Musik "verstehen"

Übrigens: In keiner anderen Kunstgattung (außer Literatur natürlich) käme man auf die Idee, den beschreibenden Text als ausreichend zur Erfassung eines WErkes zu betrachten.

Warum glaubt das irgendjemand bei Musik?

NOtenschrift ist eine Sprache. Weder Bilder, noch Skulpturen, noch Musik lassen sich durch eine Sprache ausreichend beschreiben.

lg, Ernst
 

Das beruhigt mich! :D

Ich gestehe, dass Analyse (auch des eigenen Spiels) Verbesserung herbeiführen kann. Subjektiv, für mich. Allerdings weit überwiegend im analytischen Hören als im Musik "anschauen".

Eine Frage: was verstehst du unter "analytischem Hören"?? Also wenn ich in den Notentext hineinsehe und lese, was da steht, dann ist das für mich "analytisches Hören". Aus dem Lautsprecher braucht da nicht unbedingt was zu dudeln.

LG, Sesam
 
Hallo Ernst,
ich finde deine Position sehr interessant, auch wenn ich ganz anderer Meinung bin :)

Für mich ist die Notenschrift eine unglaublich geniale Aufzeichnung von Musik. Meistens wird ihr Detailreichtum eher unterschätzt. Was sie für mich aber wirklich genial macht, ist, dass sie den Interpreten nicht zu sehr einschnürt in Anweisungen, ihm andererseits aber einen festen Boden gibt, auf dem er sich dann bewegen kann. Gerade dieses Offenlassen vieler Informationen ist für mich das Großartige der Noten.
(Vorausgesetzt der Komponist konnte mit der Notenschrift richtig umgehen etc.)

Für mich hört es sich so an, als gäbe es für dich DIE eine richtige Wiedergabe eines Werkes. Wenn man das so sieht, ist die Notenschrift natürlich furchtbar unvollkommen.

lg marcus
 
ulkig... mal so überlegen:
"Weder Bilder, noch Skulpturen, noch Musik lassen sich":
- durchs hörensagen,
- durch Gebete und Voodoo,
- durchs bloße beschreiben
- durchs gefühlige Schwärmen
erklären/verstehen/weitergeben

Musik erfordert beides: Verstand und Sensibilität - darin liegt wohl auch ihre ganz spezifische Eigenart. Und wenn man sie ausübt, egal auf welchem Instrument, gesellt sich noch eine gehörige Portion manuellen Könnens hinzu.

oder wie Horowitz sagte: "Klavierspiel besteht aus Vernunft, Herz und technischen Mitteln. Alles sollte gleichermaßen entwickelt sein [sic]. Ohne Vernunft sind Sie ein Fiasko, ohne Technik ein Amateur, ohne Herz eine Maschine."

Gruß, Rolf
 
Huhu... nein, ganz im Gegenteil, für mich gibt es überhaupt keine "richtige" Interpretation irgend eines Werkes. Bereits die Beurteilung ob richtig oder faslch oder mehr richtig oder so finde ich höchst problematisch.

"Standards" zu definieren halte ich immer für den Versuch einer Gruppe von "Definitionsmächtigen" den Kral Elitär zu halten.

Darauf will ich eher hinaus als auf irgendwas anderes.

Ja, Musik ist Herz und Verstand. WIe jede andere Kunstgattung übrigens auch :o). Immer der ganze Mensch.

lg, Ernst
 
Und bei allem Respekt vor Horowitz: Ist halt auch "Mitglied der Zunft" ...
"Ohne Technik = Amateur"... welch elitekäse.

Ernst
 
Huhu... nein, ganz im Gegenteil, für mich gibt es überhaupt keine "richtige" Interpretation irgend eines Werkes. Bereits die Beurteilung ob richtig oder faslch oder mehr richtig oder so finde ich höchst problematisch.

"Standards" zu definieren halte ich immer für den Versuch einer Gruppe von "Definitionsmächtigen" den Kral Elitär zu halten.

Darauf will ich eher hinaus als auf irgendwas anderes.

