Selbst wenn jemand so viel Gitarre übt, daß er Hornhaut auf den Fingerkuppen der linken Hand bekommt, wird er damit kaum die Sensibilität zum Klavierspiel einbüßen. Das Tastgefühl der Kuppen wird dadurch genauso wenig eingeschränkt, wie Hornhaut an den Füßen das Gehen erschwert. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich habe nach dem Klavierstudium klassische Gitarre studiert. Ich habe phasenweise bis zu 8 Stunden täglich Gitarre geübt und hatte reichlich Hornhaut auf den Fingerkuppen.
Das Klavierspiel beeinträchtigt es allerdings in anderer Hinsicht, denn den meisten fällt es schwer, die Übezeiten zwischen verschiedenen Instrumenten aufzuteilen, und meist bleibt ein Instrument dabei auf der Strecke. Ich habe deswegen auch irgendwann die Gitarre an den sprichwörtlichen Nagel gehängt.
Die Fingernägel sind ein Problem. Um einen annehmbaren Gitarrenklang zu erzeugen, muß der Nagel so ca. 1 mm über die Kuppe hinausragen und richtig geformt und schartenfrei poliert sein. Das stört nicht nur beim Klavierspiel und verhindert vernünftige Klaviertechnik, sondern obendrein macht das Klavierspiel die Nägel kaputt. Es gibt kaum zwei andere Instrumente, deren Spiel sich eigentlich so sehr ausschließt.
Will man beides tatsächlich kombinieren, muß man sich etwas einfallen lassen. Ich habe mir zum Klavierspiel die Nägel gepflastert, d.h. unter die Nägel kam ein Leukoplast-Röllchen, das sie abpolsterte und den direkten Kontakt der Nagelkante mit der Klaviertastatur verhinderte, gewissermaßen als Verlängerung der Fingerkuppe; über dieses Röllchen und Fingerkuppe und Nagel kam ein Pflaster, das das Röllchen fixierte.
Das klingt abenteuerlich, aber wenn man weiß, daß Alfred Brendel sich wegen ungünstiger Nagelform und zu wenig fleischigen Fingerkuppen auch die Nägel pflastert, relativiert sich das. Und es hat ganz gut funktioniert: als ich als Berufseinsteiger an der Musikschule mein Antrittskonzert gab, habe ich in der ersten Konzerthälfte Klavier solo gespielt (eine der kleineren Schubert-Sonaten, ein Dante-Sonett von Liszt und Beethovens op. 110). In der Konzertpause mußten die Pflaster von den Fingern, und man mußte sich noch ein bißchen einspielen, danach gab's Gitarrensoli von Villa-Lobos und Duos mit einem Kollegen.
Weder Hornhaut an der linken Hand, noch Pflaster an der rechten haben die Tastsensibilät beim Klavierspiel beeinflußt, die natürlich ganz woanders liegt. Denn die besteht eher in der Rückkopplung zwischen Bewegung und Klang, nicht in den peripheren Tastnerven der Fingerkuppe, die durch ein bißchen Hornhaut eh kaum behindert wird. Von Bachs Lautensuiten bis zu Martin's Quatre Pièces brèves und Henzes Tientos habe ich einiges aus der Gitarren-Literatur studiert, was nicht mit halbstündigem Üben nebenbei zu machen ist. Mein Klavierspiel hat es nur insofern beeinträchtigt, als der Tag nicht ausreicht, um zwei Instrumente auf hohem Niveau zu pflegen. Will man aber nur ein bißchen zupfen nebenbei und verzichtet auf den Nagelanschlag, muß man sich keine Sorgen machen.
Gitarre spielen und Gitarre spielen scheinen aber sowieso zwei verschiedene Dinge zu sein, denn wenn ich hier den Vorschlag lese, man könne statt der Fingernägel ja ein Plektrum nehmen, scheint man unter Gitarre immer E-Gitarre oder Klampfe zu verstehen. Ein bißchen Klampfen schadet dem Klavierspiel nur insoweit, als man dabei bedenkenlos seine 08/15-Griffe zu banalen Melodien schlägt, Stimmführung Stimmführung sein läßt und womöglich in Barreé-Griffen die Quintparallelen übers Griffbrett schiebt, d.h. es schadet nicht der Sensibilität der Fingerkuppen, sondern der Sensibilität musikalischer Vorstellung. Bis zu einem gewissen jugendlichen Alter ist das aber verzeihlich.
Jörg Gedan
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