Sexuelle Belästigung bei Bewerbung

Nochmal: Warum wird dieser Faden nicht nach Beitrag 84 geschlossen?!!
 
Bestürzung, Entsetzen, tiefstes Mitleid zu empfinden, ist eine natürliche Reaktionsform für Angehörige und Freunde eines Tatopfers (übrigens: auch eines Opfer nichtsexualisierter Gewalt), also im privaten Raum, wo Gefühlskundgabe unmittelbar und ehrlich ist. Für die nicht unmittelbar Betroffenen in einer Netzdiskussion wird die Empathiebekundung (ob sie's wollen oder nicht) zum Gemenschel, zur Schreinemakers-artigen Simulation von Gefühlen. Sie ist so viel wert wie der Facebook-Daumen nach oben oder unten: eine Pißmarke unter vielen, die der user absondert, bevor er sich auf der täglichen Reise durchs www zum nächsten Empörungsanlaß weiterklickt.
Bist du selber denn betroffen? Wenn nicht, degradierst du gerade deine eigenen Beiträge (auch die lyrischen) zu diesem Thema als "Pißmarken" - - irgendwie habe ich aber nicht den Eindruck, dass das deiner Intention entspricht (denn: wozu die Mühe, Pißmarken wohlformuliert & gereimt an irgendwelchen Ecken oder Bäumchen hinzupfützen)
 
Das Thema hat nun mal schlicht und ergreifend mehr Aspekte als die, Empathie für das Tatopfer zu empfinden und Solidarität mit ihm zu bezeugen. Als Aspekte kommen hinzu: Vorverurteilung des Angeklagten durch die Öffentlichkeit und Ächtung des Verurteilten über die Zeit seiner Buße hinaus.

Es kommt noch ein paar Aspekt hinzu: Mir wird langsam schlecht bei diesem anschwellenden Bocksgesang öffentlicher Empathiebekundungen..

Lieber Gomez,

ich habe nun noch einmal diesen Thread von Anfang an (leider nur) überflogen. Bist du denn der Meinung, bis zu deinem ersten Beitrag in diesem Faden träfe dieses zu:

Für die nicht unmittelbar Betroffenen in einer Netzdiskussion wird die Empathiebekundung (ob sie's wollen oder nicht) zum Gemenschel, zur Schreinemakers-artigen Simulation von Gefühlen.
?

Ich finde das nämlich nicht! Es wurden - teilweise aus persönlichen Erfahrungen heraus - die Schwierigkeiten geschildert, die Frauen nach einer Vergewaltigung oder sexuellen Belästigung
haben, sei es emotional, rechtlich u.a.. Ich fand die Schilderungen berührend und sehr differenziert - über die Täter wurde so gut wie nichts gesagt. Siehst du das anders?

Es ist auch heute noch so, dass diese Schwierigkeiten erheblich sind. Es steht meist Aussage gegen Aussage. In vergangenen Fällen tendierte die Chance auf Verurteilung gegen Null. Das Strafmaß war lange Zeit lächerlich.

Diese Dinge haben sich erst in den letzten Jahren geändert. Plötzlich wurde die Gesellschaft sensibilisiert, plötzlich wurden Gesetze geändert, plötzlich wurden Männer verurteilt, plötzlich entstand die Me-Too-Bewegung ... .

Das bedeutet für die Täter natürlich, dass sie plötzlich Gefahr laufen, verurteilt zu werden und dass sich ihnen ein jahrzehnte/jahrhunderte? alter Hass entgegenstellt. Ich kann mir schon vorstellen, dass es dabei zu Situationen kommt, die du geschildert hast.

Hinzu kommt, dass ein sehr großer Teil der Täter kein bisschen reumütig ist. Mauser und Weinstein sind nur zwei Beispiele. Sie entschuldigen sich nicht, sie geben nichts zu, sie flüchten und stehen nicht zu ihrer Verantwortung. Ich behaupte, dass die Lage eine andere wäre, wenn die Täter anders mit ihrer Schuld umgingen.