Ja, Musik ist Herz und Verstand. WIe jede andere Kunstgattung übrigens auch :o). Immer der ganze Mensch.

lg, Ernst
Ah ok, diesen Gedanken hab ich wohl aus deinem Vergleich mit Bildern und Skulpturen, denn die sind ja einmalig und einzigartig genau so wie sie eben sind.
Der Gedanke, Musik bräuchte ebenso sehr wie diese anderen Künste eine andere Vermittlung als über den Notentext, finde ich deshalb problematisch. Musik ist eben nicht so bis ins letzte Detail festgelegt, so wie ein Bild von Picasso. :)

lg marcus
 
Und bei allem Respekt vor Horowitz: [...]
"Ohne Technik = Amateur"... welch elitekäse.

Es ist doch nichts Verwerfliches daran, sich bei exzellentem Können und Genie von der Masse abzugrenzen. Was hast du gegen "Eliten", wo sie am Platze sind?

LG, Sesam

P.S. Aber vertiefen wir das Thema "Eliten" besser nicht, es geht ja in diesem thread um etwas anderes.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
...oh weh...
na, Elite hin, Elite her -- manche Klaviersachen benötigen ein gewisses technisches Können... abgesehen von Herz und Vernunft.
das festzustellen bedarf es keiner Eliten...
wo in Gottes Namen bewegt sich denn diese aus dem Ruder laufende Diskussion jetzt hin???

verständislose Grüße angesichts derartiger kapriolen,
Rolf
 
Ok, also zurück zum Thema: Technisches Können ist in keiner Weise erforderlich, um Musik "verstehen" zu können :)

@marcus: Stimme Dir völlig zu!!

lg, Ernst
 
na ja,

"Musik verstehen" beinhaltet mancherlei: was sagt dieses und jenes Stück? wie kann das "rüber kommen"? warum funktioniert das? wie gelingt die Zusammenführung von Emotion und Struktur? wie muss es dargestellt/interpretiert sein, damit mans wahrnimmt? - und in letzterem ist dann der Aspekt der "gekonnten Darstellung" mitenthalten, und zu diesem gilt Horowitz verknapptes bonmot nach wie vor.
Nebenbei: lohnte sich - im Gedankenspiel "ohne jeden Notenaufschrieb" - Musik zu tradieren (vom verstehen noch weit entfernt...hähä), wenn sie allein dilletantisch und amateurhaft betrieben würde????

ja... "ich sehe, hier weht ein anderer Wind... wer so seine Worte zu setzen wüsste" (Mann, Zauberberg)...

evtl wäre hilfreich, mal wieder auf die eingangs gestellte, nach wie vor berechtigte Frage zu reagieren, statt sich darin zu gefallen, "Noten" und "Können" runterzumachen und stattdessen zu mystifizieren.

neugiereigen Grußes,
Rolf

(vielleicht findet sich ja wer, der mal was über das Verhältnis von "Wissen" und "Fühlen" mitzuteielen weiss)

irgendwer schreibt hier manchmal was über "Vorsicht verschluckbare Teile...auch Meinung genannt", dem schließe ich mich mal an :)
 

Neuer Ansatz

Ohne jetzt auf einzelne Beiträge einzugehen, versuche ich einen neuen Gedanken einzuführen.

Da Musik ja viel mit kommunikation zu tun hat, wäre es hilfreich, sich mal Folgendes anzusehen. Vielleicht gewinnt man so neue Perspektive, wie Musik zwischen den Menschen wirkt und auch das Verständnis, warum dieser das nun gerade so spielt oder anders bekäme neue Nahrung.

http://www.schulz-von-thun.de/mod-komquad.html

# eine Sachinformation (worüber ich informiere) - blau
# eine Selbstkundgabe (was ich von mir zu erkennen gebe) - grün,
# einen Beziehungshinweis (was ich von dir halte und wie ich zu dir stehe) - gelb,
# einen Appell (was ich bei dir erreichen möchte) - rot.

1.Ich zeige also, worum es geht, wenn ich ein Stück spiele und dann

2. zeige ich, wie ich es für gut halte und dann

3. will ich eine Brücke zum Hörer schlagen und

4. Möchte ich etwas bewirken, wenn ich es so spiele

für das Verstehen von Musik greift dieses modell sicher zu kurz aber ich denke, es kann nicht schaden, auch diese Überlegungen mit einzubeziehen.

Jeder kennt den Pianisten, der Manieren zeigt, die eine besondere persönliche Wirkung beabsichtigen und der vielleicht die Höhrer belehren möchte, dass es nur so zuspielen sei und unten denen gibt es leider auch diejenigen, die abweichende Interpretationen (verständnis) kaum zulassen.

