humoristischen Esprit zu erschaffen und uns zu Teil werden zu lassen.
 

überrascht die heftige Kritik am Spätwerk aus dem Munde einiger bedeutender Pianisten (wie z.B. Heinrich Neuhaus), die zum Freundeskreis oder Umfeld Skrjabins gehörten und mit der authentischen Aufführungstradition seiner Werke vertraut waren.
Es gab Zeiten, wo es in Russland (Sowjetunion) nicht gerne gesehen wurde, wenn man die dekadent wirren und verwestlichten Spätwerke Scriabins gut fand. Merkwürdigerweise wurden die trotzdem, auch von Neuhausschülern, gespielt.
Als ich meine Diplomarbeit schrieb, bin ich über viele solcher Analysen aus Russland und dem Ostblock gestolpert, wo der qualitative Niedergang im Werk Scriabins thematisiert wurde von einem genuin russischen Komponisten (bis etwa op. 53, oder strenger op. 42) zu einem esoterischen Einzelgänger.
 

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