Insofern fällt es mir sehr schwer, mich auf deine Seite zu stellen und die Situation mit deinen Augen zu betrachten. Da ich aber ganz genau weiß (durch zahlreiche Kontakte, wenn auch noch nicht persönlicher Art), dass du mit deiner Perspektive nicht die Situation vergewaltigter und sexuell genötigter Frauen kleinreden willst, dass du empathisch bist, aber auch polemisch und hier einen sehr klaren Kontrapunkt setzen willst, nehme ich deine Perspektive ernst.

Ich verstehe nur nicht ganz, woher du sie nimmst. Hier im Faden bestätigt sie sich doch nicht, oder meinst du doch? Vermutlich aus bestimmten Medien, die ich nicht lese? Selbst wenn man die Me-Too-Bewegung nimmt, so gibt es da doch sehr unterschiedliche Strömungen. Ein paar Betroffene kenne ich und die reden nie über das Lebenswerk des Täters, sondern wie das alles für sie ist und war. Könnte es nicht sein, dass deine Perspektive nur ein kleiner Ausschnitt von dem ist, was Tätern begegnet? Ich habe auch den Eindruck, dass du in irgendeiner Form persönlich betroffen bist.

Wobei: ich habe Kachelmann ja schon erwähnt. Bei ihm würde ich tatsächlich deine Perspektive unterschreiben. Das war allerdings noch ganz zu Anfang und vielleicht kam es deshalb zu Überreaktionen. Gut war das sicherlich nicht!

Ich glaube, dass du auf mehr Verständnis für deine Sicht stoßen würdest, wenn du mehr Verständnis für andere Sichtweisen aufbringen würdest. Statt dessen machst du Vorwürfe und damit tue auch ich mich schwer, weil ich eben erlebt habe, welche furchtbaren Folgen sexuelle Übergriffe haben und welche Steine Frauen früher in den Weg gelegt wurden, wenn sie sich wenigstens nachträglich gewehrt haben.

Aber du willst ja polarisieren und durchaus provokant deine Sicht darstellen, was dir auch gelungen ist.

Liebe Grüße

chiarina
 
Ich kann die Gedanken von @Gomez de Riquet schon nachvollziehen. Es geht hier um einen Täter, der verurteilt wurde und der seine Strafe irgendwann antreten muss - auch, wenn er sich dem temporär entzogen hat. Gomez hat, wenn ich ihn richtig verstanden habe, dieses Urteil nicht in Frage gestellt und insofern auch die sexuelle Nötigung nicht verharmlost.

Was er anprangert, ist das öffentliche Nachtreten gegen den Täter, das diesen vermutlich bis an sein Lebensende begleiten wird. Und, ganz ehrlich, das kotzt mich auch an. Ich möchte gar nicht wissen, was passiert, wenn S. M. irgendwann aus dem Gefängnis entlassen wird und einen wissenschaftlichen Aufsatz veröffentlichen will. Welcher Verlag wird sich angesichts des zu erwartenden Shitstorms trauen, den zu veröffentlichen? Wohlgemerkt, einen Aufsatz in dem es um Musik geht, nicht um seine möglicherweise krude Rechtfertigung der Taten. Und das Schlimme ist, dass der Shitstorm ja nicht von den Frauen ausgeht, an denen er sich tatsächlich vergangen hat, sondern von gänzlich Unbeteiligten. Wieso nehmen diese sich das Recht heraus, über Schuld zu urteilen und einen Menschen - mit dem sie persönlich gar nichts zu tun haben - nach Verbüßung seiner gerechten Strafe bis ans Ende seiner Tage zu stigmatisieren und ihm keinen Platz in der Gesellschaft mehr zuzubilligen?

Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient. Und meistens klappt das in unserem Land ja auch - selbst ein Mörder wird resozialisiert. Aber ein sexueller Nötiger - insbesondere ein prominenter - darf offensichtlich kein Bein mehr auf die Erde bekommen.

Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich kann die Gedanken von @Gomez de Riquet schon nachvollziehen. Es geht hier um einen Täter, der verurteilt wurde und der seine Strafe irgendwann antreten muss - auch, wenn er sich dem temporär entzogen hat. Gomez hat, wenn ich ihn richtig verstanden habe, dieses Urteil nicht in Frage gestellt und insofern auch die sexuelle Nötigung nicht verharmlost.