Beim Verstehen von Musik gibt es nie ein wirklich endültiges richtig oder falsch. Es ist wie das fugenschema. Gut, dass wir das kennen, aber selbst Bach hat keine Fuge genau nach diesem Plan komponiert.

Bei wirklich genialen Komponisten, zu denen sicher Beethoven aber auch einige andere gehören, mag es wegen der Komplexität bestimmter Werke durchaus zutreffen, dass deren Verständnis sogar in der Zukunft ständig neue Gesichtspunkte blosslegt.
In Bezug auf die Fuge aus op. 106 tröste ich mich dann mit der Möglichkeit, dass erst die Pianisten und Musiker des Jahre 2100 sie besser verstehen können.
Um nicht falsch verstanden zu werden, möchte ich diesen Mechanismus keinesfalls auf sogenannte schwierige Stücke beschränkt wissen.

Auch ein Stück wie das 1. Präludium des WK ist noch nicht zu Ende gedacht oder interpretiert worden. Nahrung erhält diese These dadurch, dass selbst das anscheinend relativ einfach aufgebaute system unserer Noten immer mit neuen Erkenntnissen und Querbeziehungen überrascht.
 
"Musik verstehen" beinhaltet mancherlei: was sagt dieses und jenes Stück? wie kann das "rüber kommen"? warum funktioniert das? wie gelingt die Zusammenführung von Emotion und Struktur? wie muss es dargestellt/interpretiert sein, damit mans wahrnimmt?

Genau darum geht es mir, die ich diesen Faden eröffnet habe! Deshalb schlage ich vor, nicht mehr weiters über das Für und Wider von Ratio in der Musik zu debattieren, sondern den oben zitierten Ausschnitt mit Inhalt zu füllen. Meine Frage war schließlich nicht, ob es förderlich und empfehlenswert ist Musik zu verstehen (diese Frage habe ich für mich bereits beantwortet;)), sondern wie anhand von Beispielen so etwas aussehen könnte.
Den Begriff des "Verstehens" finde ich hier durchaus angemessen, weil er eben über die Ebene der reinen Betrachtung und Analyse hinausgeht.
Zum Beispiel das Italienische Konzert 1. Satz: da entwickelt sich ab Takt 15 etwas, was sich dann in den Takten 27-30 auflöst. Gleicher Verlauf nur in anderer Tonart auch in den Takten 75 bis 90. Natürlich kann man diese Stelle nach Gefühl spielen, das Problem ist nur, dass Bach immer irgendwie wohl klingt.... Also frag` ich mich, was hat denn der Johann da im Schilde geführt? Wo soll denn die Reise hingehen? Was steht da, was mir helfen könnte, eine Struktur, eine klare Aussage in meine Interpretation zu bringen. Wo liegt die treibende Kraft der Melodie? Wo liegt dabei, warum und wann das Gewicht in welcher Stimme? Die Takte 90 bis 162 lassen sich auch prima nach Gefühl spielen, allerdings kommt dann in 163 das böse Erwachen, wenn sich der Kreis logisch schließen soll. Als ich meine Frage gestern ins Forum stellte, dachte ich an solche Schwierigkeiten, wo es eben enorm weiterhelfen kann, wenn man mehr sieht als nur einen Haufen Noten.

LG, Sesam
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Genau darum geht es mir, die ich diesen Faden eröffnet habe! Deshalb schlage ich vor, nicht mehr weiters über das Für und Wider von Ratio in der Musik zu debattieren, sondern den oben zitierten Ausschnitt mit Inhalt zu füllen. Meine Frage war schließlich nicht, ob es förderlich und empfehlenswert ist Musik zu verstehen (diese Frage habe ich für mich bereits beantwortet;)), sondern wie anhand von Beispielen so etwas aussehen könnte.
Den Begriff des "Verstehens" finde ich hier durchaus angemessen, weil er eben über die Ebene der reinen Betrachtung und Analyse hinausgeht.
Als ich meine Frage gestern ins Forum stellte, dachte ich an solche Schwierigkeiten, wo es eben enorm weiterhelfen kann, wenn man mehr sieht als nur einen Haufen Noten.

