Woher wisst Ihr denn ohne das Führen eines Übetagebuches, was Ihr vorher an einem Stück geübt habt? Oder übt Ihr einfach drauflos - so nach Bauchgefühl?
Woher wissen? Indem wir uns bei der aktuellen Übesitzung einen Eindruck verschaffen über das, was gut funktioniert und was nicht. Denn entscheidend ist ja nicht, wie viel in der Vergangenheit an dem Stück gearbeitet wurde, sondern dass es im Hier und Jetzt auf Abruf zuverlässig wiedergegeben werden kann.
Durchgängig vom ersten bis zum letzten Takt exorbitant schwer sind die wenigsten Stücke, so dass es nicht sinnvoll ist, ein Stück nur von vorne bis hinten durchzuackern. Am ehesten trifft das auf konzertante Etüdenliteratur zu, bei der technische und gestalterische Problematiken kompositorisch auf den Punkt gebracht werden. Das bedeutet, wenn die zugrunde liegende Problematik
begriffen wurde, hat man verwertbares Rüstzeug für den weiteren Notentext zur Hand und wird seine Einstudierungsmethodik darauf hin ausrichten.
Deshalb ergeben sich diverse Parallelen zwischen einzustudierenden Notentexten und dem Text wissenschaftlicher Werke, die man idealerweise mit Verstand durcharbeitet. Ein erstes Überfliegen und "Querlesen" führt zu einem Überblick über das Projekt, aber auch zu Fragen und Unklarheiten, die schrittweise erhellt werden sollen. Dann kommen Hilfsmittel zur Anwendung: Im einen Fall werden z.B. Fingersätze ermittelt und fixiert, im anderen Fall wird z.B. Sekundärliteratur zum Begriffsklären und Nachschlagen herangezogen. Schwierige Aufgaben sind in Teilaspekte zu zerlegen und abschnittweise zu bewältigen, die anschließend wieder in Zusammenhänge zu bringen sind. Wenn man so will, erst Dekomposition, dann Rekomposition. Zum Verinnerlichen der mit Verstand bearbeiteten Abschnitte gehört das Auswendiglernen, das bereits in der Dekompositionsphase beginnen muss, um nachher an jeder beliebigen Stelle einsteigen zu können und sofort im Stück zu sein. Oftmals erfolgt das Auswendiglernen erst zu einem zu späten Zeitpunkt, wenn durch vielfaches motorisches Wiederholen der trügerische Eindruck entsteht, man hätte das Stück ja inzwischen "im Kopf".
Ein Übe-Tagebuch wäre dazu da, diese Lernschritte zu protokollieren. Wenn man sie vollzogen/getan hat, ist das Wesentliche bereits geschehen und es kostet dann nur Zeit, jedes Detail schriftlich festzuhalten. Lieber gestalten als verwalten - deshalb wird auch beim wissenschaftlichen Arbeiten empfohlen, auf allzu umfangreiche Mitschriften und Notizen zu verzichten. Die dann noch wichtigen Stichworte und Merkzeichen kann man sich als effizient planender und lernender Musiker notfalls in den Notentext hinein schreiben - dazu benötigt man kein zusätzliches "Tagebuch".
Aber wie gesagt: Wer meint, ihm gäbe die schriftliche Fixierung einer Aufgabengliederung Struktur und ein Gefühl der Sicherheit, der probiere es eben aus. Allerdings habe ich bei fortgeschrittenen Spielern oder gar Kandidaten, die in Berufsausbildung respektive Berufsausübung stehen, die Führung eines solchen "Tagebuchs" noch nie beobachtet. Unzweckmäßiges Lernen und Studieren wird nicht besser, indem es protokolliert wird.
LG von Rheinkultur