Was er anprangert, ist das öffentliche Nachtreten gegen den Täter, das diesen vermutlich bis an sein Lebensende begleiten wird. Und, ganz ehrlich, das kotzt mich auch an. Ich möchte gar nicht wissen, was passiert, wenn S. M. irgendwann aus dem Gefängnis entlassen wird und einen wissenschaftlichen Aufsatz veröffentlichen will. Welcher Verlag wird sich angesichts des zu erwartenden Shitstorms trauen, den zu veröffentlichen? Wohlgemerkt, einen Aufsatz in dem es um Musik geht, nicht um seine möglicherweise krude Rechtfertigung der Taten. Und das Schlimme ist, dass der Shitstorm ja nicht von den Frauen ausgeht, an denen er sich tatsächlich vergangen hat, sondern von gänzlich Unbeteiligten. Wieso nehmen diese sich das Recht heraus, über Schuld zu urteilen und einen Menschen - mit dem sie persönlich gar nichts zu tun haben - nach Verbüßung seiner gerechten Strafe bis ans Ende seiner Tage zu stigmatisieren und ihm keinen Platz in der Gesellschaft mehr zuzubilligen?

Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient. Und meistens klappt das in unserem Land ja auch - selbst ein Mörder wird resozialisiert. Aber ein sexueller Nötiger - insbesondere ein prominenter - darf offensichtlich kein Bein mehr auf die Erde bekommen.

Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Ein sehr guter Beitrag, @mick .

Eins habe ich aber noch anzumerken: Das "Flucht" ist m.E. schon wieder etwas fake-beeinflusst.

Meinen Informationen nach hat S.M. s e l b s t einen sog. "Straf(verfolgungs)-Übertragungs-Antrag" gestellt gehabt ( oder so ähnlich ) , um in Österreich verurteilt zu werden. Wenn ich das falsch in Erinnerung habe, bitte ich um Korrektur.

LG, Olli
 
Mich erinnert diese ewige Diskussion ein bisschen an das Für und Wider von Abtreibungen. Ich verstehe beide Seiten, und beide Seiten haben Recht. Man kann sich im Einzelfall aber nur zu 100% für die eine oder andere Seite entscheiden, denn ein bisschen Abtreiben geht nicht.
Auch im Fall sexueller Belästigung verstehe ich beide Seiten. Ich finde ebenfalls, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat. Punkt. Aber ich verstehe auch die andere Seite, die der Opfer. Zwar bin ich selbst keines (obwohl auch ich, wie garantiert jede Frau, tendenziell übergriffiges Verhalten von Männern in weniger dramatischer Form schon erfahren habe), kenne aber erschreckend viele Frauen oder (ehemalige) Mädchen, die selbst schwer betroffen waren / sind.
Wieso nehmen diese sich das Recht heraus, über Schuld zu urteilen und einen Menschen - mit dem sie persönlich gar nichts zu tun haben - nach Verbüßung seiner gerechten Strafe bis ans Ende seiner Tage zu stigmatisieren und ihm keinen Platz in der Gesellschaft mehr zuzubilligen?
Ohne, dass ich das richtig finde, wage ich den Versuch einer Antwort: Weil sie den Tätern beispielhaft das Leben so "zur Hölle" machen wollen, weil eine Vergewaltigung o.ä. für einen Mann so grauenhafte, langfristige Folgen haben soll, dass die (anderen) Männer die Schwere dieser Taten anerkennen und sich vorher überlegen, ob sie diese Gefahr für sich wirklich auf sich nehmen wollen.

Nochmal: Ich halte wenig von Selbstjustiz und finde dieses Verhalten schwierig; noch mehr, wenn es nicht rechtskräftig verurteilte Männer betrifft.
Aber du hast nach dem "Wieso" gefragt, und dies könnte Teil der Antwort sein.
Neben dem möglicherweise aufgestauten Hass, den @chiarina angesprochen hat, der sich nun an wenigen Subjekten entläd, die man konkret dafür benennen kann.
 
Gutmenschentum wäre der nächste Schritt: die bewußte Inszenierung der eigenen Gutheit (wie immer mit dem Subtext, andere als schlecht hinzustellen, die den Gutmenschen in seiner Lieblingspose nicht ernst nehmen)

Lieber Gomez,

die bewusste Inszenierung zeigt in meinen Augen eine Charakterschwäche derjenigen, die andere klein machen, um selbst zu wachsen.