LG, Sesam

hallo,

schön zu sehen, dass ein "vernünftiger" Ton wieder einkehrt :) und der Vorschlag, an einem möglichst allseits bekanntem Werk sich der Frage bzw. ihrer Beantwortung aus mehreren Perspektiven zu nähern, ist im besten Sinne "vernünftig".

Leider kann ich zum Italienischen Konzert eigentlich nichts sagen: ich habe es weder je gespielt, noch je ganz angehört... mag schändlich sein, meinethalben auch ignorant, aber ich mag halt die meisten "Clavier"sachen von Bach nicht (zudem bin früher arg mit WTK etc gepeinigt worden... dennoch: mit das größte in der Musik überhaupt ist für mich die Bassaria "mache dich, mein Herze, rein" aus der Matthäuspassion).

Aber interessant vorab dürfte sein, sich bewußt zu machen, wie viel von dem, was man als ganz individuell zu empfinden glaubt, seine Ursache in den Gewohnheiten und Traditionen hat: wir alle (banal gesagt "abendländischen" Leutchen) sind quasi musikalisch sozialisiert. Denn wir nehmen zunächst mal Abweichungen von dem, was wir ganz natürlich als "normal" und "musikalisch" und "schön" empfinden, wahr:
wir stutzen, wenn
- eine Kadenz fehlt
- eine unerwartete "andere" Schlussformel verwendet wird (z.B. d-Moll - E-Dur am Ende der Walküre, a-Moll - F-Dur-H-Dur am Ende der Lisztsonate)
- wir völlig andere als die gewohnten Akkordverbindungen hören
- wir abweichende Rhythmus- oder Periodenbildungen hören (z.B. die asymetrischen Takte der griech., ungar., bulgar. Folklore - oder die berühmte 11-taktige Periode aus La Traviata)
- unsere Erwartungen nicht erfüllt werden: z.B. witzig-freches in Moll, oder bodenlos-trauriges in Dur
Die Liste kann erweitert werden, was aber gar nicht nötig ist, denn eines wird ja klar: wir haben Erwartungen an Musik, und unsere Erwartungen haben wir uns nicht alle selbst ausgesucht. Der Beweis ist verkürzt gesagt die erstaunte-verblüffte Wahrnehmung von Abweichungen (folglich ist kein Wunder, dass enigmatisch "andere" Musik seit sehr langer Zeit faszinierend oder verstörend wirkt, z.B. Prelude es-Moll oder Finale Sonate II von Chopin)

Flaubert wollte mal einen Roman ohne Handlung schreiben, was er aber nicht ausgeführt hat - Chopin hat mindestens zwei Klaviersachen ohne Melodie und ohne Begleitung (innerhalb der romantisch-virtuosen Klangsprache) geschrieben - - - das weist darauf hin, dass erstens Chopin sehr zu Hause war im kunsttheoretischen Kontext der "modernen" Romantik (etliche, die das nicht "verstanden", schimpften seine Sachen "ungesund, bizarr" (Rellstab) oder erklärten verständnislos "Musik ist das nicht") und zweitens, dass die Komponisten sich sämtlicher vorhandener "musikalischer Techniken" und damit der Möglichkeiten ihrer Erweiterung durch Veränderungen oder Abweichungen sehr bewusst waren.

Ich halte es für vernünftig, grundlegend sich der "Traditionen" bewusst zu sein und über das quasi "musiktechnische" Instrumentarium (nicht zu verechseln mit dem spieltechnischen) möglichst genau im Klaren zu sein.

Auf dieser Basis kann dann der subjektiv empfindende Part der Wahrnehmung und der quasi theoretisch-technische mit einbezogen werden - in diesem Sinne ist es ganz allgemein dem Verstehen von Musik dienlich, wenn man möglichst viel über Musik weiß.

Ob man z.B. den Mephisto-Walzer "versteht", wenn man nicht wahrzunehmen in der Lage ist, dass er eine exquisite komplexe Harmonik (Tristanharmonik) hat und dass er in Form einer einzigartigen Kette von dramatischen Doppelvariationen strukturiert ist (ein Thema "dominiert" das andere)? Genügt es, ihn "schön", "super", "effektvoll" oder "gut für die Technik und gut für ne Klaviershow" zu finden?

