Vom Beginn der Mehrstimmigkeit bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein gab es ein sich zwar wandelndes, aber von der musikalischen Form mehr oder weniger unabhängiges harmonisches System, das alle Komponisten einer Epoche gleichermaßen verwendet haben. Die Harmonik einer Mozart-Oper unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen eines Haydn-Quartetts oder einer Beethoven-Sonate. Dehalb gibt es mit der Funktionstheorie einen praktikablen Ansatz, all diese Werke mit denselben Werkzeugen harmonisch zu analysieren.
Irgendwann funktioniert das nicht mehr so ohne Weiteres - ein Wendepunkt in dieser Hinsicht ist Wagners Tristan-Harmonik. Diese bricht aus dem "Systen" aus und ist so individuell, dass sie mit den bewährten Werkzeugen nicht mehr adäquat zu analysieren ist. Diese harmonische Individualität breitet sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann immer weiter aus - ein übergeordnetes, allgemeingültiges harmonisches System gibt es irgendwann nicht mehr. Selbst zwei zeitgleich entstandene Werke ein- und desselben Komponisten können über eine vollständig andere Harmonik verfügen. Für jedes Werk muss man dann ein eigenes, geeignetes Analysewerkzeug finden, das darauf passt.
Lange Rede, kurzer Sinn: Klar kann man die Musik Poulencs harmonisch analysieren. Das harmonische Material ist in diesem Fall sogar sehr simpel. Aber es gibt eben keine fertige Schablone, die man für seine Analyse nutzen kann. Die harmonischen Klauseln vergangener Jahrhunderte sind bei Poulenc meist noch erkennbar, aber sie werden - je nach Werk - durch diverse Kunstgriffe erweitert, manchmal auch karikiert oder stellenweise ganz aufgelöst. Von Kirchentonarten über Kadenzharmonik, Jazzharmonik, Mehrtonalität bis hin zur Atonalität findet man bei Poulenc einfach alles. Er war überaus experimentierfreudig!