Das halte ich für verwerflich.

Ebenso wenn Geld- und Machtgier Triebfedern sind. Adhoc fällt mir dazu ein amerikanisches Ehepaar ein, welches seine ins Leben gerufene Stiftung auf diese Weise tarnen.

Gutes zu tun beinhaltet auch egoistische Motive (Wunsch nach Anerkennung, Liebe u.s.w. , das liegt jedoch auch in der Natur von Lebewesen, im Sinne des Überlebenswillens.

Ich denke, dass eine Gesellschaft in hohem Maße von Menschen, die Gutes tun, helfen, empathisch sind, profitiert und bin aufgrund meiner Beobachtungen sicher, dass es mehr " gute" Menschen gibt, als "böse".
Gut, das ist natürlich bedingt durch den Teil meiner Persönlichkeit, dem das Urvertrauen niemals abhanden gekommen ist.

Pi Anos Beiträge schätze ich meistens sehr und teile auch oft ihre Meinung.
Das gilt nicht für den letzten Beitrag, der mir übel aufgestoßen ist.
Ich nehme an, dass sie dieses Gedicht im Zorn verfasst hat. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich das nachvollziehen, auch bei mir kam eine gewisse Aggressivität hoch, als ich deine Beiträge zu diesem Thema gelesen habe.

Andrerseits ticke ich so, dass ich es als bereichernd empfinde, konträre Standpunkte zu hören oder zu lesen. Gerade hierdurch kann ich meine eigene Meinung bilden. Letzteres ist in meinen Augen und in meinem Denken ein dynamischer Prozess.

Viele Grüße
Marion

Übrigens schätze ich deine Poesie, wenn auch nicht immer! :blume:
 
Ich weiß, wovon ich spreche. Ich weiß zwar nicht, ob meine Erfahrungswerte dem statistischen Durchschnitt entsprechen, aber ich habe in meinem Leben vier Mißbrauchsopfer kennengelernt (zwei davon in meinem Freundeskreis) und hatte auch das Vergnügen, zwei Pädokriminelle kennenzulernen, einen als ehemaligen Wohnungsnachbarn, einen als ehemaligen Fußballtrainer meines Sohnes, wobei mein Sohn knapp am Mißbrauchtwerden vorbeigeschrammt ist.

Kleine Karfreitags-Meditation: Das bei uns herrschende linksliberal-bürgerliche Spät-68er-Milieu sieht sich - in der Tradition des europäischen Humanismus - als aufgeklärt, tolerant, weltoffen, pazifistisch usw. Beim "Faschisten", vor allem beim "Sexualstraftäter" hört der Spaß allerdings auf. Übrigens hört er da auch bei den Faschisten auf, die für Pädokriminelle gern die Todesstrafe empfehlen. Jedenfalls bricht da bei dem braven Humanisten - von der eigenen Moralzensur unentdeckt - der sonst mühsam unter Verschluß gehaltene Aggressionsüberschuß durch und äußert sich in extremen Gewaltphantasien. Das ist zwar als Affekt ganz und gar verständlich. Aber soviel Reflexionsarbeit erwarte ich vom bürgerlichen Humanisten, sich dessen bewußt zu werden und mindestens einen Schritt drüberhinaus zu denken.

Das Herabschauen auf den Schuldigen hat immer eine Entlastungsfunktion. Jeder von uns schleppt Schuldgefühle (berechtigt oder nicht), Selbstzweifel und Ambivalenzen mit sich herum. "Der Mensch ist ein Abgrund" (Büchner). Der Blick auf den Gestrauchelten, den Schuldigen (in diesem Fall: auf den Sittich, wie er in der Knastsprache heißt, der auch in der Knasthierarchie an unterster Stelle steht) hat etwas Erlösendes. Aber er erlöst den Sich-selbst-Überhebenden nicht. Er ist eher die Vorstufe dazu, selber irgendwo an einer andern Stelle zu straucheln.

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Zuletzt bearbeitet:
Ich möchte auch eine Kleinigkeit schreiben. Ich verstehe, so denke ich, sehr gut, was Gomez anprangern möchte.