"Musik verstehen" hat ja das Ziel, Musik zu begreifen - dass man ein Kunstwerk freilich nie "100% begriffen" hat, liegt in der Natur des Gegenstands: ist es "fertig interpretiert", hört es auf als Kunstwerk weiter zu leben (denn dann ist es nicht mehr mit uns und wir nicht mehr mit ihm Dialog)

Musik verstehen wird also ein beständiges Lernen sein!

ok, so weit mal ein paar Grundlagen, bevor es ans "ganz konkrete Exempel" geht.

liebe Grüße,
Rolf

(...nur so ein Vorschlag: könnte man sich statt auf Bach auf was romantisches oder spätromantisches einigen? dann könnte ich mitreden, bei Bach könnte ich nur mitlesen...)
 
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Ja, dann nehmen wir ruhig von Chatschaturjan, Bilder der Kindheit das erste. Meine Quelle: Russische KS Band 2
Das Stück hat für mich eine durchaus melancholische Grundstimmung, vielleicht schon in der Melodie ausgedrückt im zweiten Takt in der "Abwärtsrichtung" c``- g, Takt 3 u. 4 setzen den Abwärtstrend fort, dann ein zaghaftes Aufblicken e - g, um auf dem c in T 9 erstmal zu erlahmen. Das Durchschreiten abwärts der Oktave c`` - c in den ersten 9 Takten, dann noch c-moll als Tonart, da steht in den Noten schon viel, was ohne konkretes Hören doch hörbar ist. Und sich entsprechend in der Spielweise niederschlagen wird.
Im B-Teil dann die entgegengesetzte Richtung, die Stufen werden nun von unten nach oben angespielt, wenn man das so sagen darf. Da wird es etwas lichter, fast beschwingt. Zusätzlich wechselt der Rhythmus der Begleitung, diese trauertragenden Viertel vom A-Teil, werden ganz lebhaft in kurz-lang-kurz-kurz-lang-kurz verwandelt.
Wenn ich nun über die Darbietung dieses Stückes nachdenken würde, dann wäre es mir besonders wichtig, diese beiden offensichtlich verschiedenen Stimmungen im Kontrast und doch als Bestandteil ein und desselben darzustellen. Naja, also jedenfalls wäre das ein Beispiel, wie ich es mir vorstelle, sich dem Verstehen von Musik (oder sollte man besser sagen von Komposition) zu nähern. Dass man halt einfach mit den Noten erklären kann, was einen in diese oder jene Stimmung versetzt, diese oder jene Assoziation hervorruft. Ich hoffe, euch ist das nicht zu banal :oops:

LG, Sesam
 
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hallo Sesam,

weder Deine Überlegungen, noch das "andantino" sind banal.

Deine Wahrnehmung bzgl. des emotionalen Unterschieds zwischen Teil A und Teil B gilt sicher für 95% aller Hörer und Spieler dieses Stückes. Und ganz richtig machst Du den "beschwingten" (tänzerischen) Rhythmus im B-Teil für die nun nicht mehr malancholische oder traurige Stimmung verantwortlich.

Was noch hinzu kommt:
abgesehen von der Umkehrung des Anfangsintervalls der Melodie (statt Quarte ab Quinte auf), bleibt sowohl sie selbst als auch die Harmonik bis auf zwei geringfügige Varianten gleich (Teil B greift die erste Hälfte von Teil A auf). Allerdings kommt zum neuen Rhythmus die Umkehrung der Terzen in Sexten hinzu (also offenerer, weiterer Klang) und die "höher Stimmung" der Melodie, die nun eine Oktave weiter oben liegt.
- Bewegung, Klangweite und Höhe können also die emotionale Stimmung sehr verändern, selbst wenn das harmonische und melodische Material nahezu identisch bleibt.
Das lässt Chatschaturjan "Anfänger" erleben und wahrnehmen - und das ist nicht wenig.

Dur-, Moll-, verminderte und übermäßige Akkorde werden eingesetzt, manche davon mit zusätzlicher großer Sexte, kleiner oder großer Septime bereichert, außerdem wird chromatisches Abwärtsschreiten in kleinen und großen Terzen und in Sexten angeboten. Alle diese sich im Verlauf des Stückes einstellenden Akkorde und Dissonanzen bereichern die Grundstimmung der Teile um hier und da bestätigende, verstärkende und erweiternde Details (z.B. wirkt die große Septime beim "as-Moll" Takt sehr schmerzlich, ebenso der Vorhaltakkord as-(c)-d-g vor as-c-f in den beiden vorletzten Takten vor der Aufhellung)

ich würde es formal etwas detaillierter einteilen:
- ein Takt "Stimmung" (traurig lastenden protato Terzen)
- erster Teil = erste Melodie, bis zur quasi Kadenz nach c-Moll (kl. Terzen)
- zweiter Teil = zweite Melodie (schmerzlicher, dissonanter - gr. Terzen)
- helle Variante der ersten Melodie
- resolute (bissle wütende?) Coda (Melodie wieder unten, l.H. synkopische Intervalle
- Schlussklang: nicht Dur, nicht Moll - einfach nur die Quinte c-g

c-es als Moll Beginn, c-g als offenes Ende

- man lernt also auch noch vieles bzgl. der Intervalle, aber auch über deren "Richtung": die absteigende Quarte führt in "traurige" Bezirke, ihre aufsteigende Umkehrung in "hellere" - und das könnte vielleicht daran liegen, dass die anfangs lastende Stimmung produzierende l.H. (also das begleitende Klangband) die Nase voll hat und die Anfangsterz c-es in die Sexte es-c UMKEHRT, worauf die Melodie ebenfalls "fröhlicher" mit einer UMKEHRUNG reagiert

die Harmonik ist qausi "moderat neuer": anstelle einer Kadenz zur Tonika c-Moll finden sich quasi kadenzierende Akkordfolgen wie f-Moll6 - es-Moll - F-Dur (erst mit tiefalterierter Sexte des, klingt wie übermäßig, dann mit kleiner Septime - also blue note Subdominante) - c-Moll ----- außerdem jeweils die oben genannten Akkordarten

- - "Moll" ist also auch dann noch "traurig", wenn es chromatisch herumgeschoben wird, aber wenn sich Klangfarbe und Rhythmik ändern, dann bessert sich die Stimmung: wie wir - wir sind doch immer dieselben, ob wir mal mit hängendem Kopf oder aufrecht herumlaufen :)

für Kinder und für Anfänger (oder besser Einsteiger) in Klaviermusik ein ganz wunderbares Stück, weil es überschaubar, klar und doch detailreich ist.

(ok, die Stimmungsnuancen einzelner Klänge spare ich mal aus, mir tun die Finger vom tippen fast schon weh :) ...)

liebe Grüße, Rolf
 
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WOW!!!!
Also vielen herzlichen Dank!!!!!!!!!!! So habe ich mir das gewünscht. Ich druck es jetzt aus und werde mich damit ans Klavier setzten zur nochmaligen Veran"hör"lichung. Dann kommen bestimmt weitere Kommentare oder Fragen. Bis dahin... Und ich würde mich schon freuen, wenn wir zwei hier nicht die Einzigen blieben, die sich auf diesem Weg dem Andantino nähern.

LG, Sesam
 
@ Klavigen:

Ich finde deinen Ansatz, die 4 Ebenen einer Kommunikation (Sachebene, Selbstkundgabe, Beziehungsebene, Appellebene) auf Musik zu übertragen, genial!!! Und hilft sicherlich, Musik besser zu verstehen, sowohl als Konsument als auch als Interpret.

Ok, also zurück zum Thema: Technisches Können ist in keiner Weise erforderlich, um Musik "verstehen" zu können :)

Mag vielleicht sein, dass dies für den Musikkonsumenten gilt.

Aber selbstverständlich ist Technisches Können unbedingt erforderlich, um Musik machen zu können. Und ich glaube schon, dass man Musik am besten versteht, wenn man sie auch machen kann.

Ein Aspekt ist hier noch nicht genannt worden:
Ich habe bei mir die Erfahrung gemacht, dass ich Musikstücke besser verstehen kann, wenn ich sie vollständig auswendig spielen kann.