Sehr abstrahiert meine ich aus seinen Beiträgen in diesem Faden herauslesen zu können, (@Gomez de Riquet möge mich korrigieren) dass ihm der zum Teil sehr irrationale gesamtgesellschaftliche Umgang mit Triebtätern sauer aufstößt, wohingegen er die Reaktionen der unmittelbar betroffenen Einzelpersonen und des Rechtsstaats auf den einzelnen Fall als angemessen betrachtet und nicht entwerten möchte. Die Ursache für diese Irrationalität sieht er unter anderem darin, dass man sich bei Sexualdelikten gleichermaßen mit dem Täter wie mit dem Opfer sehr stark identifizieren kann. Somit wird auch ein Verbrechen, welches weit entfernt vom persönlichen Umfeld geschieht, auf der persönlichen Ebene bewertet, eben weil man sich damit identifizert.

Der Verlauf des Fadens seit Gomez Beitrag ist m.E. auch ein sehr gutes Indiz für diese These: Von Anfang an stellte er klar, dass er die gesamtgesellschaftliche Reaktion in den Mittelpunkt der Diskussion stellen wollte. Doch anstatt rational über die gesamtgesellschaftliche Reaktionen zu argumentieren, wurden immer wieder persönliche Empfindungen und Erfahrungen vorgestellt und damit argumentiert, obgleich diese für seine eigentliche Frage eher weniger relevant sind.

Das Problem, welches Gomez nach meinem Verständnis anprangert, ist allerdings meines Erachtens ein omnipräsentes Problem in größeren menschlichen Gesellschaften:

Gesamtgesellschaftlich ergeben sich bestimmte Fragestellungen (z.B. "Wie sollte man gesellschaftlich mit Triebtätern umgehen?"). Diese Fragestellung an sich ist zu abstrakt und betrifft eine zu große Menge an Leuten, als dass man sie anhand von Erfahrungen beantworten kann, die man in seinem persönlichen Umfeld gesammelt hat. Aber anstatt dieses Problem einzusehen wird die Fragestellung im Kopf der Einzelperson umformuliert (z.B. in "Wie würde ich mit Triebtätern umgehen?") und anschließend anhand der Erfahrungen die man im Leben gemacht hat beantwortet. Die resultierende Antwort ist aber dann keine Antwort auf die eigentliche Frage.

Dieses Problem tritt oft auf und ist meines Erachtens ein großes Problem in der heutigen Demokratie, z.B. (erinnern wir uns an einen anderen Faden):

Die gesamtgesellschaftliche Fragestellung "Sollten wir das bedingungslose Grundeinkommen einführen?" wird im Kopf umformuliert in "Soll ich für jemanden schuften, der nix tut?" und erfahrungsgemäß mit "Nein!" beantwortet. Dass die zweite Frage nicht unbedingt was mit der ersten zu tun hat wird klar, wenn man sich tiefer mit der Materie beschäftigt, aber genau das machen die meisten Menschen nicht, und glauben, dass die gefundene Antwort eine Antwort auf die ursprüngliche Frage ist.

So ist es ja auch in diesem Faden geschehen. Aus Gomez berechtigter Kritik am gesellschaftlichen Umgang wurde eine Kritik am individuellen Umgang. Letzteres ist aber unabhängig von ersterem.
 
100% zutreffend, m.E., Daniel.

LG, Olli

( Und: Warum diesen Thread aufsplitten, das verkompliziert nur das Verständnis ).
 

Ich wäre eher für eine Teilung (und zwar vor dem Beitrag 84). Jetzt ist ja die Diskussion in vollem Gange.
Warum? Der von mir hineingebrachte Aspekt hat doch ganz und gar mit dem Thema zu tun. Der Blick auf den/die Täter ist ein Perspektivwechsel, aber nicht off topic, und die Frage nach dem Umgang mit Schuld folgt unmittelbar auf den Racheschrei. Das Problem scheint mir in der Schwierigkeit zu liegen, die unterschiedlichen Situationen, in denen sich Opfer und Täter nach der Tat befinden, und das unterschiedliche Ausmaß an Leid, mit dem beide bis an ihr Lebensende leben müssen, zusammenzudenken.

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Das Herabschauen auf den Schuldigen hat immer eine Entlastungsfunktion. Jeder von uns schleppt Schuldgefühle (berechtigt oder nicht), Selbstzweifel und Ambivalenzen mit sich herum. "Der Mensch ist ein Abgrund" (Büchner). Der Blick auf den Gestrauchelten, den Schuldigen (in diesem Fall: auf den Sittich, wie er in der Knastsprache heißt, der auch in der Knasthierarchie an unterster Stelle steht) hat etwas Erlösendes. Aber er erlöst den Sich-selbst-Überhebenden nicht. Er ist eher die Vorstufe dazu, selber irgendwo an einer anderen Stelle zu straucheln..

Lieber Gomez,

du empfindest den Umgang mit Triebtätern als ein Herabschauen. Ich empfinde es genau anders herum: das Opfer war immer der/die Unterlegene und wehrt sich nun aus der Perspektive von unten. Ich empfinde dieses Herabschauen als eine Interpretation deinerseits, die nicht stimmen muss.

Es ist viel Wahres daran, was @Stilblüte schrieb: das Opfer muss sein ganzes Leben unter den Straftaten und deren Folgen leiden. Der Täter, der oft keine Einsicht zeigt und bei dem es sehr fraglich ist, ob er überhaupt innerliche Gewissensqualen oder Kämpfe bzgl. der Tat mit sich selbst erleidet, soll dann wenigstens unter den strafrechtlichen und gesellschaftlichen Folgen leiden.

Ich bin auch strikt für "im Zweifel für den Angeklagten" und "Strafe verbüsst - neue Chance"!

Aber dass die Situation sich für Opfer entscheidend verbessert hat, liegt daran, dass die Gesellschaft nun dafür sensibilisiert ist. Das ist immer der erste Schritt für eine Veränderung! In der Odenwaldschule gab es auch früher schon Versuche, an die Öffentlichkeit zu gehen, auch mit Hilfe der Medien. Aber erst jetzt gab es Resonanz in der Gesellschaft und erst jetzt hatte diese zur Folge, dass Opfer gehört und die rechtliche Situation verbessert wurde. Meiner Meinung nach hat also die Ächtung der Gesellschaft bzgl. solcher Taten erst alles andere ermöglicht. Die Ächtung hat gravierende Nachteile für die Täter inklusive beruflicher Ächtung. Sie ist aber nur deshalb so intensiv geworden, weil eben vorher eine genau gegenteilige Situation gegeben war: die Täter durften letztlich machen, was sie wollten.

Die Veränderung der Situation für die Opfer ist noch nicht lang her. Ich kenne Opfer, die auch jetzt noch große Schwierigkeiten haben, sich Gehör zu verschaffen. Die alten, Jahrhunderte alten Vorurteile (sie will Sex, wenn sie einen Minirock anzieht u.v.a.) sind nicht so leicht aus den Köpfen zu bekommen. Insofern ist die Situation emotional sehr beladen.

Sie wird verstärkt durch die Straftat an sich. Wer Triebtäter ist und über lange Zeit sexuelle Straftaten begangen hat, trägt diesen Trieb ja auch noch nach Verbüßung der Strafe in sich. Es ist absolut notwendig, dass Pädophile auch nach der Verbüßung ihrer Strafe beruflich nicht mehr mit Kindern arbeiten - da wirst du mir sicher zustimmen, oder nicht? Man traut Triebtätern auch nach dem Absitzen der Strafe nicht, man ist sich unsicher, wie weit man ihnen trauen kann und darf. Ein Triebtäter steht nicht umsonst in der Knasthierarchie ganz unten.

Für mich entscheidend ist, wie ich schon sagte, wie der Verurteilte mit seiner Tat und sich selbst umgeht. Bei der Frage, wie die gesamte Gesellschaft mit Straftätern umgeht, bin ich im Gegensatz zu @alibiphysiker der Meinung, dass gerade persönliche Erfahrungen und das sprechen über sich selbst Verständnis und vielleicht sogar Vertrauen schaffen. Wenn es gelänge, dass Täter Opfern und Opfer Tätern zuhörten und diese beiden Begriffe sogar verschwänden, wäre viel gewonnen. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg, denn er erfordert eine gewisse Augenhöhe, die in einer Täter-Opfer-Beziehung nicht da ist.