Und z.B. bei Fugen mit ausgeprägten eigenen Stimmen, wie es bei Bach der Fall ist, dauert es nochmal viel länger, auch wenn man sie schon längst auswendig spielt: bis man es schafft, die einzelnen Stimmen parallel für sich getrennt wahrzunehmen, in ihrem Verlauf, lückenlos, alle Stimmen gleichzeitig. Das sehe ich als die hohe Kunst an, jeder Stimme für sich eine eigene Gestaltung zu geben, und dabei das Gesamtklanggebilde nicht aus den Augen/bzw. Ohren zu verlieren. Statt sich darauf zu beschränken, z.B. nur das Fugenthema hervorzuheben, und den Rest "Begleitung" sein zu lassen. Von daher finde ich die Fugen gerade als Spieler dermaßen tiefgründig, weil ich das Gefühl habe, nach dem 100.Durchlauf es besser verstanden zu haben als nach dem 10ten. Und nach dem 1000. Durchlauf besser als nach dem 100sten. Und nach 50 Jahren Spiel der Fuge besser als nach 5 Monaten. Dies alles im Unterschied zu eingängigen flachen Stücken, die man schon nach dem 1.Hören kapiert hat.

Solange man in dem (erstrebenswerten) Zustand bleibt, bei jedem Spiel des Stückes etwas Neues zu entdecken, solange bleibt man in dem Zustand, das Stück immer besser zu verstehen.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
hallo Mindenblues,

teilweise geht es mir ähnlich (besser verstehen, wenn mans ohne Noten spielen kann) - jedenfalls ist das bei Kaviermusik so. Aber es gibt dennoch auch Klaviersachen, die ich nicht spiele und dennoch verstehe - das merkwürdige daran ist, dass ich sie bis ins letzte Detail "auswendig in mir, also innerlich hören kann", sie im Kopf ablaufen lassen kann.

Mit mancher Orchester- und Kammermusik (z.B. Brahms Violinkonzert, Rachmaninov elegisches Trio, Beethoven 7. Sinfonie u.v.a) geht es mir auch so, wobei ich z.T. die Noten gar nicht kenne; auch einige Opern habe ich komplett mit allen Details (sogar das Libretto) im Kopf - das ist hilfreich, wenn ich mal prima vista aus dem Klavierauszug spiele.

Mit Noten, ohne Noten, Klavier oder nicht: im Kopf ist Platz für Musik (jedenfalls ist meine Birne voll davon :) )

Ich persönlich "glaube", dass die (sicher irgendwie teils erworbene, teil aber auch "vorhandene") Fähigkeit des inneren Hörens - also die detailierte Präsenz von Musik im meotionalen und intellektuellen Erleben oder Bewusstsein - viel zum "Musik verstehen" beiträgt. Irgendwo habe ich geschrieben, man müsse sehr viel wissen - ich ergänze das: und sehr sehr viel hören. Bis mans ohne Instrument und ohne "Ohrstöpsel"/CD-Player AUCH hören kann.

Wenn man sich wie traumwandlerisch in einem Musikstück "heimisch" fühlt, hat man schon viel für das ureigene und subjektive Verstehen getan. Das lernen und Erweitern bereichert dann das Verstehen und vertieft es.

Und manches sperrt sich (oder man selber ist wie vernagelt): ich verstehe viele Klaviersachen von z.B. Brahms überhaupt nicht - ich erkenne sachlich und fachlich deren Qualität, aber sie haben für mich keine emotionale Qualität (und deshalb spiele vieles von Brahms nicht) - - - man muss sich auch der eigenen Grenzen bewusst sein und diese ggf lange bis immer akzeptieren.

----man könnte fragen, ob es mir überhaupt noch Spaß macht, in eine der späten Verdi-Opern zu gehen, da ich sie doch vollständig im Kopf habe: oh ja, das macht mir immer wieder Spaß!!! --- --- vielleicht gehört neben der Empfänglichkeit/Aufnahmebereitschft für Musik (inneres Hören) auch eine gehörige Portion Liebe zur Musik dazu, um sie verstehen zu dürfen (sic!) !?

("!?" im Schachspiel bedeutet "bemerkenswerter Zug"...)

---- wie ists mit dem "andantino": kann das jemand ohne Noten in sich hören, wenn er/sie die Augen zumacht?

liebe Grüße,
Rolf
 
Die erste Annäherung an ein neues Stück ist wie wenn man einen fremden Menschen kennenlernt. ... Ich beginne erstmal zaghaft ein paar Töne zu spielen und Kontakt aufzunehmen. ... Dann "unterhält" man sich mit dem Stück. Wenn man offene Ohren hat, erzählt einem das Stück eine Menge.
Das hast Du wunderschön formuliert, Haydnspaß! So ungefähr erlebe ich es auch jedesmal.
 

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