Liebe Grüße

chiarina
 
Liebe @chiarina und alle, die mir freundlich geantwortet haben:

vielen Dank für Eure Antworten. Wenn Ihr fragt, was mich hier so vehement Partei ergreifen läßt: das Thema. Ich bin für meine Sichtweise zwar persönlich angegriffen worden und hab mich in den Antworten doch - bei aller Lust zur Polemik - an die Sache gehalten. Wenn ich polemisch werde, sieht das anders aus.

Liebe Chiarina, wir reden konstant von zwei verschiedenen Dingen: Du von der Überlegenheit des Sexualstraftäters gegenüber seinem Opfer, während seiner Tat und bis zu dem Zeitpunkt, an dem er unschädlich gemacht wird, für seine Opfer sogar noch über diese Zeit hinaus - ich von der objektiven Unterlegenheit eines Angeklagten bzw. verurteilten Straftäters vor den Blicken der Öffentlichkeit. Ich bitte Dich, das auseinanderzuhalten. Welche Perspektive nimmt die Öffentlichkeit gegenüber einem noch nicht mal rechtskräftig verurteilten Angeklagten ein? Neidvolles Heraufblicken?

In einem sind wir uns vermutlich einig: Mißbrauchsopfer haben keine Bringschuld gegenüber dem Täter. Sie müssen ihn weder verstehen noch ihm verzeihen. Davon habe ich auch nicht gesprochen. Wir reden hier als Angehörige, Freunde oder Bekannte von Opfern sexualisierter Gewalt. Da kann ich eine gedankliche Differenzierung erwarten: daß die von mir angesprochenen Fragen weder das Opfer verhöhnen noch das ihm zugefügte Leid in Frage stellen.

Die "Mee-too"-Debatte hat eine alte Grundsatzfrage neu gestellt - die nach der Vereinbarkeit und (gutem) Werk und (schlechtem) Leben. Ich habe schon in meinem ersten Beitrag wie in dem beanstandeten Gedicht gesagt: Wenn man der Argumentation der "Mee too"-Hardcore-Fraktion folgt, müßten jetzt alle Loos-Häuser abgerissen werden. Das schlechte Leben kontaminiert die künstlerische (wissenschaftliche, humanitäre) Arbeit komplett; die damnatio memoriae wäre die einzig mögliche Reaktion darauf.

Die Gegenposition findet sich bei Marcel Proust (in "Contre Sainte-Beuve"): "L'homme qui fait des vers et qui cause dans un salon n'est pas la même personne".

Herzliche Grüße
Gomez

.
 
Die "Mee-too"-Debatte hat eine alte Grundsatzfrage neu gestellt - die nach der Vereinbarkeit und (gutem) Werk und (schlechtem) Leben.
Vermutlich hinterließ die überwältigende Mehrheit aller bisherigen Sexualstraftäter nicht immer etwas, was die Mit- und Nachwelt als "Werk" in den Kulturkanon aufnimmt.
Womöglich wäre sinnvoll, einen Konsens zu finden, was unter "Werk" zu verstehen ist.

So weit mir bekannt, spielt (in einem akzeptablen Rechtsstaat) vor Gericht als mildernder Umstand das erschaffen von Kunstwerken keine Rolle. Es werden im Gericht auch keine Kunstwerke verurteilt. Insofern teile ich die eventuelle Befürchtung, dass die "MeeToo-Hardcore Fraktion" die Anzahl der Kunstwerke verringern könnte, nicht.

Im Zusammenhang Straftäter als Künstler bzw Künstler als Straftäter: da gab es doch mal einen Jack Unterweger.
 
Genaues Lesen hilft: Ich habe nicht behauptet, daß das gute Werk die böse Tat veredelt und juristisch als mildernder Umstand gilt. Es gibt keinen Prominentenbonus. Im Gegenteil: Ein pädokrimineller Friseur kann nach Verbüßung seiner Straftat irgendwo in ein anderes Bundesland ziehen und dort einen Frisiersalon aufmachen. Siegfried Mausers Name ist verbrannt, wie @mick geschrieben hat: Er kann so schnell keinen Aufsatzband, keine neue CD-Einspielung rausbringen. Über seinen Verlag würde ein Shitstorm hereinbrechen.
Insofern teile ich die eventuelle Befürchtung, dass die "MeeToo-Hardcore Fraktion" die Anzahl der Kunstwerke verringern könnte, nicht.
Die Anzahl der Werke können sie schlecht reduzieren. Loos-Häuser stehen unter Denkmalschutz. Und wenn es Wei Tsin Fu gelungen wäre, seine Bruchbude in Tübingen zu Ende zu bauen, hätte der Neueigentümer das Haus sanieren, anders streichen/verklinkern lassen und es unter neuem Namen der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.

Aber mit Einschüchterungskampagnen lassen sich Verlage, Filmverleihe, Sendeanstalten beeinflussen. In vorauseilendem Gehorsam werden dann Sachen aus dem Programm genommen (z.B. Michael-Jackson-Songs), Filme umgeschnitten und partiell neugedreht (Alles Geld der Welt), Verlagsprogramme geändert.
 
Die Anzahl der Werke können sie schlecht reduzieren. Loos-Häuser stehen unter Denkmalschutz.
und daran wird die "MeeToo-Hardcore Fraktion" auch nichts ändern.

Da du Herrn
, den selbsternannten Hirnforscher, erwähnst: welches "Werk" hat dieser hervorgebracht, dass du ihn als Exempel anführst?
 
Irgendwie ein abstraktes Thema. Obwohl ich (ich hatte mich vor Jahren hier ja schon mal geoutet, als es um Lotusblume ging) vergewaltigt wurde, verstehe ich Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung nicht. Ich kann sie mir noch nicht mal annähernd vorstellen. Schon rein praktisch nicht. Es würde einfach nicht funktionieren. Ich weiß, wie man sich als Opfer fühlt, ich weiß aber auch, dass das bei jedem Menschen anders ist. In die Täter kann ich mich überhaupt nicht reinversetzen.

Was ich aber noch viel weniger verstehe ist diese grenzenlose Entrüstung, Empörung und öffentlich gezeigte Empathie mit den Opfern von Unbeteiligten. Vor Jahren habe ich schon mal einen riesigen Shitstorm geerntet, als es um einen Flugzeugabsturz ging. Wie ich nur so herzlos sein kann...

Ich finde das alles wenig rationell. Man kann, wenn man will, mehrmals in der Minute nur für die Verkehrstoden und deren Angehörigen Empathie zeigen. Oder Mordopfer. Alle 3 Sekunden verhungert jemand! Das stelle ich mir wesentlich schrecklicher vor. Mütter, die wegen Hunger ihre Kinder verlieren!
Die wenigsten haben wirklich Empathie für so was, ich auch nicht. In meinen Augen ist die öffentlich gezeigte Empathie mit völlig fremden Opfern und die Entrüstung über völlig fremde Täter nicht echt. Sie ist nur da, weil ein einzelnes Ereignis (wie es jeden Tag millionenfach vorkommt) durch die Presse gejagt wird. Es ist wie Film gucken oder Buch lesen und sich von der Geschichte mitreißen lassen. Nicht echt, nur fiktiv und wie im Film werden die Protagonisten bedauert oder verurteilt.
Warum? Und so verstehe ich das vorwurfsvolle Gedicht von Gomez: Zur eigenen Erbauung, zum Selbstetikettieren, zum "auf die gute Seite stellen", weil man da noch nicht so richtig stand?

Das Doofe ist: Die dafür benutzten Protagonisten und deren Angehörigen sind echt und nicht fiktiv. Deshalb kann Empathie auch bedeuten: Einfach mal die Klappe halten.
 
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. In meinen Augen ist die öffentlich gezeigte Empathie mit völlig fremden Opfern und die Entrüstung über völlig fremde Täter nicht echt.
mal davon abgesehen, ob das tatsächlich der Fall ist, stellt sich an dich die Frage, ob das für "die öffentlich gezeigte Empathie mit restlos allen völlig fremden Opfern" und für "die [öffentlich gezeigte] Entrüstung über restlos alle völlig fremden Täter" gilt, oder nur im Kontext mit Sexualstraftaten; und wenn letzteres, dann stellt sich die Frage, warum bei diesem Thema die Empathie unecht und bei anderen womöglich echt sei...
 
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